Im Wahn gefangen

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9

Irgendwann musste er doch eingeschlummert sein, denn er schreckte aus einem merkwürdigen Traum auf, den er sofort wieder vergaß, als im grellen Schein der hoch hängenden Neonröhre ein auffallend breitschultriger Mann vor ihm stand, der sich als Pfleger Herrmann vorstellte und ihm das sonntägliche Frühstück ans Bett brachte. Während der Fütterung saß das Kraftpaket auf Sperlings Bettrand, und der empfand die körperliche Nähe als beengend, konnte ihr aber nicht ausweichen. Der Schweißgeruch des Pflegers war penetrant. Jeder Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder gar direkt irgendwelche Informationen aus ihm herauszubekommen, war vergeblich. Sperling fragte sich, ob dieser Koloss einer seiner Entführer sein mochte, und musterte ihn skeptisch. Selbst ein Lächeln war dem groben Gesicht nicht zu entlocken, allenfalls ein schnaufendes Grunzen, und so war Sperlings Appetit deutlich schneller gestillt als am Abend zuvor.

Das Licht brannte weiter, als Pfleger und Tablett den Raum verlassen hatten, und Sperling hatte die Gelegenheit, sich erneut in seiner Umgebung umzuschauen, musste aber zu seinem Bedauern feststellen, dass es nichts mehr zu entdecken gab, sah man von einem ausgedehnten Riss in der gegenüberliegenden Wand ab und von den Gittern vor dem Fenster, die ihm bisher nicht aufgefallen waren. Im kalten Neonlicht war das Warten kaum angenehmer als im Dunkeln. Nur gelegentlich drang ein meist undefinierbares Geräusch von der Station her zu ihm durch. Draußen brach zögerlich der Tag an, ohne dass es wirklich hell wurde.

Vor der Tür seines Zimmers herrschte auf einmal Leben, dann Ruhe, wieder Leben, und mit einem Schwung wurde sie plötzlich aufgestoßen. Herein traten Vartan, der imposante Pfleger vom Frühstück mit einem Aktenstapel auf dem Arm und, beiden voraus, ein kleiner, eigentlich schon sehr kleiner Mann, in Sperlings Augen ein Zwerg, der allem Anschein nach einen hohen Wert auf seine äußere Erscheinung legte und dem offenbar die ganze Autorität gehörte. Anders als sonst ging Vartan gebückt, hing devot am Rockzipfel des Kürzeren, den sein frisch gestärkter Kittel ebenfalls als Arzt auswies, ohne dass Sperling den Namen darauf hätte entziffern können. Eine Krawatte, die in Farbe und Muster auf die Socken abgestimmt war, und zueinander passend in Gold eine Halbbrille, Manschettenknöpfe sowie ein zu groß geratener Ring am kleinen Finger der linken Hand ergänzten die Arbeitskleidung des Winzlings.

Keiner der Eintretenden hatte das dezente Rascheln ihrer Geschäftigkeit auch nur mit einem Wort zu durchbrechen gewagt. Sie bauten sich am Fußende von Sperlings Bett auf, und der ihm Unbekannte musterte ihn, ohne sich ihm vorzustellen, unhöflich lang, stumm über den Rand seiner halben Brille hinweg. Dann wandte er sich Vartan zu. »Das ist also der Neuzugang.«

»Ja, Herr Primar, ich berichtete Ihnen ja bereits, vorgestern gekommen.«

Der gestrenge Blick des Primararztes schweifte zu Sperling zurück, als erwarte er von diesem nun eine Erklärung. Sperling rätselte, ob der Zwerg auch an seiner Entführung beteiligt war, und überlegte unter dem Zeitdruck des arroganten Schweigens, das Macht gegen Unfreiheit auszuspielen schien, wie er am besten reagieren sollte. Er entschied sich, das Gespräch zu suchen. »Bitte entschuldigen Sie meine Aufmachung. Das ist sonst nicht meine Art.«

Der Primararzt zog die Augenbrauen hoch. »Der Patient ist ja auffallend guter Dinge.«

Wieder sprach er zu Vartan, als sei Sperling gar nicht anwesend, nicht ansprechbar oder unwürdig für einen Wortwechsel. Dann durchblätterte er interessiert die Krankenakte und fand anerkennende Worte für Vartan wegen der Medikamente, die er Sperling verabreicht hatte. »Wie ist denn nun der Stand der Dinge?«

Zu Sperlings Überraschung war diese Frage auf einmal doch an ihn gerichtet. Er hatte sich dazu entschieden, sich als gewöhnlicher Patient zu präsentieren. War der Primararzt nicht Teil des Komplotts, konnte Sperling ihn vielleicht überzeugen und freikommen. Da war es besser, wenn er nicht auf seiner wahren Identität beharrte, weil er sonst erst recht als verrückt erscheinen würde. War der Psychiater hingegen an den Machenschaften beteiligt, gab es für Sperling im Moment sowieso nichts zu verlieren. »Ich weiß gar nicht genau, was eigentlich passiert ist. Ich habe am Freitag ganz normal gearbeitet, im Kartenverkauf bei den Bundestheaterkassen. Es gab viel zu tun, jetzt vor Weihnachten und Silvester. Auf einmal hatte ich dann eine Art Eingebung, ich sei Inspektor und müsse in einem Fall ermitteln, und dann ist alles Weitere wie von selbst geschehen. Kaum zu glauben, nicht wahr?«

Der Primararzt lauschte mit unbeweglicher Miene. Wusste er wirklich nichts, und war Sperling auf dem richtigen Weg? Er schöpfte Hoffnung. »Hier liege ich gefesselt wie ein Verbrecher, und dabei hat sich der ganze Irrsinn inzwischen in Luft aufgelöst. Ich weiß wirklich nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich hatte wohl zu viel Stress in den letzten Wochen. Die Vorstellung, mir oder irgendjemandem sonst etwas anzutun, erscheint mir vollkommen absurd.«

Genau so musste offenbar ein echter Geisteskranker reden, wenn er in die Freiheit zurückwollte, dachte Sperling, so geschickt wie möglich verbergen, was in Wahrheit in ihm vor sich ging. Auch ein Psychiater konnte schließlich immer nur das wissen, was man ihm erzählte.

Sperling richtete seinen Blick direkt auf die Halbbrille des Primararztes, schaute so harmlos wie möglich, flehentlich, unterwürfig, und fragte sich, wie gut seine Schauspielkunst wohl sein mochte. Es entstand eine beinahe unwirklich lange Pause, in der er der prüfenden Blickfixierung durch den Psychiater auswich und zu Boden sah. Die Schuhe des Arztes waren handgemacht von einem jener Schuhmacher, die die sogenannte Gesellschaft in Wien ausstatteten. Inzwischen gab es sogar Bildbände mit Anleitungen dafür, was man wo einkaufen musste, wollte man dazugehören. Stil wurde öffentlich, für jedermann zugänglich, prostituierte sich, verkam zu einer Frage des Geldes. Auch Vartan, der in Anwesenheit seines Vorgesetzten nur noch ein Schatten seiner selbst war, unterworfen unter die Macht des kleinen Mannes, hatte seinen Beruf verraten, sich für Geld verkauft. Befürchtete er jetzt aufzufliegen? Hatte Sperling ihn in der Hand? Er war versucht, von der Entführung zu berichten, aber er hielt sich zurück, denn wenn sein Wort gegen das des Oberarztes stand, würde er, der Patient, den Kürzeren ziehen. Er konnte vorerst nichts preisgeben, nur versuchen, freizukommen.

Unvermittelt brach der Primararzt in schallendes Gelächter aus. Vartan war erleichtert, aber Sperling begriff, was das zu bedeuten hatte. »Sie glauben wohl, Sie können mich zum Narren halten. Aber da müssen Sie früher aufstehen. Das werden Sie noch von mir lernen.«

Sperlings Hoffnungsfunken zerstob. Den ebenfalls anwesenden wortkargen Pfleger würde er kaum von etwas überzeugen und auf seine Seite ziehen können. Selbst wenn der nicht kriminell war, was Sperling mittlerweile unwahrscheinlich vorkam, wirkte er so einfältig und einsilbig, dass schon deshalb kein Verständnis von ihm zu erwarten wäre. Fieberhaft suchte Sperling nach einer Strategie. Mit dem Dezernat zu drohen, wäre sicher keine gute Idee, würde nur die ihm gewährte Schonzeit aufs Spiel setzen und wäre daher höchst riskant. Nur solange er diesen Psychiatern gänzlich ausgeliefert schien und sie das Codewort von ihm wollten, würden sie ihn am Leben lassen. »Sicher halten Sie sich für einen der größten Nervenärzte, und dabei sind Sie einer der kleinsten. In diesem Spital wird die Hierarchie wohl der Größe nach festgelegt, nur in umgekehrter Reihenfolge.«

Es war sonst nicht Sperlings Art, sich über unverschuldete Unzulänglichkeiten anderer lustig zu machen, aber sein unfairer Angriff löste einen Knoten der Anspannung in ihm. Für einen winzigen Augenblick hatte er die ihm aufgezwungene Machtlosigkeit symbolisch durchbrochen. Zwar kannte er die Achillesferse des Primararztes nicht, aber erfolgreiche Männer waren in der Regel dort empfindlich, wo sie zu wenig hatten. Ohne jede Vorwarnung prustete der Pfleger lauthals los. Sperling fühlte sich dadurch bestärkt. »Wo ist denn Ihre Zipfelmütze, die rote, und Ihr kleiner Spaten? Wahrscheinlich sind Sie nur deshalb Psychiater geworden, weil Sie es nicht geschafft haben, über den Rand des Operationstisches hinwegzuschielen.«

Sperling erkannte sich selbst nicht wieder, doch er fand es unglaublich befreiend, diesem Menschen, in dessen Händen sein Leben lag, alles an Beleidigungen an den Kopf zu werfen, was ihm nur in den Sinn kam, und damit seine Hilflosigkeit zu überspielen. Der Primararzt, dessen Namen er immer noch nicht kannte, lauschte mit ausdruckslosem Gesicht, schien von den verbalen Attacken Sperlings überhaupt nicht berührt zu werden. Dann, mit einem Ruck, drehte er sich auf dem Absatz um, stieß einen drohenden Fluch aus und verließ das Zimmer, gefolgt von dem beschwichtigend auf ihn einredenden Oberarzt.

10

Sperling war beinahe in Hochstimmung, wenngleich ihm klar war, dass sein kleiner Triumph nur von kurzer Dauer und der Preis dafür möglicherweise hoch sein würde. Eine Zeit lang tat sich gar nichts, außer dass die hässliche Neonröhre zu surren begann. Er konnte sie nicht abstellen.

Dann trat Schwester Hilde wieder in sein Zimmer und bot ihm freundlich an, ihn mitsamt seinem Bett zu den anderen Patienten im Multifunktionsraum zu schieben, damit er etwas Ablenkung habe und wieder am normalen Leben teilnehmen könne, wie sie sich ausdrückte.

Bereitwillig stimmte er ihrem Vorschlag zu und fand sich wenig später in einer total verrauchten Wartehalle wieder, in der von einem verschließbaren Holzschrank aus ein Fernseher viel zu laut auf eine Gruppe von vier Mitpatienten einbrüllte, die auf den ersten Blick gänzlich ohne Kontakt zueinander schienen.

 

Auch Sperling, den Neuen, beachtete niemand. Der widmete seine Aufmerksamkeit zuerst einem verwahrlost wirkenden jüngeren Mann mit kahl geschorenem Schädel. Es war der, der ihm bereits grinsend erschienen war. Jetzt waren sie Leidensgenossen, denn der Glatzkopf hockte eingesperrt in einem von einem Netz aus weißem, geflochtenem Tau überzogenen Bett. Sperling fühlte sich unweigerlich an seinen letzten Zoobesuch in Schönbrunn erinnert. In ekstatischer Erregung hielt der Käfiginsasse die Fernbedienung des Fernsehers in Händen und wechselte ohne Unterlass das Programm, glotzte gebannt auf den Bildschirm und machte sich hektisch die ganze Zeit über Notizen. Gelegentlich sprang er verzückt auf, soweit sein begrenzter Lebensraum das zuließ. Wenigstens bewegen kann der sich …, dachte Sperling, und ich liege hier als einziger Gesunder in Hochsicherheitsverwahrung.

Neben dem nervösen Netzhocker wippte auf einem Stuhl ein monoton vor sich hin quasselnder bärtiger Hagerer auf und ab, dessen rechte Hand vom pausenlosen Rauchen zwischen Zeige- und Mittelfinger bräunlich verfärbt war. Ihm schien die Programmgestaltung des Jüngeren zu missfallen, doch konnte er sich offensichtlich nicht mit genügendem Nachdruck verständlich machen.

In einem Rollstuhl an die Wand gestellt saß reglos eine voluminöse ältere Dame, die, unter einer auffallend ordentlich frisierten Perücke, aus riesigen Brillengläsern die flimmernde Mattscheibe fixierte, anscheinend ohne sich von deren Inhalt tangieren zu lassen. Direkt neben ihr in der Ecke ragte hochgeklappt eine Tischtennisplatte empor, die schon lange niemanden mehr zu interessieren schien, so verstaubt war sie.

Im Zentrum der Halle schließlich, die, wie Sperling fand, mit ihrem hellen Holzmobiliar unter Neonlicht denselben Charme versprühte wie seine Kammer, war am Esstisch ein zierlicher Mittsechziger in eine kleinformatige Zeitung vertieft. Jedes Mal, wenn er umblätterte oder an seiner glimmenden Zigarette zog, fielen seine überschießenden Bewegungen auf, und dazu blitzten seine wässrig hellen Augen, die so gar nicht zu seinem dunklen Teint passen wollten. Eine merkwürdige Anspannung lag in der Luft der Station. Alles schien trotz des Lärms oberflächlich ruhig, und doch brodelte es im Untergrund, so als könne jederzeit ein Pulverfass in die Luft fliegen.

Sperling versuchte dem Springen des Fernsehprogramms zu folgen.

Merkwürdig maskierte Einwohner eines fernen Planeten wurden abgelöst vom Massenschlachten eines Kriegsfilms, der auch ein Antikriegsfilm sein mochte. Der Mann im Netz grunzte begeistert auf. Die sich anschließende Nachrichtensendung unterschied sich auffallend wenig von dem Film, und der Bettgefangene jubilierte, kritzelte eifrig etwas in seinen Notizblock. Sperling zögerte, ihn zu fragen, was er da machte. Von dem Nuscheln des Hageren waren währenddessen nur Bruchstücke zu verstehen. Er wurde dem Fernseher immer ähnlicher. Zwei Worte glaubte Sperling gehört zu haben: »Verundenkungsmaschinerie« und »Geistesvernichtungsfließband«.

Damit er wieder am normalen Leben teilnehmen könne, sei er hier, hatte die Schwester gesagt. Sperling schüttelte den Kopf und folgte einer Fernsehreportage über das bisexuelle Leben der Seehasen. Deren eines Körperende war weiblich, das andere männlich, sodass ihre sexuelle Orientierung vom Zufall abhing, je nachdem, welche Enden zweier Tiere aufeinandertrafen. Gelegentlich entstanden regelrechte Paarungsketten – Gruppensex am Meeresgrund. Dann sprach der amerikanische Präsident, neben ihm seine Frau. Der Sprung zum nächsten Sender schnitt ihm das Wort ab. Eine junge Talkshowmoderatorin präsentierte unter dem tosenden Beifall des Publikums einen Fettleibigen, der vor laufender Kamera eingestand, sich von kleinen Hunden, vor allem wenn diese kaum Fell trugen, sexuell erregt zu fühlen – »Hasenhundaufgeilung«, kommentierte der Hagere –, woraufhin sich eine, wie Sperling fand, dafür viel zu junge Frau den Blicken des Massenpublikums anbiederte, indem sie es live an ihrer Brustvergrößerungsoperation durch skrupelarme Weißkittel teilhaben ließ. Ihm wurde übel. Werbung unterbrach die laufende Sendung, versprach weiße Zähne in nur drei Wochen, Autowachs, Hometrainer, Katzenfutter, Tiefkühlpizza, präsentierte den Entwurf des idealen Menschen: strahlendes Grinsen, glänzendes Auto, glücklich und satt lächelnde Katze auf dem Sofa. Wie weit entfernt das von seinem Leben war, selbst von dem, das er sich gewünscht hätte, dachte Sperling.

Er hatte genug vom Vormittagsprogramm und entschied sich, das Gespräch zu suchen, ohne zu wissen mit wem. »Könnten Sie mir bitte ein Glas Wasser reichen?«

Der feingliedrige Zeitungsleser blickte zu ihm herüber und nickte freundlich. Er stand auf, nahm vom Esstisch eines der dort bereitstehenden Gläser und füllte es mit Mineralwasser. Verbindlich lächelnd kam er dann auf Sperling zu und setzte ihm das Glas an den Mund, wobei er leicht zitterte, wie in Zeitlupe.

»Du musst der Neue sein. Ich bin Albert, aber sie nennen mich hier den Schauspieler.«

Sperling trank, vorsichtig darauf achtend, nicht zu tropfen. »Danke.«

»Noch etwas mehr?«

»Nein danke, ist schon in Ordnung.«

Albert, der Schauspieler, stellte das Glas zurück auf den Tisch, brachte seinen Stuhl herbei und setzte sich neben Sperling. Die ältere Dame im Rollstuhl war auf ihr Gespräch aufmerksam geworden, hatte per Knopfdruck ihr elektrisches Gefährt in Bewegung gesetzt und gesellte sich nun ebenfalls zu ihnen, reichte Sperling ihre Hand.

»Küss die Hand, Sperling, Benedict Sperling. Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihren Gruß nur unzureichend erwidern kann.«

»Kassandra Erdmannsky. Es sei Ihnen gestattet.«

Ihre Art wirkte vornehm distanziert, beinahe streng, aber insgeheim schien sie erfreut, jemanden zu treffen, dem es, dem ersten Eindruck nach zu urteilen, so wie ihr selbst nicht an gewissen Umgangsformen mangelte. Sperling schlussfolgerte, dass sie das »Orakel« sein müsse, von dem Schwester Hilde gesprochen hatte. Mit aller Selbstverständlichkeit hatte er sich mit seinem richtigen Namen vorgestellt und nicht mit dem ihm angedichteten, doch die beiden schienen sich nicht daran zu stören.

»Und was hat Sie zu uns geführt?«

Wie kompliziert Sperling auf einmal eine Antwort auf eine banale Frage wie diese vorkam.

»Um ehrlich zu sein, weiß ich das selbst nicht mehr genau. Es ging alles so schnell.«

»Lass ihn doch Kassandra, wenn er nichts sagen will«, bremste der Schauspieler die Neugier der älteren Dame. »Vielleicht sollten wir dir auch erst einmal etwas über uns erzählen. Wie du ausschaust, werden wir ja noch eine ganze Weile beisammen sein.« Seine Augen schweiften zu seiner Anspielung über Sperlings Ledergurte, der ihm nur zu gerne widersprochen hätte.

»Ich selbst bin seit stolzen 33 Jahren auf dem Gelände und habe ziemlich alles miterlebt, was sich hier abgespielt hat. Natürlich war ich nicht immer auf dieser Station, sondern habe eine ganze Reihe der Pavillons kennengelernt. Und eins kann ich dir versichern: Bei uns, da bist du gut aufgehoben. Unser Oberarzt ist wirklich schwer in Ordnung.«

Die betagte Rollstuhlfahrerin nickte bestätigend zu Alberts Worten, während Sperling überrascht zur Kenntnis nahm, dass nicht nur die Mitarbeiter Vartans, sondern auch seine Patienten nur voller Lob von dem Psychiater sprachen. Sind die alle verrückt?, schoss es ihm durch den Kopf.

»Sie wollten mich schon auf die Straße setzen, einfach so, und dann hat Vartan dafür gekämpft, dass ich bleiben konnte. Ich lebe hier. Hier ist alles, was ich habe, und von hier aus werde ich eines Tages die ganze Welt beherrschen.«

Es war die selbstverständliche Gewissheit, mit der er diese Ankündigung von sich gab, die Sperling überraschte. Es klang, als hätte er gesagt, er werde in der kommenden Woche ins Kino gehen oder sich ein Paar Schuhe kaufen. Und dabei glänzten seine Augen beinahe unheimlich, als sei er umspielt von einer majestätischen Aura. Gleichzeitig verriet ein eigentümlicher Akzent seiner wiewohl prononcierten Sprache, dass Albert ursprünglich nicht aus Wien stammte.

»… Ich habe göttliche Wurzeln. Meine Mutter kam ums Leben, als ich noch ganz klein war, bei dem Bombenangriff am 13. Februar 1945 auf Dresden, auf der Flucht aus Danzig. Meinen Vater habe ich nie zu Gesicht bekommen. Er soll Grieche gewesen sein, ein Seemann vom Peloponnes, von den Hängen des Olymps. Das haben sie mir in dem Heim erzählt, in dem ich aufgewachsen bin. Mit 15 bin ich dann auf und davon, bin selbst zur See gefahren, um meinen Vater zu suchen. Ich habe ihn nie gefunden. Wie sollte ich auch? Der Doktor hat es mir erklärt: Nicht mehr der Olymp, sondern Walhall ist die Heimat der Götter. Er singt zu ihnen.«

Sperling traute seinen Ohren kaum, war jedoch sogleich bereit zu glauben, was er über Vartan zu hören bekam, nur verhieß das wenig Gutes für seine unmittelbare Zukunft.

»Bald werde ich hinabsteigen zu ihnen und dann ist die Welt mein. Alle denken: Die Götter sind im Himmel. Das ist ein Irrtum. Sie haben sich in das Erdinnere zurückgezogen, und ich spüre, wie sie mir von dort aus ihre Energien senden. Ich habe auf der Erdoberfläche keine Wurzeln mehr, keine Verwandten, niemanden, habe jeden Kontinent gesehen, und hier am Steinhof ist die ganze Welt im Kleinen, der rechte Ort, um zu warten auf das Zeichen, dass meine Zeit gekommen ist. Bis dahin sammle ich Kraft und bereite mich geduldig vor auf die großen Aufgaben, die vor mir liegen. Wenn der Übergeschnappte dort …«, er nickte zu dem in seinem Gitterbett immer noch eifrig zum Fernseher stierenden Verwirrten, »… mal nicht seine Leichen zählt, dann verfolge ich das Erdengeschehen am Bildschirm. Und je geübter ich werde, desto besser kann ich es beeinflussen, jetzt schon. Am leichtesten geht das mit den Börsenkursen, ich kann es dir morgen vorführen. Kassandra gibt eine Prognose ab, und ich brauche mich nur ein wenig zu konzentrieren und schon steigen oder fallen die Aktien ganz so, wie ich es will.«

Die Genannte pflichtete ihm bei.

»Damals die Sache mit dem Primar Gruber. Auch die habe ich in Bewegung gebracht. Er war mein Arzt, aber ich habe ihn überdauert. Ich habe ihn geliebt, und deshalb hat er mir nichts anhaben können. Meine Liebe ist unermesslich stark, verleiht göttlichen Schutz, und so ist auch ihm nichts zugestoßen, und er lebt heute unbehelligt in seiner Villa in Purkersdorf am Rande des Wienerwalds.«

Die Affäre um den früheren Primararzt einer Abteilung des Spitals hatte vor Jahren hohe Wellen geschlagen, wie Sperling sich erinnerte. Damals flog auf, dass unter der Leitung von Gruber, einem bis in die 80er-Jahre hinein angesehenen Psychiater und Gerichtsgutachter, in der Nazizeit, als der Steinhof »am Spiegelgrund« geheißen hatte, an Kindern geforscht und mit der zynischen Formulierung »Das Kind kann behandelt werden« Dutzende von ihnen ermordet worden waren.

Wie man sich als Patient fühlen musste, wenn der eigene Arzt plötzlich als Mörder wehrloser Kinder vor einem stand. Sperling schauderte bei dem Gedanken. Morden hatte in diesen Mauern Tradition.

»Aber …« Albert unterbrach sich, rückte näher an Sperling heran, um nicht so laut sprechen zu müssen, und vergewisserte sich, dass niemand sie belauschte außer Frau Erdmannsky, die unbeeindruckt in ihrer aufrechten Körperhaltung verharrte.

»… trotz oder gerade wegen meiner Position muss ich vorsichtig sein. Überall sind böse Mächte am Werk, die verhindern wollen, dass mein goldenes Zeitalter anbricht. Die haben Gruber nur für die Öffentlichkeit fallengelassen, ein Bauernopfer, um ganz andere Dinge zu vertuschen. Wenn ich dir sage, dass es hier eine geheime Unterwelt gibt, da staunst du, was? Alle Gebäude auf dem Gelände sind unterirdisch miteinander verbunden, ein gigantisches Netzwerk, in dem sie weiter ihre Versuche machen, immer noch. Ich bin ihnen auf die Schliche gekommen, und seitdem passen sie auf, sind vorsichtig geworden. Die Gänge enden alle in der Pathologie, und von dort aus führt ein Korridor geradewegs ins berühmte ›Heilungshaus‹, ins Krematorium des Sankt-Elisabeth-Spitals. Es ist gar nicht lange her, dass dort Rauch aufgestiegen ist, und sie verbrennen dort sicher nicht nur die Akten, die ihnen zu heiß geworden sind, glaube mir.«

Sperling wurde mulmig zumute. Machte der Schauspieler sich nur wichtig, spielte er ihm eine Rolle vor, oder stimmte, was er sagte, und sollte auch ihm, Sperling, eine letzte Reise in einen Verbrennungsofen bevorstehen?

»Ein alter Mitpatient hat mich auf die Spur geführt. Ich war selbst dort und habe die Asche gefunden mit Knochen dazwischen. Jetzt bekomme ich keinen Ausgang mehr, aber das ist mir immer noch lieber, als auf die Straße gesetzt zu werden. Die sind sich ihrer Sache sehr sicher, denn mir glaubt keiner, auch die Leute vom Fernsehen nicht, denen ich damals geschrieben habe. Die erklären mich für verrückt und gehen ihren schmutzigen Tagesgeschäften nach. Doch mich werden sie nicht aufhalten, niemand wird das!«

 

Albert hatte sich ganz außer Atem geredet, glühte vor Eifer, war von der Richtigkeit seiner Schilderungen zutiefst überzeugt. Sperling jedoch, seinem Naturell nach eher skeptisch, kam im eigenen Interesse zu der Einschätzung, dass Alberts Geschichte eine fantastische Spinnerei sein musste. Einem Verrücken glaubte man halt nicht. Doch wer würde ihm selbst je abnehmen, dass er als Opfer einer Entführung in der geschlossenen Psychiatrie gelandet war?

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