Im Wahn gefangen

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6

Aber es war kein Traum.

Als Sperling wieder zu sich kam, herrschte Dunkelheit, und er war allein, lag nicht mehr auf dem belebten Gang. Sein Bett stand jetzt an einem Fenster, und er vernahm das sachte knisternde Geräusch von Schneeflocken, die wie freudig vom Himmel herunter in ihren Tod zu springen schienen. Er hatte keine Ahnung, welche Uhrzeit es sein mochte, die Nächte waren lang zu dieser Jahreszeit, begannen schon am frühen Nachmittag. Seine Glieder waren lahm und schmerzten. Er versuchte, einen Arm zu heben, aber er war immer noch bewegungsunfähig verschnürt wie ein Paket, konnte sich nicht drehen und wenden und fand so auch kein Entkommen aus den blitzartig einschießenden Muskelkrämpfen, die ihn von Neuem ohne Vorwarnung überfielen. Er gab sich Mühe, sich zu konzentrieren, sich zumindest die Illusion eines Auswegs aufrechtzuerhalten, doch es gelang ihm nicht. Sein Hirn schien zu einer zähen Masse verbacken zu sein, seiner Kontrolle entzogen wie sein Körper. Er war von einer Gleichgültigkeit befallen, die er so an sich nicht kannte. Hatte er sich aufgegeben, oder war auch dies eine Folge der Medikamente, die sie ihm einflößten? Nicht einmal Wut empfinden konnte er. Über allem lag ein zehrender Mehltau. Nur Warten blieb ihm, die Zeit wie in einem Dämmerzustand zu durchstehen, im Niemandsland, irgendwo zwischen Existenz und Auslöschung. Seine Hand strich in dem kleinen Kreis, den seine Fessel zuließ, über das Laken, und er spürte, dass sein Bett frisch bezogen worden sein musste. Und eine Hose hatten sie ihm übergezogen. Er hatte nichts davon mitbekommen. Äußerlich war er beinahe wieder er selbst, lediglich seiner Freiheit und seiner Kraft zu denken beraubt.

Dort von oben, er hielt den Atem an, kam wieder Musik. Sie wurde lauter, war nun deutlich zu erkennen, wieder Wagner. In dem Raum über ihm spielte jemand die Walküre. »Niederspritzen und Dauerbeschallung mit Wagner«, dachte Sperling. »Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind! Du meines Herzens heiligster Stolz! Leb wohl! Leb wohl! Leb wohl!« Das Finale der Walküre, Wotans schmerzlicher Abschied von Brünhilde, seiner Tochter, mit dem der Gott, gefangen im Konflikt zwischen scheiternder Pflichterfüllung und wahrem Gefühl, sein eigenes Ende besiegelte. Sperling lauschte dem Gesang, er war ihm ein Gruß der Zivilisation. Was für eine Aufnahme mochte das sein, rätselte er. Es war sonderbar, aber ja, er täuschte sich nicht, der Wotan wurde doppelt gesungen, wobei der begleitende Bariton ein klangvolles und eigenartig schönes Timbre hatte, aber offenbar kein perfektes Gehör. Voller Inbrunst sang er beharrlich an den Noten vorbei. So wohlklingend seine Stimme auch war, er scheiterte kläglich. Zum Zauber des Feuers drohte der zweifache Wotan mit der Spitze seines Speeres, und der Spuk war vorbei. Wieder war alles lautlos und schwarz.

Mit dem Verstummen der Musik schien ein letztes Band zur Welt draußen gerissen zu sein. Eine tiefe Melancholie überfiel Sperling. Die Einsamkeit wurde ihm unerträglich. Würde er eines Tages so sterben, im letzten Atemzug die Isolation vollenden, die ihm im Laufe seines Lebens immer schonungsloser zur Gewissheit geworden war? Vielleicht war der Zeitpunkt näher, als ihm lieb war. Er hatte nackte Angst. Langsam legte sich seine Müdigkeit, die Wirkung der Spritzen schien nachzulassen. Umso deutlicher nahm er jetzt seine ausgelieferte Lage wahr, für die er immer noch keine Erklärung hatte. Jeder Moment erschien ihm endlos, hatte weder Vergangenheit noch Zukunft. Er wartete, ohne zu wissen worauf. Hatte er wieder etwas gehört? Nein, es herrschte vollkommene Stille. Die Luft war stickig, stand vor staubig trockener Heizungshitze. Ihn fröstelte längst nicht mehr, er hatte Durst. Gerne wäre er eingeschlafen, hätte er Kräfte gesammelt, aber auch das gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht in ein Schicksal fügen, das er gar nicht kannte.

7

Gleißend hell blendete ihn das Licht ohne Vorwarnung. Panik schnürte ihm den Hals zu. Nichts geschah, bis seine blinzelnden Augen erkennen konnten, dass jemand bei ihm war. Wortlos stand der andere da, musterte Sperling. Es war der einäugige Arzt. Wehrlos war Sperling dem überlegenen Schweigen des Psychiaters unterworfen, bis dieser endlich das Wort ergriff. »Sie sind also wach, das ist gut so.«

Als der Psychiater daraufhin aus der linken Tasche seines Kittels eine Spritzennadel hervorzog, ahnte Sperling, was nun auf ihn zukommen würde. Er wollte kurz rebellieren, gab aber gleich wieder auf, da er einsah, dass es keinen Sinn ergab. Vielleicht war es sogar besser, wieder zu schlafen, als die Dumpfheit der ausweglosen Situation zu ertragen. Wollten sie ihn erst in den Wahnsinn treiben oder direkt in den Tod? Der Arzt entfernte die Nadel aus ihrer Schutzumhüllung und entnahm seiner rechten Tasche eine Medikamentenkapsel, die er anstach, um sie dann Sperling vor die Lippen zu halten. »Nehmen Sie diese Kapsel, und behalten Sie die auslaufende Flüssigkeit einen Moment lang unter ihrer Zunge.«

Sperling blickte den Arzt ungläubig an, hielt wie im Reflex seine Lippen fest verschlossen.

»Das Mittel wird Ihnen guttun, vertrauen Sie mir. Es wird Sie von den Krämpfen befreien.«

Sperling war skeptisch, doch er hatte nichts mehr zu verlieren. Der Psychiater strahlte eine ruhige und kalte Autorität aus. Auf wessen Seite er stand, wusste Sperling nicht, doch er gab nach, verzog keine Miene, als sich unter dem scharfen Blick des Arztes der bittere Geschmack der Medizin in seinem Mund verteilte. Beide schwiegen. Sperling schloss die Augen, und das Medikament begann seine Wirkung zu entfalten. Seine Muskeln entspannten sich, er war erleichtert, beinahe euphorisch. Seine Kräfte kehrten zurück. Nur nutzen konnte er sie nicht. Er schlug die Augen wieder auf. »Danke.«

Sperling war vertraut mit dem Phänomen, dass Opfer sich ihrem Täter unterwarfen und sich ihm ergeben verbunden fühlten, und spürte, wie etwas Vergleichbares gerade mit ihm geschah. Er musste sich zusammenreißen, oder meinte der Einäugige es wirklich gut mit ihm?

Der Psychiater schien nicht überrascht. Er nahm sich den Stuhl, der neben Sperlings Bett stand, und setzte sich ruhig darauf. »Ich glaube, wir sind jetzt so weit, dass wir uns unterhalten können.«

Sperling nickte fragend, versuchte, den Rest der lähmenden Spritzenwirkung von sich zu schütteln, was ihm nur mäßig gelang. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Vartan. Doch das tut nichts zur Sache. Sagen wir, ich bin ein Freund.«

Der Name stimmte, Sperling konnte ihn aufgenäht auf den Kittel des Arztes lesen: Dr. Vartan – Oberarzt.

»Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie hier sind.«

Sperling schüttelte den Kopf. Selbst wenn es um Machenschaften irgendwelcher Pharmafirmen gehen sollte, hatte er keine Ahnung davon, was die gerade von ihm wollten.

»Uns fehlt nur eine Kleinigkeit, und ich bin sicher, dass wir sie von Ihnen bekommen werden. Ich baue ganz auf Ihre Mithilfe.« Ein höhnischer Unterton in den Worten Vartans stellte klar, wer auf wessen Hilfe dringender angewiesen war. »Als meine Mitarbeiter so freundlich waren, Sie zu diesem kleinen Ausflug in unser Spital zu motivieren, fanden sie auf dem Bildschirm Ihres Computers eine geöffnete Internetseite, die für uns von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Ich hatte mittlerweile die Gelegenheit, mir diese Seite im Detail anzuschauen, und musste zu meinem Bedauern feststellen, dass dort Dinge behauptet werden, die so nicht stehen bleiben dürfen. Kurzum, wir benötigen das Passwort, mit dem wir die Seite überarbeiten können.«

Spöttisch ließ Vartan hierbei den Blick seines stahlblauen Auges über die Fesseln seines Opfers gleiten. »Es sind absurde Behauptungen, die dort aufgestellt werden, die in niemandes Interesse sind und nur vermeintliche Hoffnungen wecken, die dann schmerzlich enttäuscht werden. Verschaffen Sie uns den Zugang zu der Seite. Damit helfen Sie uns und vielen verzweifelten Menschen. Was ist schon so ein kleines Wort, nicht wahr?«

Das war es also, was sie von ihm wollten. Sperling wurde wacher, verstand, warum sie ihn entführt und nicht gleich umgebracht hatten. Aber gleichzeitig bedeutete das, dass sie ihn beseitigen würden, sobald sie das gesuchte Passwort hätten. Er kannte es gar nicht, doch er musste Vartan in dem Glauben lassen, das war seine einzige Chance. Er musste Zeit gewinnen.

Und wie stand es um Alice? Hatten sie sie ebenfalls hierher verschleppt oder ihr womöglich Ärgeres angetan, und, wenn sie hier war, würde sie dichthalten? Die Miene des Arztes hatte sich indessen verfinstert.

»Wie ich Ihrem fortgesetzten Schweigen entnehme, scheinen Sie die Tragweite meiner Ausführungen noch nicht ganz erfasst zu haben. Sollten wir nicht umgehend zu einer Einigung kommen, dann garantiere ich Ihnen, werden Sie bereits in Kürze alles, aber auch wirklich alles, was Sie wissen, neu überdenken. Oder anders ausgedrückt: Sie werden mich anflehen, mir das Wort sagen zu dürfen, mir aus der Hand fressen.«

Die Überheblichkeit, die der Psychiater ihm entgegenbrachte, machte Sperling trotz seines völligen Ausgeliefertseins und seiner Angst rasend. Wäre er frei gewesen, er wäre diesem Sadisten auf der Stelle an die Gurgel gesprungen. Sperling erschrak über die Heftigkeit der Gefühle, die der andere in ihm weckte.

»Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zeit auf meiner Seite ist. Ich werde damit beginnen, die Dosis Ihrer Medikamente weiter zu steigern. Sie haben das Glück, mein Privatpatient zu sein, sodass ich mich in aller Sorgfalt Ihrer medizinischen Versorgung annehmen kann. Einen ersten Vorgeschmack darauf haben Sie ja bereits bekommen, aber ich werde Ihnen zur weiteren Einstimmung jetzt noch ein wenig aus dem Abschnitt über die Nebenwirkungen der mir zur Verfügung stehenden Mittel vorlesen, beschränke mich dabei auf die psychischen und neurologischen Reaktionen, die Sie geduldig abwarten dürfen.«

 

Er zückte einen Zettel aus seiner Kitteltasche und zelebrierte jede einzelne Silbe der ungewöhnlichen Worte, die er von sich gab. »Früh- und Spätdyskinesien, Parkinsonoid, Akathisie, epileptiforme Anfälle, malignes neuroleptisches Syndrom, depressive Verstimmung, Lethargie, delirante Syndrome und so weiter.«

Sperling war froh, dass er kaum etwas verstand, wenngleich die Auflistung fraglos eindrucksvoll klang.

»Ich kann auch neue Kombinationen entwerfen, die bisher kaum je versucht wurden, oder ich kann Sie ganz gezielt in eine Medikamentenabhängigkeit hineintreiben, bis Sie mich winselnd anbetteln werden, Ihnen mehr, immer noch mehr zu geben. Allerdings befürchte ich, dass meine Geduld dazu nicht ausreichen wird, ich also den schnelleren Weg bevorzugen werde. Nun, hat es Ihnen immer noch die Sprache verschlagen?«

Sperling saß in der Falle, und dieser Weißkittel flatterte um seinen Käfig herum und machte sich lustig über ihn. Sperling platze der Kragen. Er brüllte los: »Meine Kollegen sind bereits auf der Suche nach mir, und dann werden Sie die Konsequenzen zu spüren bekommen. Machen Sie mich auf der Stelle los.« Sperling war von sich selbst überrascht. Er bebte innerlich. Und doch, vielleicht konnte sein Wutanfall den Arzt einschüchtern, vielleicht war dessen überhebliches Selbstvertrauen nur vorgeschoben.

»Nein.« Vartans Antwort war knapp. Er nickte gelassen, zog spöttisch seine Augenbrauen hoch und sonnte sich in seiner Überlegenheit.

»Nein …, also nein?« Sperling schluckte.

»Das ist alles?«

Es entstand eine für Sperling unbehagliche Pause. Vartan räusperte sich und durchbohrte ihn mit einem zynischen Blick aufgesetzten Mitleids.

»Schauen Sie, Sie sind aktenkundig in der Psychiatrie. Sie sind akut schizophren psychotisch und hochgradig suizidgefährdet, und da spricht wohl kaum etwas dagegen, dass es uns trotz aller unserer Bemühungen nicht gelingen wird, Sie davon abzuhalten, sich tragischerweise das Leben zu nehmen. Selbstverständlich wäre das nicht rühmlich für uns, aber Wunder können auch wir nicht vollbringen. Das ist sicher bedauerlich, aber ich nehme an, Sie verstehen?«

»Sie wollen doch nicht …?«

»Ich will. Da können Sie beruhigt sein. Nur ist meine Geduld begrenzt, so wie Ihre Zeit. Wäre das anders, fände ich es durchaus interessant herauszufinden, wie lange es dauern würde, bis Sie mich anflehen, endlich sterben zu dürfen. Doch wie gesagt, es geht mir um Wichtigeres.«

Aus den Fängen des Arztes gab es für Sperling kein Entkommen. In dem Moment, in dem Vartan das gesuchte Passwort hätte oder herausfände, dass er das Wort gar nicht kannte, ginge es ihm an den Kragen. Zu viel wusste er bereits. Seine einzige Möglichkeit bestand darin, die Absurdität seiner Lage an seinen Gegenspieler zurückzugeben. »Ich kann Ihnen das Wort doch gar nicht sagen, weil Sie mich dann umbringen müssen.«

Ein boshaftes Lächeln huschte über das Gesicht des Arztes, und das Blau seines nicht verdeckten Auges schien dämonisch aufzuleuchten. »Da haben Sie wohl nicht ganz Unrecht.« Diesen Satz ließ sich der Psychiater auf der Zunge zergehen, kostete unverhohlen sein kunstvoll nachgeschobenes Schweigen genüsslich aus. »Wir oder vielleicht besser Sie stehen offenbar vor einem tragischen Dilemma. Ob Ihre Willenskraft so stark sein wird, sich zu beherrschen? Na, wir werden sehen: Ein Vöglein schwatzt wohl manches …«

»… kein Mensch doch kann’s verstehen.« Intuitiv griff Sperling den Ball auf, erkannte im selben Moment die Stimme Vartans wieder als diejenige des Sängers, der so bedauernswert falsch die Opernaufnahme begleitet hatte. Ein Begeisterter und doch Gescheiterter stand hier vor ihm.

Der Arzt wurde von Sperlings Kennerschaft überrumpelt und empfand auf einmal einen gewissen Respekt für sein Opfer. Ein geheimes Band war geknüpft. »Ich glaube, Sie beginnen mir zu gefallen.«

Sperling war unschlüssig, ob er sich über diesen Anflug von Zuneigung freuen sollte. Aber wenn er überhaupt eine Chance in diesem Spiel bekommen sollte, dann lag sie jetzt vor ihm, und er musste sie ergreifen. »Sie haben mich in der Hand. Das steht außer Frage. Sie können mich quälen, gegen Sie bin ich machtlos. Nur bleibt Ihnen das Risiko, dass ich trotzdem schweigen werde. Und sollte mir durch Ihre Torturen etwas zustoßen, laufen Sie Gefahr, zu spät an das Codewort zu kommen, denn auch Ihre Zeit ist begrenzt, wie Sie sehr wohl wissen. Wie ich Ihnen schon sagte, muss ich doch davon ausgehen, dass Sie mir etwas antun werden, sobald ich Ihre Forderung erfülle. Sie sehen, ich brauche von Ihnen eine Sicherheit, dass mir nichts geschehen wird. Warum sollte ich Ihnen dann das Wort nicht einfach geben und sogar ein wenig an dem partizipieren, was für Sie oder für wen auch immer dabei herausspringen mag? Was habe ich schließlich mit dieser Geschichte zu tun?«

Der Oberarzt blickte ihn misstrauisch prüfend an, doch Sperlings Argumente trafen offensichtlich seine Denkweise. Sperling spürte, dass er seinen Köder geschluckt hatte.

»Besorgen Sie mir eine Garantie, und machen Sie mir ein Angebot, das verlockend genug ist, dass ich ihm nicht widerstehen werde.«

Sperling empfahl sich dem Psychiater als Gleichgesinnten an, und der war empfänglich dafür, biss endgültig an.

»Da muss ich mit gewissen Leuten Rücksprache halten.«

Erleichtert nahm Sperling zur Kenntnis, dass seine Strategie, Zeit zu gewinnen, vorerst aufgegangen war. Er hatte sich den Respekt des Arztes verschafft, der allenfalls zu bedauern schien, dass ihm sein Spielzeug sadistischer Lust abhandenkam.

Vartan stand auf und stellte seinen Stuhl zurück an den vorgegebenen Platz neben dem Waschtisch. »Vorerst bleiben Sie in der Fixierung, damit Sie nicht in Versuchung geraten, sich aus unserer Abmachung herauszustehlen. Dafür erlasse ich Ihnen bis auf Weiteres die Medikamente, werde aber, damit alles seine Ordnung hat, in Ihrer Krankenakte vermerken, dass ich Ihnen eine Spritze mit einem Depot gegeben habe, deren Wirkung einige Tage lang anhält. Verhalten Sie sich möglichst unauffällig, dann belassen wir es im Augenblick dabei, und ich werde wieder auf Sie zukommen, sobald ich mehr weiß. So viel Zeit bleibt uns ja, und wer weiß …« Mit dieser vieldeutigen Bemerkung verließ der Psychiater den Raum.

8

Erleichtert und erschöpft von der Anspannung, in der er sich während des Schlagabtauschs mit seinem ungleichen Kontrahenten befunden hatte, sackte Sperling die wenigen Zentimeter zurück, die sein Bewegungsspielraum zuließ. Vartan hatte das Licht angelassen, und so konnte Sperling erstmals seinen eigenen Zustand und seine Umgebung genauer inspizieren. Um seine Hand- und Fußgelenke herum waren lederne Riemen geschnürt, die am Gestell des Bettes befestigt waren. Sie ohne das dazu notwendige Werkzeug zu lösen, war unmöglich. Er trug ein weißes Anstaltshemd und lag unter einer Decke, unter der seine nackten Füße hervorlugten. Außerdem hing um seinen Hals an einem Bindfaden ein Schlüssel, dessen Zweck ihm nicht einleuchtete, der aber offensichtlich nicht zum Lösen seiner Fesseln taugte.

Die Einrichtung des übermäßig hoch wirkenden Raumes war spartanisch. Direkt über ihm hing an der mit weißen Styroporplatten verkleideten Decke eine grell leuchtende Neonröhre. Die Wände waren cremeweiß getüncht. Ihm gegenüber standen ein karger Waschtisch ohne Spiegel, daneben ein schmaler Wandschrank aus Holz und der Stuhl, auf dem Vartan vorhin gesessen hatte. Schließlich gab es noch einen kleinen gelben Metalltisch direkt neben seinem Bett.

Wie sollte man in so einer Umgebung gesund werden, wenn man wirklich psychisch krank war, fragte Sperling sich. Sein Durst meldete sich wieder, ihm war, als habe er seit einer Ewigkeit nichts getrunken, und Hunger hatte er auch. Er fühlte sich elend und ausgemergelt, aber wenigstens sein Denken gewann die gewohnte Klarheit zurück.

Es klopfte kurz an der Tür, und ein blondes Geschöpf in einem zu engen weißen Kittel, das so gar nicht in dieses triste Umfeld passen wollte, betrat den Raum. »Guten Abend. Ich bin Schwester Hilde und bringe Ihnen das Abendessen.«

Sie hatte jedoch nichts bei sich außer ihren beiden ausladenden Brüsten. Sperling war irritiert.

»Was darf es denn heute für Sie sein? Es gibt Krautfleisch oder gefüllte Paprika.«

Die Normalität ihrer Frage traf Sperling unvorbereitet. Er starrte sie wortlos an, wurde dann seiner Hilflosigkeit gewahr. »Aber wie soll ich denn essen?«

»Ganz einfach, ich werde Sie füttern.«

Sie sagte das so, als sei es das selbstverständlichste der Welt. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für das Krautfleisch. »Und bitte etwas zu trinken.«

»Hätten Sie lieber Hagebuttentee oder Pfefferminztee?«

Hagebuttentee erschien ihm in Verbindung mit dem Krautfleisch als das geringere Übel. Nach der Bemerkung, sie werde sofort zurück sein, verschwand die wundersame Erscheinung, und Sperling befürchtete fast, ihr kurzer Besuch könnte nur ein Wunschgebilde seiner Fantasie gewesen sein. Doch sie kehrte zurück mit einem Tablett in Händen, stellte es auf das Metalltischchen neben seinem Bett und hob die Plastikhaube vom Teller, auf dem dampfend und von eigentümlicher Farbe das abendliche Mahl lag. Ob es auf dieser Station nur Einzelzimmer gab, wie sonst war eine solche Speisenauswahl zu verantworten, kam es Sperling in den Sinn, als ihm der Krautgeruch in die Nase stieg.

»Bitte erst etwas zu trinken, ich verdurste.«

»Aber gern.«

Sie goss den Tee aus einer Thermoskanne in einen Plastikbecher, den sie ihm an den Mund hielt, und er trank ihn in einem Zug aus. Das heiße Getränk brannte in seiner Kehle, und die Wärme durchzog seinen ganzen Körper, doch sein Durst war von dem einen Becher nicht gelöscht.

»Bitte auch etwas Wasser.«

Auch das reichte sie ihm, und die kühle Erfrischung tat gut.

»Na, dann wollen wir mal, Inspektor.«

Sperling war überrascht. Wusste sie, wer er war, war sie beteiligt an dem üblen Spiel? »Sie nannten mich Inspektor?«

»Ach so, ja. Hier bei uns auf der Station bekommt jeder einen Spitznamen, der zu ihm passt. Sie sind der Herr Inspektor, und dann haben wir noch ein Orakel, einen Schauspieler, einen kleinen Nazi und viele andere mehr. Sie werden sich schon einleben bei uns, das ist bisher noch jedem gelungen. Und wenn Sie sich irgendwann in unserer Mitte richtig zu Hause fühlen, dann wollen Sie gar nicht mehr weg. Sie werden sehen.«

Während sie so plauderte, begann sie Sperling löffelweise mit dem Krautfleisch zu füttern, der sich dabei ertappte, wie er die Skurrilität seiner Lage bereits als beinahe normal erlebte.

»Und Therapie machen können Sie bei uns auch. Beschäftigungstherapie, Töpferkurs, oder wie wäre es mit der Trommelgruppe?«

»Ich hätte da eher an ein paar hundert Stunden Analyse gedacht.« Sperling hatte diesen Gedanken wirklich gehegt – die Liste seiner Neurosen war lang –, ihn jedoch wie alle echten Neurotiker ad infinitum vorerst verworfen.

»Ist ja ein Zufall. Ich habe früher in der Dialyse gearbeitet. Und eine feste Aufgabe mit Verantwortung bekommen Sie für den Stationsalltag zugeteilt, vielleicht das Amt des Fischefütterns?«

»Fische füttern?« Er hielt kurz inne, um zu kauen. »Ich kann doch gar nicht aufstehen. Da gehen die Fische sicher ein.«

»Ach, so etwas kommt vor. Aber das ist doch nicht so tragisch. Dann gibt es halt wieder ein paar neue.«

Sperlings erster Hunger war gestillt, doch er beschloss, die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen, um mehr über Vartan in Erfahrung zu bringen, dabei aber nicht zu direkt vorzugehen. »Arbeiten Sie denn schon lange auf dieser Station?«

»Zwei Jahre sind es bald.«

»Und gefällt es Ihnen hier?«

»Ich glaube, ich möchte nie mehr etwas anderes machen. Es ist so wichtig, dass man in seinem Leben aufrichtig ist, Gutes tut und den Menschen hilft, diesen vielen armen Gestalten, die bei uns landen. Und was für Geschichten ich hier zu hören bekomme, da kann ich Ratschläge geben und werde wirklich gebraucht. Hier findet das richtige Leben statt in seiner ganzen Vielfalt. Außerdem ist die Zusammenarbeit in unserem Team ganz toll. Aber wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?«

Sie kicherte keck, und Sperling verlangte nach mehr Essen, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.

»Und der Oberarzt?«

»Doktor Vartan? Der ist die Seele unserer Station, jeder mag ihn. Er ist so gut zu den Patienten. Darin ist er uns ein lebendiges Vorbild. Es gibt sicher keinen zweiten Arzt wie ihn. Er ist beinahe wie ein Vater zu uns, hat immer ein offenes Ohr und bleibt sogar oft nachts und am Wochenende hier, nur damit er möglichst sofort zur Stelle ist, wenn er gebraucht wird. Sie haben bestimmt schon bemerkt, dass ihm ein Auge fehlt. Er soll es verloren haben, als er einem Patienten, der sich umbringen wollte, das Messer abgerungen und ihm so das Leben gerettet hat.«

 

Sperling war zwar satt, doch er aß brav weiter und weiter, verlangte einen Nachschlag, trank mehr von dem Tee und lauschte verwundert der seinem eigenen Eindruck so krass widersprechenden Schilderung des Arztes, die die Schwester ihm bereitwillig abgab.

»Und gestern hat er uns mitgeteilt, dass er bald eine Privatklinik eröffnen will, draußen im Hoffmann-Sanatorium in Purkersdorf, und unser ganzes Team hat daraufhin sofort einstimmig entschieden, dass wir alle mitkommen wollen, wenn es so weit ist.«

Sperling wurde hellhörig. Wenn Vartan so großzügig für seinen Einsatz an ihm entschädigt wurde, ging es bei seinen Auftraggebern erst recht um viel Geld. Alice hatte offenbar kein bisschen übertrieben. Nur hieß das für Sperling, dass seine Aussichten dadurch alles andere als rosiger wurden. Tapfer ließ er sich mit dem Krautfleisch mästen.

»Sie haben wirklich einen unglaublichen Hunger. Ach, der Herr Doktor Vartan. Wissen Sie, im Vertrauen gesagt, wenn er nicht mit der Frau Doktor Farkic zusammen wäre – zumindest war er das bis vor Kurzem … und ich versichere Ihnen, da bin ich nicht die Einzige von uns Schwestern.« Sie gluckste verschämt, und ein flüchtiges Erröten huschte über ihre Wangen, was ihre offensichtlichen Reize noch unterstrich, wie Sperling sich eingestand.

»Aber die Farkic hat auf ihn aufgepasst wie ein Drache, Gift und Galle gespuckt, wenn eine von uns in seine Nähe gekommen ist. Er ist ja so ein guter … Mensch.«

Sie seufzte, und ihre Stimme hatte fast lasziv geklungen bei ihren letzten Worten. Sperling war mittlerweile vollkommen übersättigt, und verspürte auf einmal einen heftigen Druck auf seiner Blase. Angebunden, wie er war, konnte er weder aufstehen noch eine Harnflasche in Händen halten, ohne die Schwester um Hilfe bitten zu müssen, deren Erscheinung ihn keineswegs gleichgültig ließ. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er konnte nicht länger warten. »Meinen Sie, Sie könnten mir vielleicht eine Hand freimachen?« Er wand sich unruhig in seinen Fesseln.

Sie schaute ihn mitleidig an, verstand aber nicht sein dringendes Bedürfnis. »Das geht leider nicht. Der Oberarzt hat ausdrücklich betont, dass Sie äußerst gefährlich sind, und wir haben strikte Anweisung, Sie in der Fixierung zu belassen.«

Sperling fand es absurd, dass man ausgerechnet ihm, der trotz seines Berufs Gewalt verabscheute, Gemeingefährlichkeit bescheinigte, aber das war ihm im Augenblick egal. »Ich …«

Er schluckte, aber es ging einfach nicht mehr. »Ich …, ich muss mal.«

»Dann hole ich Ihnen die Flasche.«

Sperling lächelte gequält. »Wenn Sie meinen.«

Sie ging kurz hinaus und kehrte gleich darauf mit einer Harnflasche zurück. Ohne jedes Zaudern begann sie dann unter seiner Bettdecke zu fingern, und er reagierte wie erwartet. Zu seiner Überraschung war ihm seine Erregung deutlich peinlicher als ihr.

»Na, der will etwas anderes«, bemerkte sie lapidar und setzte sich unsanft mit der Flasche durch, was zwar im ersten Moment schmerzhaft, gleich darauf aber erleichternd für ihn war. »Haben Sie eine Frau?«

Er fragte sich, warum sie das gerade jetzt von ihm wissen wollte. »Nein, ich habe einen Hund. Sie meinen doch im wirklichen Leben als Inspektor oder, was war es doch gleich, als Kartenverkäufer?«

Sie nickte gütig, als könne er ja nichts für seine Verwirrtheit. Es stand eindeutig fest, er war als verrückt gebrandmarkt, und niemand hier würde ihm die Wahrheit glauben.

»Noch einen Bissen?«

»Nein danke. Ich glaube, es reicht.«

»Dann bereite ich alles für Ihre Nachtruhe vor.«

»Bitte, eine Frage habe ich noch: Wozu dient eigentlich dieser Schlüssel, den ich um den Hals trage?«

»Das ist Ihr Spindschlüssel, für Ihren Schrank dort.«

»Aber den kann ich doch gar nicht benutzen.«

»Das wird schon, warten Sie nur ab.«

Sie brachte das Tablett hinaus und kam noch einmal zurück, um seine Flasche zu leeren und auszuspülen. Dann löschte sie das Licht und ließ ihn mit einem milde gehauchten »Gute Nacht« allein, das dem Raum einen Moment lang eine warme Note verlieh, die sich jedoch schon bald in der gespenstischen Stille der Dunkelheit verflüchtigte.

Da bin ich nun, dachte Sperling, bewegungslos wie ans Kreuz genagelt, nur halt flach, nicht aufrecht. Lag man so auf der Couch in einer Psychoanalyse?

Sperlings Rücken schmerzte vom Liegen auch ohne die Nebenwirkungen der Medikamente. Wie lange würde er das noch aushalten? Die aufgezwungene starre Körperhaltung führte ihm seine Hilflosigkeit unmittelbar vor Augen. Er konnte wieder denken, das hatte er sich ausgehandelt, doch das brachte ihn keinen Schritt weiter. Ob er bereits vermisst wurde – nur, von wem?

Marilyn hatte sich sicher in der Küche des Lokals unten im Haus eingenistet, wo sie Stammgast war. Da verließ er sich ganz auf ihren unerschütterlichen Instinkt.

Für die Kollegen aus dem Dezernat war er im Wochenende.

Und Chiara? Hatte sie am anderen Ende der Leitung vielleicht mitbekommen, was geschehen war? Er sehnte sich auf einmal nach ihr, und doch war etwas zerbrochen. Sie hatte das stillschweigende Einverständnis zwischen ihnen, trotz aller Freiheiten zusammenzugehören, aufgekündigt, sei es aus Unachtsamkeit oder aus was auch immer. Wollte sie wieder ein Kind haben? Hatte sie den Verlust ihres Sohnes endlich überwunden? Ihr Mann und ihr damals zweijähriger Sohn waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt, und sie hatte seitdem jede feste Bindung gemieden. Doch wer war jetzt dieser andere? Sperling grämte sich, dass er es vielleicht nie erfahren würde. Die trockene Heizungsluft verursachte ihm einen Juckreiz an den unterschiedlichsten Stellen seiner Haut, die sämtlich außerhalb seiner Reichweite lagen. Wie human doch eine Gummizelle sein musste im Vergleich zu diesen starren Ledergurten, dachte er, biss die Zähne aufeinander und spannte seine Muskeln an, bis das Jucken endlich aufhörte. Seine Mutter war hier in der Psychiatrie gewesen, und er wunderte sich nicht, dass sie nie mehr zu sich selbst gefunden, sich schließlich das Leben genommen hatte. Er hatte sie besucht hier, hatte die Bilder von ihren letzten Begegnungen verdrängt, wusste nicht einmal mehr die Nummer des Pavillons, in dem sie gelegen hatte, erinnerte nur, dass sie alle gleich ausgesehen hatten, als er damals durch das parkartige Gelände zu ihr gegangen war. Und der Geruch der Station, der hatte sich ihm eingebrannt, den würde er niemals vergessen.

Was war mit Alice, ob auch sie entführt worden war? Die Erinnerung an ihre jugendliche Leichtigkeit entglitt ihm, erschien ihm immer unwirklicher, wie ein verlockender Traum, den die raue Wirklichkeit ausgelöscht hatte. Sein ganzes Leben war bei näherer Betrachtung eine Aneinanderreihung von Abschieden. Stück für Stück verlor er alles, was ihm lieb war. War es da das Schlechteste, wenn er selbst vor der Zeit die Bühne verließ? Er musste kämpfen, doch in diesem Augenblick wusste er nicht mehr wofür. Reglos lag er umhüllt von der schwarzen Nacht und fand keinen Schlaf.