Rebellen gegen Arkon

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Aus der Reihe: Atlan: Traversan-Zyklus #1
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5.
DER FREMDE VON TRAVERSAN

Vergangenheit 5772 v. Chr. / 12.402 da Ark

Ich konnte mich wieder bewegen. Vorsichtig winkelte ich die Arme an. Ich hatte wieder Gefühl in den Fingerspitzen.

Mein Gürtel war tatsächlich an drei Stellen zerfetzt. Meine technische Ausrüstung, schon vorher nicht besonders üppig, hatte ich vollständig eingebüßt. Dafür funktionierte der Aktivatorchip in meiner Schulter einwandfrei.

Meine Ohren nahmen kaum etwas wahr als das allgegenwärtige, nicht besonders laute Windgeräusch der Wüste. Es gab keine Stimmen, keine Maschinengeräusche. Nur meinen eigenen Atem – und den zu hören war mir immerhin eine große Beruhigung.

Ich zweifelte mittlerweile daran, dass tatsächlich ein Zeitexperiment stattgefunden hatte. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, sah man von den Behauptungen der verrückten Positronik ab. Die Tatsache, dass ich noch am Leben war, schien eher das Gegenteil zu stützen.

Langsam drehte ich mich einmal um die eigene Achse. Mein photographisches Gedächtnis hatte ein genaues Abbild der Wüste aufgezeichnet. Im Detail ergaben sich zahlreiche Unterschiede; hier ein verlagerter Stein, dort eine neue Senke, außerdem war die Umgebung merklich rauer, urwüchsiger anzusehen als vorher.

All diese Details konnten auch auf einen völlig anderen Vorgang zurückzuführen sein als ausgerechnet auf eine Zeitreise. Ich wusste nur nicht, auf welchen.

Ich hatte den Eindruck, dass ein verbrannter Geruch in der Luft lag. Der Wind trug sämtliche aerosolen Brandrückstände schnell davon. Wenn es einen Brand gegeben hatte, musste er sofort wieder erloschen sein.

Mein zweiter Impuls war, davonzurennen und mich in Deckung zu begeben. Doch ich zwang mich, weiterhin mit sparsamen Bewegungen zu agieren.

Ob dies eine ferne Vergangenheit war oder nicht, blieb dahingestellt – dass es sich um eine höchst eigenartige, wahrscheinlich gefährliche Lage handelte, in der ich mich befand, stand außer Zweifel.

Vorsichtig vollendete ich eine komplette Drehung um meine Achse. Nichts war zu sehen. In meine Glieder kehrte das Gefühl vollständig wieder zurück. Von nun an hielt ich mich für handlungsfähig. Ich kletterte vom Altar herab.

»Gehirn?«, fragte ich mit halblauter Stimme.

Keine Antwort.

Wenn es stimmte, was die Positronik zuvor behauptet hatte, dann fehlte ihr die Energie. In dem Fall konnte sie keine Antwort mehr geben.

Ich näherte mich einer Kuppel. Es war eines der Gebäude, die Cinthia für verschlossen erklärt hatte. Nun aber stand der Eingang offen.

Der Extrasinn erklärte: Es ist denkbar, dass sich ohne funktionierende Energieversorgung sämtliche Türen automatisch geöffnet haben. Und zwar dann, wenn die Verriegelung auf energetischen Feldern beruht.

Ich lugte vorsichtig ins Innere. Falls es automatische Geschütze gab, so waren sie ebenso lahmgelegt wie das Stationsgehirn und die Türverriegelung.

Nach wenigen Sekunden gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich besaß keine Lampe, also musste ich mit dem spärlichen Licht auskommen, das durch den Türspalt fiel.

Mein Blick fiel auf bullig wirkende, absolut unverständliche Gerätebatterien. Polierte Oberflächen wechselten sich mit fein gerasterten Strukturflächen ab. Armdicke Leitungen oder Rohre verbanden die Aggregate miteinander. Einige der Blöcke reichten bis zur Kuppeldecke, also vierzig Meter hoch, andere türmten sich wie wacklige Kartons übereinander.

Ich unternahm einen Rundgang.

Mit den geeigneten Messgeräten hätte ich zweifellos Stunden in der Kuppel zugebracht; mit nichts als den bloßen Händen schien mir ein weiterer Aufenthalt wenig sinnvoll.

Die nächste Kuppel unterschied sich kaum von der ersten, nur dass die Dichte der Aggregate weitaus höher lag. Dasselbe beim dritten Versuch – und Kuppel Nummer vier war jene, die ich bereits in Begleitung von Cinthia inspiziert hatte.

Die fünfte und letzte Kuppel brachte mir endlich so etwas wie einen Erfolg. Ich erkannte auf Anhieb die typischen Bauformen einer Positronik, und auch die wenigen Bedienungselemente schienen mir vertraut. Es handelte sich um Technik, wie die Meister der Insel sie verwendet hatten.

Hast du daran noch gezweifelt, Narr?

Die Positronik erwies sich als inaktiv. Keine der Schaltungen, die ich probeweise vornahm, bewirkte eine Veränderung. Die Kontrollen blieben dunkel. Ohne Energie war kein Zugriff auf die Systemsteuerung möglich.

Im hinteren Teil der Kuppel war die Orientierung besonders schwer; hierher gelangte kaum noch ein Lichtstrahl. Dennoch gelang es mir, die Speicherbatterien der Energieversorgung zu identifizieren.

»Da liegt also das Problem …«, murmelte ich.

Angenommen, hier hat tatsächlich ein Zeitexperiment stattgefunden, begann der Logiksektor, dann wirst du eine Möglichkeit suchen müssen, die Speicher wieder aufzufüllen. Sonst kannst du nicht in die Gegenwart zurückkehren.

Ich fand, dass mein Extrasinn in seinen Folgerungen zu weit vorauseilte. Noch war die Theorie eines Zeitsprungs nicht bewiesen.

Wo sind dann Cinthia und die Archäologen?

Ich ignorierte die Stimme in meinem Inneren. Stattdessen vollendete ich den kleinen Rundgang. In einem besser einsehbaren Bereich der Kuppel stockte ich plötzlich; meine Nase nahm wieder den verbrannten Geruch wahr, wenn auch nur in Spuren.

Mir fiel eine Art Schnittstelle zwischen Positronik und Energieversorgung ins Auge. Ich bemerkte eine deutlich geschwärzte, rußige Stelle.

»Da hat irgendwas geschmort!«, erklärte ich triumphierend. »Na also!«

Narr! Das ist nichts, worüber du dich freuen solltest. Eine Beschädigung wäre ein schwerer Nachteil für dich.

Ich nahm mir eine halbe Stunde Zeit, mich im Gewirr der Schaltungen und positronischen Verknüpfungen zurechtzufinden. Ohne Energie war es schwer, den Sinn der Konstruktion zu durchschauen, und es gelang mir auch nur in bescheidenem Maß.

Am Ende der halben Stunden förderte ich jedoch ein Bauteil zutage, das deutlich beschädigt war. Es ließ sich von Hand aus seiner Halterung lösen. Wenn ich das Schaltmuster richtig durchschaute, dann wurde von hier aus die Energie in den Rest der Kuppelanlage geschleust.

Im Augenblick der vollständigen Speicherentleerung musste sich ein energetischer Überschlag ereignet haben.

Mit zusammengekniffenen Augen drehte ich das Objekt: Es schien sich um eine Art Brillant zu handeln, jedenfalls legte der Facettenschliff den Gedanken nahe. Trotz des Zwielichts erkannte ich ein rauchig-transparentes Violett mit schwärzlichen Einschlüssen. Die Einschlüsse deuteten auf beschädigte Stellen hin.

Es handelte sich um ein zentrales Bauteil. Ob es irgendwo in der Station so etwas wie ein Ersatzteillager gab, wagte ich zu bezweifeln. Vielleicht in den unterirdischen Bereichen; doch wie sollte ich die untersuchen, solange ich nicht über Licht, Werkzeug und Ortergerät verfügte?

Ich fand mich damit ab, dass die Angelegenheit kompliziert werden würde.

In der Kuppel gab es für mich nichts mehr zu tun. Es schien mir logisch, zunächst die restlichen Umstände zu klären.

Nachdenklich bewegte ich mich in Richtung Ausgang. Das von Abermilliarden Sandkörnern gestreute Licht der Yssods-Wüste war blendend grell. Ich blickte in die Richtung, die ich für Norden hielt, und überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, zu Fuß nach Erican zurückzugelangen.

Mein Extrasinn beurteilte den Plan als aussichtslos. Andererseits würde ich allein in der Wüste in kurzer Zeit verdursten, Zellaktivator oder nicht. Vielleicht gab es irgendeine andere Siedlung, die ich erreichen konnte?

Narr! Pass auf!

Ich stand sofort still. Mit allen Sinnen lauschte ich in die Wüste hinaus. Etwas war falsch, ich wusste nur nicht, was.

»Okay, Fremder!«, ertönte plötzlich eine Stimme. »Das reicht jetzt!«

Am Rand meines Gesichtsfeldes gewahrte ich einen Schatten. Besser gesagt, eine Phalanx von Schatten, die sich alle leicht bewegten.

»Drehen Sie sich ganz langsam um! Besser, wenn Sie keinen Fehler machen!«

Die Stimme – sie sprach altertümliches Arkonidisch!

Nach dem Alt-Tefroda der Station immerhin eine nette Abwechslung, kommentierte der Extrasinn ironisch.

Dass auf einem Planeten des Kristallimperiums arkonidisch gesprochen wurde, war noch keine Sensation. Nur die alte Version alarmierte mich.

Es war eine weibliche Stimme, rauchig und dunkel. Sie gehörte keinesfalls Cinthia Taubenflug, sondern einer mir fremden Sprecherin.

Die Stimme war von einem befehlsgewohnten, arroganten Ton geprägt, und ein nervöses Vibrieren verriet mir, dass mit der Sprecherin nicht zu spaßen war.

Einen Moment lang überlegte ich, mich mit einem raschen Sprung in Sicherheit zu bringen. Allerdings, eine andere Deckung als das Innere der Kuppel gab es nicht. Und dass ich mich ohne Lampe drinnen kaum zurechtfinden konnte, hatte ich eben bereits festgestellt. Es wäre dumm gewesen, in meiner Lage Kunststücke zu versuchen, deren Folgen ich nicht berechnen konnte.

So folgte ich der Anweisung. Ich drehte mich langsam um.

Vor mir standen zwölf abenteuerlich ausstaffierte Gestalten. Es schien sich um Arkoniden zu handeln, den langen weißen Haaren und den roten Augen nach zu urteilen. Sie trugen arkonidische Raumrüstungen, deren Alter ich auf etwa zehntausend Jahre taxierte. Ich hatte lange nichts mehr gesehen, was so primitiv aussah. Auf mich wirkten sie wie dreidimensional animierte Museumskrieger.

Der Trupp starrte vor Waffen. Sie alle trugen Handstrahler in den Holstern an ihren Hüften.

 

Jeder einzelne der Arkoniden hielt einen Thermostrahler auf meinen Kopf gerichtet. Das war der Nachteil an der Sache. Der Vorteil war, dass ich mir um den Wassermangel keine Gedanken mehr zu machen brauchte.

Nur eine einzige Gestalt präsentierte sich waffenlos: eine Frau, die in scheinbar entspannter Haltung einen Meter vor der Gruppe stand. Das Wappen auf ihrer Kleidung wies sie als Angehörige des Da-Traversan-Adels aus. Es war dasselbe Wappen, das auch Fürst Ligatem getragen hatte.

Sie war hochgewachsen und sehr schlank, soviel erkannte ich trotz ihres Kampfanzugs. Dass sie keine Waffe trug, besagte übrigens überhaupt nichts. Ich identifizierte die scheinbar entspannte Haltung als Dagor-Grundstellung. Mit anderen Worten, die Frau hatte keine Waffe nötig. Sie konnte sich auch so verteidigen.

Wenngleich sie einem Dagor-Meister meiner Erfahrung vermutlich nicht gewachsen gewesen wäre; aber davon konnte die Frau nichts wissen.

Ihre selbstbewusste Haltung verriet mir, dass sie die Anführerin der Gruppe war. Nicht ohne Faszination musterte ich ihre mandelförmigen Augen, das reglose Gesicht, die überaus stolze Haltung, den platinblonden Pagenschnitt.

Narr! Sie ist eine Feindin!

»Ich begrüße Eure Erhabenheit in Demut«, erklärte ich, mit einem ironischen Seitenblick auf die gezückten Waffen.

Die Frau antwortete nicht.

Die bewaffneten Kerle starrten mich ausdruckslos an, sie waren schussbereit.

»Mein Name ist Atlan. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Die Frau musterte mich plötzlich mit einem durchdringenden Blick, wie ich ihn selten zuvor gesehen hatte. Sie schien jedes Molekül meines Körpers durchleuchten, jeden Gedanken in meinem Kopf scannen zu wollen.

Der Blick wurde wieder klar, anschließend zornig, zum Schluss sah sie mich an wie einen widerspenstigen Kriminellen.

»Bei den She‘Huhan-Sternengöttern! Dieser Kerl ist nicht …«

Sie verstummte. Dann hob sie eine Hand.

Ich konnte sehen, wie eine der Gestalten den Finger krümmte. Den Strahl aus seiner Waffe sah ich nicht mehr kommen.

Gegenwart 2. August 1290 NGZ

Ligatem konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben einer solchen Qual ausgesetzt gewesen zu sein. Der Altar, auf dem Atlan stand, schien sich in das Zentrum eines peingefüllten Universums zu verwandeln.

Weg von hier!, forderte der Extrasinn des Fürsten. Du wirst die Schmerzen sonst nicht überleben!

Auf dem Altar stand immer noch Atlan, der Mann von Camelot, so aufrecht wie zuvor. Ligatem begriff nicht, warum der Unsterbliche im Zentrum der Schmerzen immer noch am Leben war.

Der Fürst wusste, dass man es ihm nicht ansah, doch er war ein sportlich gestählter Mann. Was Atlan ertragen konnte, das musste auch ihm möglich sein.

Und er sah die Archäologin Cinthia ohne Bewusstsein vor dem Altar liegen. Ligatem war ein Mann von Ehre. Er allein hatte noch die Macht, ihr Leben zu retten.

Auch wenn er hinterher nicht hätte sagen können, wie es ihm gelungen war – er floh nicht vor der Strahlung, sondern im Gegenteil, er näherte sich. Als er Cinthia erreicht hatte, hob er ihren Körper auf und trug die Archäologin aus dem Bannkreis des Altars, in Richtung offene Wüste.

Je größer der Abstand zum Altar wurde, desto besser setzte er seine Kräfte ein. Am Ende rannte er fast, obwohl die Terranerin auf seinen Schultern lag.

Er schaffte es im letzten Moment.

Als er die Grenze passiert hatte, die den Kuppelkreis von der Wüste trennte, geschah eine Katastrophe. Jedenfalls wurde der Vorfall im Nachhinein so bewertet; obwohl ihm niemand hätte erklären können, was sich wirklich ereignete.

Die gesamte Anlage verschwand. Sie löste sich so spurlos auf, als habe sie sich in Luft verwandelt oder als sei sie mit unbekanntem Ziel fortteleportiert.

Ligatem und die Frau wurden von Helfern auf die Beine gestellt. Camelot-Wissenschaftler in Schutzkleidung musterten den Fürsten mit wirren Blicken.

Einer der Archäologen sagte:

»Fürst, wir hatten Funkkontakt mit Atlans Raumschiff. Die Wissenschaftler der RICO behaupten, sie haben ein seltsames energetisches Phänomen angemessen. Sie sagen, die Wellenfronten aus der Yssods-Wüste hätten Ähnlichkeit mit dem, was vor sehr langer Zeit die terranischen Nullzeitdeformatoren produziert haben.«

Ligatem räusperte sich, damit seine Stimme nicht zu belegt klang.

»Was habe ich unter einem Nullzeitdeformator zu verstehen?«

»Soweit ich weiß«, erläuterte der Archäologe, »handelt es sich um eine vergessene oder nicht mehr praktizierte Technologie der Terraner. Eine Art Zeitmaschine.«

Ligatem drehte sich ruckartig um. Er starrte auf den leeren Platz, an dem eben noch die fünf Kuppeln gestanden hatten. Sie waren immer noch verschwunden. Der Fürst ahnte, dass es auch so bleiben würde.

»Wir werden Atlan suchen«, kündigte er an.

»Wo, Fürst?«

Ärgerlich versetzte er: »Überall.«

6.
DIE PRINZESSIN

Vergangenheit 5772 v. Chr. / 12.402 da Ark

Ich erwachte mit heftigen Kopfschmerzen. Ringsum herrschte entweder finstere Nacht, was angesichts von Travs Nachtauge unwahrscheinlich schien, oder mein Gesichtssinn funktionierte nicht. Außerdem hatte ich Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Meine Körperposition war mir unklar, ich hatte keine Ahnung ob ich stand oder lag.

In meinem Kopf lachte der Extrasinn sarkastisch.

Narr! Stehen kommt wohl kaum in Frage.

Im ersten Moment glaubte ich, mich immer noch in der Zeitmaschine zu befinden. Die Unbeweglichkeit, die ich nun erlitt, schien mir von derselben Sorte zu sein. Dann machte ich mir klar, dass ich einen Treffer aus einer Strahlwaffe erhalten hatte. Mit der Zeitmaschine hatte mein Zustand nicht das Geringste zu tun.

Diese Frau fiel mir ein, die beeindruckend selbstbewusste Arkonidin an der Spitze des Kampfkommandos. Hatte sie auf mich schießen lassen? Es sah fast so aus. Ich war entweder verwundet und lag im Sand der Yssods-Wüste, sterbend, oder aber …

Es handelt sich lediglich um die Folgen einer Paralyse, behauptete mein Extrasinn. Du solltest zusehen, dass du schnell auf die Beine kommst.

Ein greller Lichtstrahl drang in meinen Kopf.

Ich hatte unwillkürlich die Augen einen Spaltbreit geöffnet. Auch wenn ich die Muskulatur nicht kontrollierte, die wiederkehrende Sehfähigkeit stellte ein gutes Zeichen dar. Ich kannte diesen Zustand gut. Die Arkoniden hatten mich mit einer schweren Dosis vollgepumpt.

Ein normales humanoides Wesen wäre längst nicht wieder bei Bewusstsein. Der Durchschnittsarkonide wäre unter 24 Stunden Ohnmacht und Lähmung nicht davongekommen. Ich dagegen besaß den Zellaktivator. Binnen weniger Stunden würde ich meine volle Bewegungsfähigkeit zurückerlangt haben.

Meine Finger kribbelten. Ich versuchte, nicht zu zucken und jede sichtbare Bewegung zu vermeiden.

Wenn ich paralysiert war, so bedeutete das, dass ich mich in Gefangenschaft befand. Andernfalls hätte die schöne Arkonidin wohl meinen Tod befohlen, oder sie hätte mit mir gesprochen und mich gehen lassen.

Es war anzunehmen, dass irgendwer ein Auge auf mich hatte. Wenn es mir gelang, diese Person über meinen Zustand zu täuschen, konnte ich möglicherweise fliehen – oder etwas anderes tun, was mir sinnvoller erschien.

Die Frau trug das Da-Traversan-Wappen, erinnerte der Logiksektor mich. Finde heraus, was das zu bedeuten hat.

Du meinst … Fürst Ligatem hat eine Tochter?

Nein! Nicht Ligatem! Warum hätte Ligatem eine Verwandte geheim halten sollen? Warum hätte sie sich wohl mit diesen antiken Waffen und dem altertümlichen Schutzanzug verkleidet?

Ich konnte darauf keine Antwort geben.

Also, was willst du andeuten?, fragte ich unschlüssig.

Die Zeitmaschine war echt. Du versuchst, dich einer einfältigen Selbsttäuschung hinzugeben. Das hier ist nicht mehr die Gegenwart.

Ich hätte beinahe einen wütenden Laut ausgestoßen, so abfällig klang die mentale Stimme des Extrasinns. Doch ich erinnerte mich rechtzeitig daran, den Anschein von Paralyse zu wahren.

Meine Augen standen nur wenige Millimeter offen, gerade ausreichend für ein beschränktes Bild.

Ich lag nicht in der Wüste, sondern offensichtlich in einer geschlossenen Räumlichkeit. Wo sich dieser Ort befand, darüber konnte ich nichts aussagen. Die Kuppeln kamen nicht in Frage, es sei denn, dass es dort weitere verborgene Räume gab. Wahrscheinlich hatte man mich aus der Wüste heraustransportiert, vielleicht zurück nach Erican.

Das Kunstlicht war sehr grell. Innerhalb meines beschränkten Gesichtsfeldes befanden sich ein Stuhl und ein Teil einer geschlossenen Tür. Aus meiner Sichthöhe ließ sich schließen, dass ich auf dem Boden lag.

Über einer Stuhllehne hing meine Kleidung, eine beigefarbene Kombination. Die Schuhe standen davor. Ich schloss daraus, dass ich nackt war. Die Arkoniden hatten mich ausgezogen.

Das verschlechterte meine Lage, denn bevor ich ernsthaft aktiv werden konnte, musste ich mich ankleiden. Nicht allein aus Schutzgründen, sondern auch, um in einer mir unbekannten Umgebung nicht unnötig aufzufallen.

Ich hörte keine Geräusche. Mit erzwungener Ruhe ließ ich die Zeit verstreichen. Gymnastik hätte zweifellos die Regeneration beschleunigt, schon ein paar Schritte hätten sehr geholfen … Nein! Es war schwer, die kribbelnden Glieder ruhig zu halten. Jene Körperpartien, aus denen die Lähmung gerade wich, zuckten manchmal unwillkürlich; es handelte sich um Reflexe des Nervensystems, die ich nicht unterdrücken konnte.

Nach zwei Stunden hatte ich das Gefühl, fit zu sein. Ich war mir sicher, dass ich aufstehen und gehen konnte.

Keine Minute zu früh – von jenseits der Tür hörte ich Schritte, schwere Stiefel auf Metallfußboden. Es waren mehrere Personen.

Die Tür sprang auf.

Liege still!

Jemand rüttelte an meiner Schulter. Ich schaffte es, meine Muskulatur absolut entspannt zu halten. Ein zweites Rütteln, diesmal heftiger, und ich hatte Mühe, mich nicht durch eine ausgleichende Bewegung zu verraten.

»Bewusstlos«, konstatierte ein Mann in bestem altarkonidischem Dialekt, wahrscheinlich ein Wächter. »Ich sagte doch, ich hab‘ den Kerl beobachtet. Über die Kameras! Voller Paralysetreffer, der liegt morgen noch so da wie jetzt!«

Eine Weile herrschte Schweigen.

Und dann erklang ausgerechnet jene rauchig-dunkle Stimme, die mich schon beim ersten Mal so beeindruckt hatte:

»Von bewusstlos kann keine Rede sein. Dieser Mann ist zweifellos wach.«

»Wie könnte er nach einer vollen Dosis aus einem Paralysator jetzt schon wach sein, Erhabene?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Es ist nicht möglich!«, beharrte der Wächter.

»Dennoch trifft meine Aussage zu.«

Ich sah die Arkonidin aus der Yssods-Wüste vor mir, die schlanke, durchtrainierte Gestalt, die mandelförmigen roten Augen und das ausdrucksvolle Gesicht. Sie hatte zuletzt mit schneidender Schärfe gesprochen, ihr Ton duldete keinen Widerspruch.

Still, Narr! Sie blufft! Es gibt nichts, wodurch du dich verraten hättest.

»Stehen Sie auf!«

Ich reagierte nicht.

»Sie stehen entweder auf, oder ich werde Sie dazu zwingen lassen.«

Durch die kaum geöffneten Augen sah ich einen Stiefel kommen. Ein scharfer Tritt traf mich in den Unterleib.

Ich krümmte mich vor Schmerzen. Meine Tarnung war aufgeflogen.

Instinktiv nutzte ich die Bewegung, meine Rückenmuskulatur und die Beine unter Spannung zu setzen. Mit einem ansatzlosen Sprung kam ich hoch. Trotz Zellaktivator war ich bei nicht mehr als vierzig Prozent meiner Leistungskraft. Für den ersten Arkoniden reichte es noch; der, dem ich den Tritt verdankte. Der Kerl lag am Boden, bevor er begriff, was geschah. Den zweiten Mann besiegte ich ebenfalls mit einer schnellen Dagor-Trittkombination.

Person Nummer drei stand jedoch an der Tür. Es war die Arkonidin. Und sie machte keine Anstalten zu fliehen.

Stattdessen wartete sie auf mich in der Grundhaltung der Dagor-Schule. Sie schien nicht erschrocken zu sein. Ihre hautenge Kombination in hellblauer Farbe erlaubte geschmeidige Bewegungen. Die Stiefel reichten bis zu den Knien hoch, sie liefen spitz zu und konnten zweifellos als wirksame Waffe eingesetzt werden.

 

Ich begriff, dass ich in meinem Zustand gegen sie keine Chance besaß. Mein Blick fiel auf den Thermostrahler, der neben einem der Männer zu Boden gefallen war.

»Versuchen Sie es, und ich breche Ihnen die Arme«, kündigte die Frau gelassen an.

Ich kalkulierte die Möglichkeiten durch, die mir zur Verfügung standen. Die Dagor-Angriffstechnik war mir wohl vertraut, wahrscheinlich besser als ihr. Der Verlauf eines Gefechtes ließ sich bis zu einem gewissen Grad vorausplanen. Egal, was ich tat, das Resultat würde immer ein gebrochener Arm sein, bei großem Widerstand auch zwei. Ihre vermeintliche Drohung erwies sich als realistische Ankündigung.

Einige Sekunden lang starrten wir uns an. Die Männer am Boden regten sich bereits wieder. Am Ende sagte ich:

»Ich gebe auf.«

»Gut. Wir werden ein Verhör durchführen.«

»Zuerst habe ich eine Frage!«, sagte ich schnell.

Die Arkonidin hob die Augenbrauen, nicht ohne eine gewisse Belustigung.

»Nur zu.«

»Welches Datum schreiben wir heute?«

Die Arkonidin sah mich sehr seltsam an. Dann antwortete sie:

»Heute ist der 14. Prago des Tedar 12.402 da Ark.«

Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Das Datum war zwar noch lange kein Beweis; schließlich hätte die Frau sich irgendein Datum ausdenken können. Die Hinweise, dass tatsächlich eine Zeitreise stattgefunden hatte, mehrten sich jedoch.

Ich begann, daran zu glauben. Das genannte Datum stimmte mit der Ausrüstung überein, die der bewaffnete Trupp in der Wüste getragen hatte. Auch der Dialekt schien zu passen.

Der terranische und der arkonidische Kalender unterschieden sich sehr stark voneinander. Es war nicht leicht, ohne Computer die Daten des einen Systems in das andere umzurechnen. Verschiedene Termine, das Datum meiner Geburt beispielsweise, konnte ich jedoch in beiden Kalendern ausdrücken. Das verschaffte mir einen Anhaltspunkt.

Der 14. Prago des Tedar 12.402 da Ark entsprach grob gerechnet einem Tag im März des Jahres 5772 vor Christi Geburt. Schaltung Sternentau hatte mich demnach zwischen zehn- und elftausend Jahre in die Vergangenheit geschleudert.

Ich machte mir klar, dass ich zu diesem Zeitpunkt zweimal existierte. Der eine Atlan hockte in einer Gefängniszelle auf dem Planeten Traversan – der andere schlief auf der Erde in seiner Tiefseekuppel.

Ich beschloss, die Zeitreise als Realität hinzunehmen. Eine andere Wahl blieb mir nicht. Es sei denn, ich wollte fest die Augen schließen, mich kneifen und hoffen, dass ich aus einem Traum erwachte.

Ich lachte leise.

Die beiden Wachen, deren Thermostrahler auf meinen Kopf gerichtet waren, blickten mich finster an. Einer strich über das geronnene Blut in seinem Mundwinkel, Andenken an den Dagor-Tritt, mit dem ich ihn niedergestreckt hatte.

»Du da! Setz dich hin und halt dein Maul!«

Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass ich bereits saß und kein Wort von mir gab. Es schien mir jedoch unnötig, mich auf einen Streit mit Gefängniswärtern einzulassen.

Stattdessen ließ ich die Vergangenheit Revue passieren. Mit arkonidischer Geschichte hatte ich mich häufig befasst. Mein photographisches Gedächtnis hielt über das Jahr 12.402 da Ark zahlreiche Informationen bereit.

Damals hatten Millionen von Transitionsschiffen den Kugelsternhaufen Thantur-Lok durchflogen; das heutige M 13. Kugelraumer über 800 Meter Durchmesser waren unbekannt, die fünfdimensionale Technik steckte noch in den Kinderschuhen.

Als die Menschheit noch in Einbäumen über das Wasser gerudert war, hatten die alten Arkoniden bereits die halbe Milchstraße unterworfen. Man bekriegte sich mit den Methanatmern, den furchtbaren Maahks, gegen die ich selbst noch als Admiral gekämpft hatte. Geschossen wurde mit Thermokanonen. Syntronische Rechner waren unbekannt, primitive Positroniken galten als die höchste technische Errungenschaft.

Die großen Maahk-Kriege waren im Jahr 12.402 noch nicht ganz beendet, allerdings herrschte eine Phase relativer Ruhe ohne wirklich große Schlachten.

Von der großen Expansion früherer Tage konnte keine Rede mehr sein. Der Hang zu Prunksucht und Dekadenz, der sich in Adelskreisen breitmachte, führte bereits in Riesenschritten auf den bevorstehenden Untergang zu. Der Niedergang, der das arkonidische Volk in eine tagträumende Herde Vieh verwandeln würde, hatte noch nicht begonnen, stand allerdings kurz bevor.

Als Imperator jener Zeit kannte ich Reomir IX., einen wenig brillanten Mann ohne sonderliche Bedeutung in der arkonidischen Ahnentafel. Meine Erinnerung sagte mir, dass Reomir IX. in wenigen Jahren einem Giftanschlag seiner Gattin Siamanth zum Opfer fallen würde. Siamanth würde dafür hingerichtet werden, ein Kristallprinz namens Laschotsch die Macht übernehmen.

Über den Planeten Traversan in dieser Zeit wusste ich nichts. Dem Großen Imperium gehörten aktuell etwa 50.000 Kolonial- und Fremdvölkerwelten an. Niemand wusste über alle Arkonidenvölker Bescheid, auch ich nicht.

Mir war jedoch klar, dass im Jahr 12.402 das Große Imperium zunehmend von Degeneration durchzogen wurde. In den Randgebieten war dies noch nicht sehr deutlich sichtbar. Dafür waren Korruption, Verselbständigungstendenzen und kleinere Kolonialkriege bereits an der Tagesordnung. Anzunehmen, dass auch das Traversan des 12. Jahrtausends da Ark davon nicht verschont geblieben war.

Die Traversaner hatten immer schon als stolzer, separatistischer Teil des Imperiums gegolten. Dies traf für das aktuelle Kristallimperium ebenso zu wie für das Große Imperium der Vergangenheit.

Ein Geräusch riss mich plötzlich aus der Versunkenheit. Die Tür sprang auf, und diesmal kamen vier Personen herein. Ihre finsteren Mienen verhießen nicht viel Gutes.

Beide Wachen salutierten.

»Für Traversans Ehre, Erhabener!«, riefen sie.

Drei der Gestalten waren Leibwächter, martialisch ausstaffierte Typen mit wilden Gesichtern. Der Gruß der Gefängniswachen schien jedoch Person Nummer vier zu gelten. Es handelte sich um einen betagten, breitschultrigen Mann von beeindruckender Körpergröße und natürlicher Autorität. Seine schulterlang wallende Mähne fiel auf einen knielangen Cape-Umhang, der mit Bildern aus der She‘HuhanMythologie verziert war.

Die Wachen hatten ihn als einen Erhabenen bezeichnet, also als einen Mann von hohem Stand. Mir fiel ein, dass auch die Frau aus der Wüste so bezeichnet worden war. Gehörten die beiden möglicherweise zusammen? Waren sie verwandt?

Narr! Siehst du nicht das Wappen?

Jetzt erst drang die kunstvolle Zeichnung eines aufgerichteten Traversan-Büffels an mein Bewusstsein. Es war das Da-Traversan-Wappen, dasselbe, das Fürst Ligatem getragen hatte, ebenfalls die Frau in der Wüste.

Der alte Mann setzte sich vor mir auf den Stuhl. Einige Sekunden lang fühlte ich mich von ihm gemustert. Ich erwiderte den Blick mit derselben Aufmerksamkeit, allerdings nicht unverschämt, sondern höflich.

Seine tiefen Krähenfüße fielen mir ins Auge. Die faltige Augenpartie zeugte von tiefer Sorge, die ihn oft erfüllen musste. Der Mann hatte eine schmale, lange Nase und trug einen kurzen Vollbart. Seine Augen waren tiefrot, dunkler als die des Durchschnittsarkoniden.

»Mein Name ist Nert Kuriol da Traversan«, sprach der Mann plötzlich. »Wer sind Sie?«

Ich antwortete respektvoll:

»Mein Name ist Atlan, Erhabener.«

Ein Nert, überlegte ich, eine Art Baron. Dieser Mann war der Herrscher des Planeten. Es musste sich um einen Vorgänger des Fürsten Ligatem handeln.

»Wie sind Sie in die Yssods-Wüste gekommen? Was wollten Sie dort?«

Einen Moment lang überlegte ich, mir eine Geschichte einfallen zu lassen, die plausibler klang als die Wahrheit. Irgendetwas von einem Absturz, genauso gut schien mir eine Entführungsstory. Aber auch Lügen konnte eine knifflige Sache sein, wenn man nicht genügend über die wahre Lage wusste.

»Ich habe eine Geschichte zu erzählen, die schwer zu glauben ist …«

Nert Kuriol da Traversan lächelte, und die Krähenfußfältchen gruben sich tief in seine Augenwinkel.

»Wir haben nicht sehr viel Zeit. Aber wir hören dir zu.«