Zwei gegen Ragnarøk

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HILDA UND DAS RABENEI

Falki stand unschlüssig, mit seinem Bogen in der Hand, vor der Hütte und überlegte, wann der passende Moment wäre, Hilda seine Neuigkeit mitzuteilen.

Seine Mutter und Schwester saßen auf der Bank, an der Hauswand und strickten emsig, wobei es bei Hilda eher einem Kampf mit dem Faden und den langen Nadeln ähnelte. Falki wusste, dass Hilda das Stricken überhaupt nicht mochte und er sie jetzt vielleicht erlösen könnte. Fast jeden Morgen, wenn nichts Wichtigeres erledigt werden musste, versuchte die Mutter der Tochter die Kunst des Strickens beizubringen. Falki staunte immer wieder über die Strickkünste der Mutter. Stricken, das war etwas, das er nie begriff, wie aus dem ständigen Verschlingen von Fäden etwas Sinnvolles wie Strümpfe entstehen konnten. Er hatte es einmal probiert, aber mehr als ein paar Knoten haben seine Finger mit den Nadeln nicht zuwege gebracht.

Einen Moment lang überlegte er noch, dann entschied er, dass er Hilda vom ungeliebten Stricken erlösen wollte. Er und Alfger hatten nämlich auf ihren Streifzügen entlang der Berge, bei den Dreien ein Rabennest entdeckt. Weil ihm Hilda vor ein paar Nächten ins Ohr geflüstert hatte, dass sie unbedingt ein Rabenei haben wollte, war diese Entdeckung natürlich ungeheuer wichtig und Falki lachte in sich hinein. Er stellte sich Hilda als Rabenmutter vor, wie sie mit einem Schnabel ihr Rabenjunges fütterte und er rief: „Hilda, Hiiiiildaaa, Schwesterchen!“

Endlich wandte sie ihm den Kopf zu. Hilda schaute mit verzweifeltem Gesicht auf und ließ den Strickversuch auf ihren Schoß sinken.

Die Mutter schaute Falki an und runzelte die Stirn. Sie ließ einen richtigen Wortschwall los: „Lass doch mal das Mädchen in Ruhe. Hilda soll sich auf das Stricken konzentrieren. Wenn ihr Mann später nicht ohne Socken herumlaufen soll, wird es Zeit, dass sie endlich lernt, wie Strümpfe gestrickt werden. Aber vor allem muss sie sich selber Strümpfe stricken, weil ich ja gar nicht mehr mit dem Stopfen der Löcher nachkomme.“

Sie holte tief Luft und schimpfte weiter: „Ihre Strümpfe sind doch ständig zerlöchert, weil unsere kleine Strumpfhilda ohne Schuhe durch das Dorf rennt. Nicht wahr, Töchterchen?“

Bei den letzten Worten lächelte sie schelmisch und zwei kleine Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen.

„Oooh Mama, nicht schon wieder“, und Hilda zog gekränkt einen Flunsch, wie immer, wenn man sie Strumpfhilda nannte.

„Na gut, dann sage ich eben, meine große Strumpfhilda. Du bist ja nun auch schon zehn Jahre alt, also ein großes Mädchen, und nicht mehr lange, dann wirst du eine Frau sein. Doch wenn du nicht stricken kannst, wird dich wohl kein Mann wollen.“

„Doch, Mama, ich kenne einen, der wird mich auch ohne diese doofe Strickerei wollen. Das ist nämlich Alfger.“

Dann schaute sie Hilfe suchend zu Falki. Sie war über jede Ablenkung von dieser anstrengenden Arbeit dankbar. Viel lieber rannte sie mit Falki und den anderen Jungen durch das Dorf oder ging mit ihnen auf Entdeckungen in die nahe gelegenen Wälder. Hilda wusste sofort, dass Falki etwas Wichtiges auf der Seele hatte. Er grinste sie so herausfordernd an.

„Ja, Falki, was hast du“, fragte sie schnell. „Brauchst du mich, willst du jemanden verhauen und brauchst meine Hilfe?“

„Nein, da würde ich dann doch lieber Alfger, oder Arnor als Hilfe mitnehmen, aber wir haben was ganz Wichtiges entdeckt, etwas ganz, ganz Wichtiges!“

Hildas Augen wurden immer größer und Mutter Hilda guckte schon leicht besorgt drein.

„Habt ihr irgendwelchen Unsinn vor, ihr Lauseköpfe?“

„Nein, nein“, beeilte sich Falki zu sagen, „Wir haben nur etwas Schönes im Wald entdeckt, etwas sehr Wichtiges für Hilda.“

„Wer ist wir? Nun mach, sag schon“, ermunterte ihn die Mutter.

„Ja, aber ihr dürft es niemanden sagen, es ist wirklich ganz geheim“, und nach einem kurzen Zögern fuhr Falki in geheimnisvollem Ton fort: „Alfger und ich haben ein Rabennest entdeckt, und Hilda will doch einen kleinen Raben ausbrüten.“

Die Mutter runzelte die Stirn und tat etwas erzürnt, aber dann musste sie doch lachen und prustete los: „Raben ausbrüten, hi, hi. Na da habt ihr euch aber was ausgedacht. Die Hauptsache ist, dass niemand zu Schaden kommt. Hilda, nun lauf schon, Falki ist ja schon ganz ungeduldig. Aber seid vorsichtig und passt gut auf euch auf, dass euch nicht die Trolle fressen!“

Sie stupste ihr Töchterchen aufmunternd an und nickte, als Zeichen, dass sie das Strickzeug weglegen sollte.

„Trolle fressen doch keine Menschen“, erwiderte Falki entrüstet, „außerdem gibt’s die hier doch gar nicht mehr, außer in Alviturs uralten Geschichten.“

Man konnte gar nicht so schnell gucken, wie Hilda ihr Strickzeug weggelegte, aufsprang, ihrer Mutter einen Kuss gab und dann Falki am Arm griff.

„Los!“, rief sie erfreut, und schon rannten beide in Richtung von Alfgers Hütte davon.

Als Hilda und Falki dort ankamen, stand Alfger schon davor und wartete. Mit seinen dreizehn Jahren war er nur ein Jahr älter als Falki, aber größer als er, einen ganzen Kopf größer als Hilda und hatte schon recht kräftige Schultern. Für Hilda war schon immer klar, dass nur Alfger, irgendwann einmal, ihr Mann werden würde. Sie mochte seine blonde Wuschelmähne und seine braunen Augen, die hier, in Björkendal, so ganz ungewöhnlich waren. Nur seine Mutter, Einurd, hatte noch diese braunen Augen. Wenn Alfger ihr in die Augen schaute, wurde ihr immer ganz warm im Bauch.

„Hallo, schöne Hilda“, rief er und strahlte über das ganze Gesicht. Es war offensichtlich und jeder im Dorf wusste es, dass er und Hilda sich sehr mochten. Hilda war für ihn ein besonderes Mädchen, weil sie alles so gut konnte, wie es ein Junge können musste und dazu hatte sie Augen, die er so gerne mit den Farben des Fjordes verglich. „Ich habe schon alles zusammengepackt, was wir brauchen“, rief er freudig aus und zeigte auf einen Haufen Gepäck, der zu seinen Füßen lag. Oben drauf lagen ein zusammengerolltes Seil und ein paar Felle.

„Meine Mutter hat uns Essen für den ganzen Tag eingepackt“, sagte Alfger stolz und zeigte auf den Korb.

Erfreut über das bevorstehende Abenteuer und überrascht, weil sie nicht richtig wusste, was die beiden Jungen genau vorhatten, fragte Hilda: „Was habt ihr denn überhaupt vor? Ich bin ja gespannt wie ein Flitzbogen.“

„Hilda, wolltest du nicht einen Raben ausbrüten?“, fragte Alfger und reckte sich dabei zu voller Größe auf.

„Falki und ich haben beschlossen, dass du ein Rabenei bekommen sollst, und wir wissen auch schon woher.“

Alfger tat wie ein Anführer und rief: „Los geht’s! Greift euch das Zeug und kommt! Bis zum Nest ist es ja doch ein ganz schön weiter Weg.“ Er hängte sich das Seil um die Schultern, griff sich sein Gepäck und lief los.

Unterwegs erzählten die beiden Jungen Hilda, wie sie das Nest bei den Dreien entdeckt hatten. Die Drei, so nannten alle hier die drei Felsspitzen, die von einem Berg in den Himmel ragten. Dort in der Felswand hatten sie das Rabennest entdeckt und beobachtet, dass die Eltern noch brüteten.

„Hilda, dann bekommst du dein Rabenei und kannst es selber ausbrüten.“ Dabei grinste Alfger so schelmisches über das ganze Gesicht, dass Hilda ihn am liebsten einen Kuss gegeben hätte. „Hilda, wo willst du denn dein Nest bauen, auch in den Felsen, oder auf einem Baum?“

Hilda guckte verdutzt. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ui, da muss ich mir aber etwas einfallen lassen. Na auf einem Baum kann ich ja wohl nicht brüten, weil ich wahrscheinlich nachts runterfallen würde und wie man ein so großes Nest baut, in das ich auch reinpasse, weiß ich auch nicht, oder du hilfst mir dabei?“ Nun grinste sie frech in Alfgers Gesicht, dass er große Augen machte.

„Ich glaube, ich werde einfach zu Hause, auf meinem Lager brüten, das ist es weich und warm.“

Hilda rief plötzlich aus: „Seht doch, ist das nicht ein wunderschöner Tag; Vogelgezwitscher, Blumenduft und Sonnenschein!“

„Aber achte trotzdem auf den Weg“, riet ihr Alfger.

„Doofkopp“, antwortete Hilda und lachte ihn an.

Überall blühten Kräuter und Büsche am Wegesrand, und um sich die Zeit auf dem langen Weg zu vertreiben, zupfte sie hier und da eine Blume und nach einiger Zeit Fußmarsch hatte sie sich einen wunderschönen, bunten Blütenkranz geflochten.

Als sie wieder zu den Jungen aufschloss und neben Alfger anlangte, schaute sie ihm mit einem breiten Lächeln ins Gesicht, damit er ihren Blumenkranz bewundern sollte. Alfger schaute auch und war beeindruckt; Hilda war für ihn wunderschön. „Da würde ja sogar Freyja neidisch werden, wenn sie dich jetzt sähe“, sagte er anerkennend. Auch Falki nickte bestätigend und zwinkerte Hilda zu.

Dann verfielen sie wieder schweigend in ihren schnellen Schritt, und so legten sie, in kürzester Zeit, eine lange Wegstrecke zurück.

In das anhaltende Schweigen hinein rief Alfger: „Falki, warum haust du denn laufend mit deinem Knüppel gegen jeden Baum, du verscheuchst ja alle Tiere.“

Falki schaute betroffen drein und brummelte: „Entschuldigung, das war mir gar nicht so bewusst, dass ich hier herumklopfe, wie ein Specht, aber schaut mal, da vorne sind ja schon die Felsen.“

Wie selbstverständlich war Alfger der Anführer ihrer Gruppe und gab Handzeichen, stehen zu bleiben. „Wir werden erst mal eine Weile, beobachten, was die Raben so treiben und dann holen wir uns das Ei.“

„Gibt’s hier Bären?“, fragte Hilda plötzlich ängstlich. Die Jungen schauten sich an und zuckten die Schultern.

Alfger meinte: „Doch, ich glaube, dass Ragnar hier im vergangenen Jahr einen Bären erlegt hatte. Das ganze Dorf hat doch darüber gesprochen. Er hat ihn ganz alleine, mit dem Speer, erlegt und dann stolz das Fell herumgezeigt.“

 

„Ja, ich weiß, sagte Falki, aber bist du sicher, dass das hier war?“

„Ich glaube schon, denn er hatte ja die Drei erwähnt, und vor denen stehen war ja jetzt“, flüsterte Alfger und zeigte auf die Felsen, die wie drei Finger aus dem Felsmassiv herausragten.

Er hob seinen Speer, um zu zeigen dass er keine Angst hatte. „Hilda, wieso fragst du das überhaupt?“

Hilda schaute ihn mit großen Augen an und flüsterte: „Da war Etwas. Ich habe was gehört und auch etwas Dunkles dort in dem Schlehengebüsch verschwinden sehen, und es war groß.“ Sie deutete auf eine dichte Schlehenhecke, die etwas dreißig Schritte vor ihnen wuchs.

Die beiden Jungen schauten sich mit unsicheren Blicken an und Falki fragte: „Ob mein Bogen ausreicht, einen Bären zu erlegen?“

„Wenn dein erster Schuss richtig trifft, ja, aber wenn nicht, müssten wir uns Flügel wachsen lassen“, meinte Alfger. „Aber ich bin ja auch noch da“ – und er hob demonstrativ seinen Speer.

Falki wusste: Unter den jungen Leuten im Dorf war Alfger der beste Speerwerfer. Seine Speere verfehlten nie ihr Ziel und weit konnte er auch werfen. „Wir werden uns doch hier nicht von einem Bären verscheuchen lassen. Hilda und Falki, ihr habt die schärfsten Ohren, passt einfach auf.“

Einen Augenblick später standen sie vor den Felsen und schauten suchend in die Höhe. Falki zeigte auf die Stelle, wo sich der Rabenhorst befand. Obwohl sich die drei Abenteurer still verhielten, waren sie von den Rabeneltern doch entdeckt worden. Ein Rabe begann mit lautem „Arrr, arrr“ über ihren Köpfen zu kreisen, während der andere auf dem Nest sitzen blieb und ebenfalls laut rief.

„Da wollt ihr hinauf“, flüsterte Hilda, „das ist ja unheimlich hoch und steil, uui.“ Sie schaute etwas ängstlich in die Felswand und kratzte sich ungläubig am Kopf, wobei ihr der Blumenkranz herunterrutschte. „Macht nichts“, dachte sie, „den brauche ich jetzt nicht mehr.“

„Wir schaffen das schon meinte Alfger. Dein Bruder ist ja der beste Kletterer, und ich bin der beste Kletterhelfer. Stimmt’s, Falki?“

Falki schaute etwas komisch drein. „Na, wenn du meinst.“

Hilda stellte sich auf einen riesigen Felsblock, um die Gegend besser beobachten zu können und da er riesig und flach war, breitete sie ihr Gepäck um sich herum aus.

„He, ihr beiden tapferen Kletterer, wollt ihr nicht vorher etwas essen und euch für die anstrengende Kletterei stärken? Schaut mal, ich habe hier im Korb eine Menge leckeres Zeug gefunden. Hast du das alles eingepackt, Alfger?“

„Na gut, dann essen wir erst etwas. Nein, das hat alles meine Mutter eingepackt. Die hat immer Angst, dass ich verhungere. Falki komm, setzen wir uns zu Hilda und stärken uns.“

Einen Augenblick später saßen sie im Kreis um den Korb und ließen es sich gut schmecken. Alfgers Mutter hatte reichlich eingepackt: Kalten Brei mit Früchten, etwas Brot, Trockenfisch, Äpfel und sogar etwas Fleisch war dabei.

Inzwischen war das Wetter wieder so, wie es immer üblich war, mit einem Himmel voller Wolken. Die Sonne blinzelte nun nur noch durch die Wolkenlücken, aber es war trotzdem warm. Um sie herum herrschte Stille, kein Baum knarrte, kein Laub raschelte, nur ab und zu ein Piepen aus den Wipfeln der Bäume. Irgendwann war auch kein Vogelgezwitscher mehr zu hören. Diese absolute Stille kam Hilda sehr sonderbar und schon fast unheimlich vor. Sie neigte laufend ihren Kopf in alle Richtungen, um besser hören zu können. Was sie vorhin gehört hatte und glaubte gesehen zu haben, kam ihr plötzlich wieder in den Sinn.

Die Jungen waren fertig mit dem Essen und wischen sich genüsslich den Mund. Falki legte seinen Kopf auf Hildas Knie und stöhnte wohlig: „Ach, hier kann man es aushalten. Kein Gegacker von Dorfhühnern, keine quälenden Eltern. Hier möchte ich bleiben.“

„Psst!“ machte Hilda. „Da ist es schon wieder, wie vorhin“, und sie zeigte, mit erregtem Gesicht auf einen Holunderbusch, der mitten im Schlehendickicht stand.

Da sahen die Jungen es auch: Ein fast schwarzer, Zottelpelz bewegte sich aufrecht im Schatten der Büsche. Nur ein ganz leises Rascheln der Blätter war zu hören. Das Wesen verharrte, bewegte sich dann aber weiter und kam langsam näher. Falki griff aufgeregt nach seinen Bogen. Alle drei schauten sich etwas ängstlich an. Das war kein Bär, denn die sind viel größer und die laufen auch nicht aufrecht, und ein Wildschwein war das erst recht nicht. So leise konnte sich kein Wildschwein und kein Bär bewegen. Dann hörten sie es wieder, das ganz leises Knacksen eines Zweigleins und ein kaum zu hörendes, leises Schurr, Schurr. Die Leichtigkeit, mit der sich diese Gestalt durch das dichte Gebüsch bewegte, war ihnen unheimlich. Der Zottelpelz kam langsam näher und stand jetzt am Rande der hohen Sträucher.

Hildas Herz begann zu hämmern und etwas Merkwürdiges fing an, sich in ihrem Kopf zu regen. Dieses merkwürdige Gefühl, dass sie schon öfter so ganz leicht verspürt hatte, nahm jetzt an Stärke zu und sie wusste plötzlich, dass die unbekannte Gestalt es auslöste. Alle drei hielten den Atem an. Alfger griff nach seinem Speer und Falki fingerte, den Blick starr auf das Gebüsch gerichtet, nach einem Pfeil. Die Situation war ihnen nicht geheuer und die Haare im Nacken stellten sich auf. Alle drei starrten gebannt auf das Monster, das sie nicht kannten und das sich dort im Gebüsch als dunkler Schatten bewegte. Ganz langsam hob Alfger seinen Speer und Falki legte den Pfeil auf die Bogensehne. Totenstille herrschte um sie herum, nicht mal ein Vögelchen zwitscherte. Sechs Augen hingen förmlich an dem bedrohlich wirkenden Schatten, der sich weiterhin, ganz langsam, auf sie zu bewegte.

Die Anspannung wuchs und das Etwas kam immer näher. Die Zweige wurden vorsichtig auseinander gebogen, dann trat es zögernd aus dem Gebüsch.

Zwei große, dunkle Augen schauten sie an, umrahmt von dichtem Zottelhaar. Hilda nahm sofort den besonderen Geruch wahr; so wie nach feuchter Erde, nach Moos und etwas streng, wie Pferd. Ein Troll stand vor ihnen. Die Spannung, die in der Luft lag, spürte auch Falki als Kribbeln auf der Haut und keiner traute sich, auch nur einen Finger zu bewegen.

Es war Hilda, die sich zuerst entspannte, weil sie tief in sich den Troll und seine Friedfertigkeit erspürte. Wie kleine, ganz sachte Berührungen fühlte sie den Troll in ihrem Kopf und sie wusste jetzt, dass ihr merkwürdiges Gefühl, dass sie vorhin so stark spürte, eine neue Fähigkeit war, die sie jetzt grade benutzte.

Sie flüsterte: „Habt keine Angst, das ist nur ein junger Troll, der neugierig ist. Er tut uns nichts. Er ist freundlich; ich spüre es.“

„Woher willst du das wissen“, flüsterte Falki zurück, aber auch er entspannte sich sofort. Irgendwie wusste er, dass er Hildas Worten glauben konnte.

„Ich spüre es einfach in mir und sogar ganz deutlich. Er ist nicht böse und er hat sogar etwas Angst vor uns. Ich glaube, er weiß, dass ich ihn spüren kann. Er ist nur neugierig, und ich weiß, dass er Hunger hat.“

Hilda flüsterte in die Richtung des Wesens: „Trolli, hast du Hunger?“

Fast wie eine Antwort, drehte der Troll ihr sein Gesicht zu und ließ ein ganz leises Brummeln hören, dass den Jungen die Haare zu Berge standen.

„Er hat wirklich Hunger“, flüsterte Hilda und schob ganz langsam die hölzerne Schale mit dem Getreidebrei in seine Richtung, bis an den Rand des Felsblocks.

Alfger atmete hörbar seine Anspannung aus und auch Falki entspannte sich langsam, indem er leise durch die Lippen pustete. Der Troll machte noch einen Schritt auf sie zu und trat vollständig aus dem Gebüsch heraus. Sein Blick huschte dabei zwischen den Menschen und der Schale, mit dem Brei, hin und her.

Dann stand er plötzlich am Rande des Steins und schwupp, griff seine pelzige Hand nach dem Essen. Blitzschnell war die Schale verschwunden und der Troll mit ihr. So schnell konnten die drei gar nicht gucken, wie der Troll mit der Schale verschwunden war. Kein zitterndes Zweiglein verriet mehr, in welche Richtung ihr pelziger Gast davongemacht hatte.

Alfger macht laut: „Ufffff, das war was“ – und Falki meinte kopfschüttelnd: „Ja, das war irre, aber das glaubt uns keiner im Dorf.“

Hilda machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte dann: „Als ich merkte, dass es ein Troll war, hatte ich kein bisschen Angst mehr. Es war so, als ob wir uns verstehen würden. Nicht, dass ich seine Gedanken wusste, aber ich konnte ihn fühlen, und auch dass er Hunger hatte. Ich spürte auch ganz deutlich, dass er uns nichts Böses tun wollte.

„Alfger, verstehst du, was meine Schwester uns grade erklärt? Sie konnte den Troll spüren, seine Gedanken lesen; Hilda, ich glaube, du bist eine Hexe.“

Alfger guckte etwas versonnen, dann grinste er Falki ins Gesicht und verkündete: „Ich spüre, ja, seit heute spüre ich, dass ich Hexen ganz besonders mag.“

Nun lachte alle drei und Hilda fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Ein dunkler Schatten flog über ihre Köpfe und sein lautes „Krah, krah“, erinnerte sie wieder daran, warum sie eigentlich hierher gekommen waren.

Die Drei ragten immer noch herausfordernd vor ihnen in den Himmel und in der Felswand wartete das Rabennest.

„Jetzt wird es noch einmal spannend“, meinte Alfger und nahm das Seil auf.

Die Felsen kritisch betrachtend, gingen die beiden Jungen ganz nahe an die Felswand heran. Hoch über ihnen, auf einem Felssims, war der Rabenhorst zu sehen.

Die Jungen, besonders Falki begannen die Felswand ganz genau zu betrachten – jeder sichtbare Riss, jeder Vorsprung wurde kritisch begutachtet. Falki begann jeden Schritt zu überlegen, welcher Riss und welche Kanten zum Klettern geeignet wären. Schließlich sagte er zu Alfger: „Wenn wir es bis zu diesem Vorsprung dort geschafft haben, wo die kleine Birke drauf wächst, dann haben wir das Schlimmste hinter uns. Von dort an kannst du das Seil an der Birke fest machen und ich bin sicher. Aber hier unten sieht es ganz schön schwierig aus. Wie soll ich bis zu diesem kleinen Absatz hoch kommen? So hoch kann ich nicht springen.“

Nun machten alle drei nachdenkliche Gesichter und überlegten, bis Hilda sagte: „Ich kann ja auch was aushalten. Wir stellen uns zusammen an die Wand und du steigst auf Alfgers Schultern und zusammen können wir dich dann hochschieben, also richtig hochheben. So müsstest du doch den Vorsprung erreichen können.“

Falki nickte und brummte: „Versuchen wir es“, dann band er sich das Seil um den Bauch und die anderen beiden stellten sich mit dem Rücken an die Felswand. Er zog seine Schuhe aus und kletterte an Thurid und Alfger hoch. Das war zwar ganz schön wackelig, aber die zwei hielten stand und als Falki auf ihren Schultern stand, begannen sie in mit vereinten Kräften hochzuschieben.

Mit einiger Anstrengung klappte es, so dass Falki sich mit einem Klimmzug auf den Vorsprung hochziehen konnte. Während die drei sich abmühten, nun auch Alfger auf den Vorsprung zu hieven, ging einer der Raben zur Verteidigung des Nestes über und flog ständig, laut krächzend, Scheinangriffe.

Als Alfger sicher auf einem Vorsprung stand, begann Falki seine gewagte Kletteraktion und der Rabe sah in ihm sofort den wirklichen Gegner. Immer wieder ging er in den Sturzflug über und schoss ganz dich an Falki vorbei in die Tiefe, derweil Falki verbissen, Stück für Stück, höher in die Felswand kletterte. Jetzt schaute sich Falki erst einmal um, wo er überall Halt für die Hände finden könnte und gab dann Alfger ein Zeichen, dass er jetzt nachklettern konnte.

Plötzlich schrie Falki auf: „Du alter Drecksvogel, buää.“

Der angreifende Rabe hatte ihm bei einer seiner Sturzflugattacken einfach angekackt.

Falki wusste zwar, dass man damit rechnen musste, wenn man Vogelnester ausnehmen wollte, aber er zog trotzdem ein jämmerliches Gesicht und wischte sich die Augen sauber. Anschließend grinste er: „Vielleicht kann ich jetzt mit diesem Auge noch besser sehen.“

Mit gegenseitiger Unterstützung schafften es die beiden Jungen endlich den Sims mit der kleinen Birke zu erreichen und konnten dort kurz verschnaufen.

Hilda saß unten und hatte vor Aufregung ganz schwitzige Hände. Sie war ja fast wie ein Junge und stand ihnen auch in nichts nach, aber dieser Felsen war ihr doch unheimlich. Falki und Alfger standen auf dem Vorsprung und erkundeten mit den Augen den weiteren Weg. Dort oben waren sie schon auf Höhe der umstehenden Baumwipfel. Falki band jetzt das Seil an der Birke fest und begann weiter in Richtung des Rabenhorstes zu klettern. Langsam, ganz geschickt jede Steinkante nutzend, schob er sich höher. Jede Ritze, jeden kleinen Vorsprung nutzend kam er dem Ziel näher.

 

Die beiden Rabeneltern waren jetzt in heller Aufregung. Ein Rabe stand wild flatternd auf den Rand des Nestes und rief immerzu: „Arrr, Arrr“ – und der andere flog immer engere Kurven um Falkis Kopf. Dabei ließ er laufend seine Häufchen fallen. Aber unbeirrt schob sich Falki weiter nach oben.

Beide Raben riefen jetzt im Chor, aufgeregt und schnell etwas, das wie ein unheimliches Rrrrrrraa, rrrrraa und ark, ark klang.

Falki hatte ziemliche Mühe sich festzuhalten, ihr Geflatter und ihr lautes Gekreische irritierten ihn sehr. Die Spannweite ihrer Flügel war gewaltig, fast so groß, als wenn er seine Arme ausbreiten würde und der Schnabel des nach ihm stoßenden Raben hatte beachtliche Ausmaße. Falkis Auge brannte immer noch von der Rabenkacke. Grade wollte er es noch einmal auswischen, da passierte es: Falki rutschte auf dem Rabenkot, der überall unterhalb des Nestes auf den Felsen klebte, aus und verlor den Halt.

Zum Glück war das Seil fest um die kleine Birke auf dem Felsvorsprung gebunden und so konnte er nicht weit fallen, aber es tat höllisch weh, als er nach einem gewaltigen Ruck pendelnd, unterhalb der Birke hing. Falki zappelte erst mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber dann schaffte er es wieder, Halt in der Wand zu finden. Alfger ließ ihm das andere Ende des Seiles herunter so das Falki sich auch daran festhalten konnte. Das Pendeln hörte auf und er konnte wieder nach oben klettern.

Hilda hatte nach diesem Sturz Angst um ihren Bruder und rief von unten: „Falki, ich will doch keinen Raben mehr. Komm runter!“

Falki hatte sich etwas erholt und setzte eine entschlossene Mine auf. „Jetzt erst recht! Es geht weiter!“ – und an Alfger: „Halte fest!“ Mit zusammengebissenen Zähnen begann er wieder an der Wand nach oben zu klettern. „Ich werde es schaffen“, sagte sich Falki, wie um sich selbst Mut zu machen.

Der eine Rabe attackierte ihn laufend weiter, mit dem Schnabel und seinem Kot. Endlich erreichte Falki den Horst und zog sich das letzte Stück über den Rand der Felskante, um hineinschauen zu können. Der Rabe auf dem Nestrand protestierte mit ohrenbetäubendem Gekreische und begann mit dem Schnabel nach Falkis Hand zu hacken.

Falki gab nicht auf. Er verbesserte seine Standfestigkeit und sagte mehr zu sich selbst: „Nur noch ein kleines Stückchen“, dann griff er beherzt in das Nest.

Was er fand, überraschte ihn dermaßen, dass er fast wieder gestrauchelt wäre. Er zuckte überrascht zurück, aber dann griff er erneut zu. Falki spürte zwei nackte, kleine, warme Küken unter seinen Händen. Nein, die wollte er nicht rauben. Seine Finger tasteten weiter und da war es – das Ei.

Sei Herz jubelte: Das Rabenei! Er fühlte es, ganz warm und glatt in seiner Hand. „Jetzt oder nie“, dachte er und griff zu. Falki verstaute es in seiner, mit weichem Moos ausgepolsterten Umhängetasche. Jetzt war er erleichtert und ohne sich weiter aufzuhalten, begann er nach unten zu klettern.

Als ob die Rabeneltern zufrieden waren, dass er die Küken nicht mitgenommen hatte, beruhigten sie sich ziemlich schnell und der Rabe, der ihn laufend attackiert hatte, setzte sich auf einen Felsvorsprung und beäugte ihn aufmerksam.

Kurze Zeit später erreichte Falki den Vorsprung, auf dem Alfger wartete. Erleichtert legte ihm Alfger seinen Arm auf die Schulter. „Ich wusste, dass du das schaffst. Wenn das Einer hier hoch schaffen kann, dann du, Falki.“

Nach kurzer Verschnaufpause ließ Falki die Umhängetasche am Seil hinunter und Hilda nahm sie mit größter Vorsicht ab. Sie hatte große Angst, dass ihr das Ei zerbrechen könnte. Endlich, zu Hildas großer Erleichterung, sprangen die beiden Jungen vom letzten Sims herab. Unten angekommen, schauten sich alle drei erleichtert an. Hilda sprang auf Falki zu, küsste ihn stürmisch und drückte ihn ganz fest. „Falki, mein Falki, du bist der beste Bruder, den es gibt und der allerbeste Rabeneiklauer.“

Falki lächelte stolz und erwiderte: „Haha, du hast ja nur einen.“

Darauf wieder Hilda: „Ja, aber der ist wirklich der beste Bruder auf der ganzen Welt.“

Nun strahlte Falki richtig und er hatte in diesem Augenblick das Gefühl zu wachsen.

„Und ich“, maulte Alfger, „ich hab doch auch geholfen.“

Hilda drückte auch ihm einen Kuss auf die Wange, nur das der etwas länger war, als bei Falki. „Danke du Lieber“, hauchte sie ihm ins Ohr. Dann wurde Hilda rot und drehte sich ganz schnell um.

Die drei Freunde waren glücklich über ihr gelungenes Abenteuer und umarmten sich gemeinsam. Hilda konnte nun ihre Neugier nicht mehr zügeln und ganz vorsichtig machte sie Falkis Tasche auf und bestaunte das Ei. Es war hellgrün mit vielen braunen Flecken. Es war ganz warm und fühlte sich wunderbar glatt an.

„Es ist wunderschön“ hauchte sie. „Falki, Alfger, schnell, wir müssen nach Hause. Das Ei darf doch nicht kalt werden, sonst stirbt das Küken darin.“

Alfger wollte das Ei auch sehen und schaute neugierig in die Tasche, die Hilda danach aber blitzschnell wieder zu machte. „So, Schluss mit Gucken, da drinnen bleibt es warm“, und schob die Tasche vorsichtig unter ihre Tunika.

Zufrieden und stolz machten sich die drei auf den Heimweg. Hilda war überglücklich, aber sie lief die ganze Zeit so vorsichtig, als ob sie eine Schale mit Wasser vor sich her tragen würde. Die Jungen neben ihr grinsten, weil sie wussten, wie Hilda sonst immer herum sprang, wenn sie zusammen unterwegs waren. Auf dem langen Rückweg begann Hilda zu grübeln: „Wie geht es nun weiter? Wie baue ich mir ein Nest und wie brüte ich das Ei überhaupt aus, …?“

Eine ganze Weile hatte Hilda noch die Rufe der Rabeneltern im Ohr und fast ein schlechtes Gewissen. Im Gedanken rief sie ihnen zu: „Seid uns nicht böse, sorgt euch nicht weiter, ich werde mich gut um euer Küken kümmern.“