Zwei gegen Ragnarøk

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Sofort gingen die Augenbrauen des Mannes nach oben und man merkte deutlich, wie es in seinem Kopf zu arbeiten begann, bis sein Blick interessiert an dem verschlossenen Krug haften blieb.

Alvitur lächelte. „Ja, in diesem Krug ist das Getränk, von dem ich sprach. Es ist nur eine Kostprobe und wenn du dich für einen Handel entscheidest, kann dir mein Händler bedeutend mehr liefern“ – und er nickte Ernir zu, den Krug zu öffnen.

Ernir spielte seine Rolle gut und öffnete den Krug, mit dienstbeflissenem Gesicht, etwas umständlich, fast andächtig. Er nestelte ein Trinkhorn vom seinem Gürtel und goss etwas Wein hinein. Alvitur nickte wieder und Ernir reichte dem Wirt das Trinkhorn. Fünf Augenpaare beobachteten nun, wie der Mann ihren Wein trank.

„Oh, das ist wirklich etwas, was es hier nur sehr selten zu trinken gibt.“

Am Trinkverhalten des Wirtes sah Alvitur, dass dieser Mann wusste, wie man Wein trank. Er goss ihn nicht in sich hinein, wie es die Leute hier mit dem Bier machten, sondern trank ihn in kleinen Schlucken und schmatzte dabei unentwegt mit den Lippen. Alvitur merkte deutlich, das ihm ihr Wein gefiel und das bestimmte seine weitere Taktik.

„Eine Hand voll Hacksilber und der Krug gehört dir“, sagte er so, als ob er eigentlich Wichtigeres zu tun hätte, als über diese Geschäft zu reden.

Unter dem Tisch stieß Alvitur Ernir mit dem Fuß an und Ernir wiederholte sofort: „Ja, guter Mann, eine Handvoll Hacksilber, dann kannst du meinen Krug mit dem Wein haben.“

„He, wo kommt ihr denn her? Eine Handvoll Silber, ihr könnt höchsten eine Mark Silber16 dafür bekommen. Für eine Mark Silber bekomme ich hier nämlich eine ganze Kuh“, stöhnte der Mann auf und fasste sich an den Kopf.

Alvitur schaltete schnell und rettete die Situation: „Wir sind manchmal Spaßvögel, nehmt es uns nicht übel. Wir übertreiben gelegentlich gerne. Selbstverständlich meinen wir eine Mark Silber. Wiege es ab und du kannst den Krug haben. Die Kuh kaufen wir dann später von diesem Silber.“

Alvitur lehnte sich zurück und lächelte überheblich. Erst schien der Wirt verunsichert, dann sagte er aber: „Wartet, ich gehe eine Waage holen und wir machen das Geschäft.“ Nach diesen Worten drehte er sich um und verschwand auf flinken Füßen. „Ernir, du bist jetzt der Weinhändler und lasse durchblicken, dass er auch größere Krüge von einem Fjerding Inhalt haben kann“, bemerkte Alvitur hinter vorgehaltener Hand.

Nebenbei ließen sich die Männer den gebratenen Ochsen schmecken und tranken mit Genuss das ungewohnt, gute Bier.

Nach einem kurzen Augenblick erschien Nils wieder, mit einer kleinen Waage und einem Säckchen in der Hand. Ernir schob seinen Bierkrug über den Tisch, zum Zeichen, dass er jetzt den Handel tätigte und schaute gespannt auf die Hände des Wirtes. Der legte das Gewicht einer Mark in die Waagschale und ließ dann nach und nach soviel von dem Hacksilber in die andere Schale fallen, bis beide Schalen im Gleichgewicht pendelten.

Ernir hielt seinerseits ein Beutelchen auf und sagte mit einem geringschätzigen Gesicht: „Na ja, viel ist es nicht, aber wenn du Interesse hättest, könnten wir jedes Jahr um diese Zeit einen weit größeren Handel abschließen. Genug Leute sitzen hier ja herum, die diesen wunderbaren Wein gerne trinken würden. Falls du dich entschließen würdest, könnte ich dir auch morgen noch einen größeren Krug mit einem Fjerding Inhalt verkaufen.“

Die Blicke des Mannes pendelten zwischen Ernir und Alvitur hin und her.

Als Alvitur leicht nickte, meinte er: „Ja, wenn das möglich ist, kommt morgen wieder vorbei. Ich kaufe euch den großen Krug auch ab und das Essen jetzt, nehmt es als Zeichen meiner Gastfreundschaft.“

Ernir griff seinen Bierkrug und sagte: „Nils, dann trinken wir auf unser gutes Geschäft und hab Dank für deine Gastfreundschaft. Wir werden unseren Freunden von deiner Großzügigkeit berichten.“

„Ich danke auch euch“, sprach der Wirt, nahm den Krug Wein vom Tisch und ging mit einem befriedigten Gesichtsausdruck ins Haus.

„So ein Geschäft lasse ich mir gefallen“, platzte Hervar heraus. „Wenn es jedes Mal ein Essen als Zeichen der Gastfreundschaft gibt, werde ich wohl als Händler hier noch fett werden.“

„Ja, meine Freunde, wir haben einen Grund zum Feiern. Unser Traum ist etwas näher gerückt. Jetzt wissen wir dass Björkendal einen wirklichen Schatz hat, nämlich unseren Apfelwein. Dass der Nils sofort auch den größeren Krug kaufen will, spricht wirklich für unseren Wein.“

Alvitur sah deutlich erleichtert aus, als er sich entspannt zurücklehnte und seine Augenbinde zurechtzupfte.

Nach einer Weile des friedlichen Genusses, meinte Alvitur: „Freunde, jetzt kommt der ernstere und gefährlichere Teil des Tages. Wir wollten uns doch um den kleinen Jungen kümmern, oder wollt ihr den ganzen Abend lang lieber unseren Erfolg genießen?“

„Nein, wir waren ja alle dafür den Kleinen zu befreien. Am liebsten würde ich gleich aufspringen und diese Kerle verprügeln“, sprudelte Ernir aufgebracht hervor.“

„Dann trinkt euer Bier aus uns lasst es uns erledigen“, mahnte Alvitur, „aber erst beraten wir unser Vorgehen.“

Wie abgesprochen teilten sich die Männer auf. Alvitur und Hervar näherten sie dem Sklavenplatz und sahen, dass von den drei Sklaven nur noch ein Mann an dem Balken stand.

„Egal“, zischte Alvitur, wir müssen herausbekommen, wohin das Kind gehört. Danach richtet sich unser weiteres Vorgehen.“

Mit Erleichterung stellen sie fest, dass auch nur noch einer der Sklavenhändler über seinen Besitz wachte und Alvitur steuerte direkt auf ihn zu.

„Sei gegrüßt, tapferer Mann. Heute hatte ich im Vorbeigehen gesehen, dass du hier gute Ware stehen hattest, aber du hast sie wohl nicht mehr?“

Der Angesprochene setzte ein freundlicheres Gesicht auf und antwortete in einem dänischen Dialekt: „Da kommst du zu spät. Ja, es war gute Ware und das Pärchen habe ich auch verkauft. Ha, die haben einen guten Preis gebracht und meine Freunde sitzen bestimmt schon und feiern.“ Er zeigte auf den angeketteten Mann. „Den da könnt ihr noch haben, wenn du mir dein Schwert dafür gibt’s. He, das ist ein Sonderangebot.“

Alviturs legte seine Hand auf den Schwertgriff und schaute den Kerl belustigt an. „Glaubst du, dass ich für so eine Klappergestalt dieses prächtige Schwert hergebe, mit dem ich schon so viele nach Walhall geschickt habe? Und außerdem ist diese Prachtstück bedeutend mehr wert. Aber sag mal, dieses Balg dort, gehörte das nicht zu dem Paar, das ihr verkauft habt?“

In diesem Moment liefen zwei Männer vorbei, die ein paar Schritte weiter stehen blieben und sich heftig zu streiten begannen. Es waren Leif und Feykir, die ihre Rollen wirklich gut spielten. Sie sollten für Ablenkung sorgen, damit sich der Kerl nicht richtig konzentrieren konnte. Nun kam auch noch Ernir von der anderen Seite her und grölte, so laut er konnte, ein Lied über die schönen Walküren in Walhall. Dieses Szenario zeigte Wirkung und der Kopf des Sklavenhändlers ging hin und her.

„Hä? Ach so ja, dieses taube und stumme Drecksstück dort? Nein, dessen Eltern sind tot, aber keiner will das Balg haben. Der ist doch zu nichts zu gebrauchen, aber in die Hand hat es mich gebissen, wie ein Köter.“

Was wollt ihr denn mit diesem kleinen Köter anfangen, wenn er zu nichts zu gebrauchen ist?“, fragte Alvitur in einem höhnischen Ton.

„Entweder fressen wir ihn zum Frühstück, oder wir schmeißen ihn morgen ins Wasser, wenn ihn keiner kaufen will.“

Ganz unmerklich schob Alvitur seinen Dolch am Gürtel weiter vor, so dass er gut zu sehen war und spielte daran herum.

„Von wo kommt ihr denn?“, fragte er. „Ich sah heute auch deine Freunde hier stehen, richtige Kämpfer.“

„Ach, guter Mann, woher wir kommen – jeder von uns aus einer anderen Ecke der Welt, aber unsere Ware hatten wir dieses mal in der Nähe von Dublin eingefangen, in Irland. Da fahren wir auch wieder hin. Ist ‘ne ertragreiche Gegend dort“, und sein Gesicht verzog sich zu einer hämischen Grimasse.

„Sag mal, weißt du den Genuss von gutem Wein zu schätzen? Vielleicht überlässt du mir ja die klapprige Gestalt dort für einen guten Schluck. Ich rede von einem großen Krug mit köstlichem Wein.“

Leif hatte sich unbemerkt zu Seite bewegt und tauchte, mit seiner grauen Kleidung, im Halbschatten zwischen den Häusern unter. Jetzt stritten Hervar und Feykir wieder lautstark miteinander und Ernir grölte, nun auf der anderen Seite des Platzes, immer noch sein Lied.

Im Schatten der Hütten huschte Leif an das Kind heran und zerschnitt blitzschnell dessen Fesseln. Er legte ihm den Finger auf den Mund und fragte ganz leise: „Kannst du mich verstehen?“

Der Kleine, mit seinem dreckigen Gesicht, hatte sofort begriffen und nickte. Leif bekam feuchte Augen, als er in die großen, verängstigten Kinderaugen blickte. Er hielt immer noch seinen Finger auf dem Mund des Kindes und zeigte ihm mit der anderen Hand den Weg den es nehmen sollte.

„Wenn ich dem dort auf die Schulter schlage, läufst du dort entlang“ – und schon war Leif wieder im Schatten verschwunden.

Alvitur konnte sich natürlich nicht mit den Händler einigen, aber das hatte er ja auch nie vorgehabt.

„Komm mein Freund“, sagte Leif, der nun wieder neben Alvitur stand, „da musst du dir wohl woanders einen neuen Diener kaufen. Lass uns gehen“ – und er schlug Alvitur auf die Schulter.

Wie verabredet, verschwand der kleine Junge wieselflink, im Schatten, zwischen den Hütten.

Ernirs Gegröle hatte aufgehört und Alvitur richtet noch ein paar umständliche Abschiedsworte an dem Sklavenhändler, dann wandte er sich auch zum Gehen. Ein schadenfrohes Grinsen lag auf seinem Gesicht, als er den Händler noch einmal ansprach: „Haben deine Freunde diesen kleinen Köter geholt? Ich sehe ihn gar nicht mehr.“ Der Kerl fuhr blitzschnell herum und suchte mit den Augen die Umgebung ab.

 

Alvitur hatte den Zeitpunkt so gewählt, dass sie ihr Unternehmen in der Dämmerung starteten. Nun war es schon fast dunkel und der Händler musste sich entscheiden, entweder den noch vorhandenen Sklaven zu bewachen oder den kleinen Jungen zu suchen. Er brüllte wir ein angeschossener Bär herum, aber das half auch nichts mehr und Alvitur spielte mit einem boshaften Grinsen noch den guten Freund. „He, mach dir doch nichts daraus. Er war doch sowieso zu nichts nützlich. Da habt ihr eine Sorge und einen Fressbeutel weniger.“

„Du hast Recht, aber meine Freunde werden mir ganz schön in den Hintern treten. Na und zu fressen hat der von uns sowieso nichts bekommen.“

Alvitur fragte noch: „Sag mal, wenn ich mal wieder hier bin, finde ich euch mit eurem Angebot auch wieder hier?“

„Ja, aber jetzt hau ich hier auch ab und setzte mich zu meinen Freunden. Muss nur dieses Klappergestell noch wegbringen“ – und der deutete mit dem Kopf auf den armen Mann am Balken.

Alvitur grinste befriedigt und zog Leif mit sich.

Sie hatten ihren Rückweg genau festgelegt und ein paar Hütten weiter trafen sie auf Ernir, der den kleinen Jungen auf dem Arm hielt.

Das Kind saß in Ernirs Armen und aß Fladenbrot mit Bissen, wie ein ausgehungerter Krieger.

Ernirs Gesicht zuckte, als er sich entrüstete: „Diese Hunde. Sind das überhaupt noch Menschen, das sie so mit einem Kind umgehen?“

„Kommt, wir schlafen auf dem Boot“, befahl Alvitur mit belegter Stimme und nahm Ernir das Kind aus dem Arm.

Der Kleine legte seine Arme um Alviturs Hals, schaute ihn mit großen, fragenden Augen an und flüsterte mit dünnem Stimmchen: „Bist du mein Vater?“

DAS SCHLAMMMONSTER

Hilda zog die Augenbrauen zusammen und machte ein grimmiges Gesicht, als sie die dicken Wolken sah, die den ganzen Himmel bedeckten. In den letzten Tagen hatte es oft geregnet und es blies ein kühler Wind von den hohen Bergen herunter. Die Sonne blinzelte nur noch kraftlos durch die dicken Wolken und Hilda konnte den Herbst regelrecht riechen, Feuchtigkeit, Moder- und Waldgeruch stiegen ihr in die Nase. Sie schaute gelangweilt den dicken Wolken nach, wie sie sich bewegten und ihre Form veränderten und war unschlüssig, was sie jetzt machen sollte. Sie hatte keine Lust auf das Stricken, Mehl mahlen oder irgendwelche anderen Arbeiten, die Mutter ihr übertragen wollte. Ihr war eher danach, es sich irgendwo gemütlich zu machen. Sie überlegte kurz und stopfte sich dann ein Säckchen voll, mit saftigen Äpfeln. Ihr ging durch den Kopf, sich irgendwo einen Platz zu suchen, wo sie es sich so richtig gut gehen lassen konnte. Die Zeit nach der Apfelernte war eigentlich für sie immer eine gute Zeit, den sie mochte die Äpfel sehr und es machte ihr fast nichts aus, den ganzen langen Tag nur Äpfel zu essen. Vor eine paar Tagen, als sie darüber mit der Mutter sprach, erzählte sie wieder die Geschichte von Alvitur, wie er die Apfelbäume nach Björkendal brachte. Sie hatte diese Geschichte schon oft gehört, aber Hilda fand sie immer wieder spannend. Sie mochte den Alvitur sehr. Er war klug, überhaupt der klügste Mann, den Björkendal hatte. Er hatte zwar nur ein Auge, aber dafür konnte er Hilda damit so ansehen, dass ihr die Haare im Nacken hoch standen, aber gleichzeitig wollte sie ihn auch immer umarmen.

„Erst hatten die Leute darüber gelacht, wie er hier mit den Apfelbäumen ankam“, erzählte die Mutter, „weil kaum einer verstand, welchen Nutzen die vielen Bäume dem Dorf bringen würden.“

Den Rest wusste ja Hilda aus eigenem Erleben, und sie mochte den großen Hain mit Apfelbäumen sehr. Im Frühjahr war es für sie wie in einem Traum, wenn sie dort, zwischen den Bäumen, spielte. Wenn die Apfelbäume blühten, war es ein richtiges Blütenmeer, aus weißrosa Blüten, in denen unendlich viele Bienen summten. Sie liebte es, in aller Stille dort zu sitzen und sich einen Kranz aus Löwenzahnblüten und Gänseblümchen zu flechten.

Einmal hatte Alvitur sie dabei überrascht. Ganz still und ohne ein Wort, setzte er sich zur ihr ins Gras und sah einfach nur zu und sie empfand seine Gegenwart fast wie einen Zauber. Für Hilda war er sowieso ein Zauberer, weil er alle Krankheiten heilen konnte. Dann korrigierte sie ihre Gedanken: „Na ja, Fifilla, mit ihren Kräutern half ihm wohl immer dabei.“

Aber Alvitur konnte auch wunderschöne Geschichten erzählen, von seinen Reisen, von fernen Ländern und auch von den Göttern, vom Fenriswolf und anderen Ungeheuern. Für Hilda und ihre Freunde waren seine Geschichten das Beste am ganzen Winter. Über die vielen Apfelbäume lachte heute niemand mehr in Björkendal, im Gegenteil, wenn die gemeinsame Apfelernte vorbei war, wurde aus einem großen Teil der Äpfel der Apfelwein hergestellt, den alle liebten. Die Erwachsenen waren manchmal richtig verrückt nach dem Wein und ihr Vater, handelte in Haithabu damit.

„Töchterchen, Hilda, was träumst du da an der Tür herum?“, rissen sie Mutters Worte aus ihren Gedanken.

„Äää, nichts, Mama. Ich hab grade überlegt, ob ich die anderen Mädels suchen gehe. Auf stricken habe ich wirklich keine Lust.“

Mutter Hilda lächelte. „Ja, geh nur und wenn dein Apfelsack leer ist, kannst du ja wieder nach Hause kommen.“

Hilda lief aber dann doch nicht, die anderen Mädchen suchen, sondern schlenderte immer weiter, in Richtung zum nördlichen Dorfrand. Wenig später kam sie in die Nähe der großen Eiche, die nicht weit von Alviturs Hütte stand und stutzte. Als sie sah, was sich dort am Fuße des großen Baumes abspielte, war ihr sofort klar, dass sie sich hier ihren Platz suchen würde. Etwa zehn Schweine wühlten dort, auf der Suche nach fetten Eicheln, den Boden um und quiekten dabei lautstark. Für Hilda war es schon immer spannend, Tiere zu beobachten, egal ob hier im Dorf oder im Wald. Sie fand es immer interessant, zu sehen, wie sie sich verhielten und warum. Die Schweine hier waren für Hilda eigentlich nichts Besonderes; tagtäglich rannten sie durch das Dorf, aber hier im Schlamm, beim Wühlen nach den Eicheln, das war schon spannender, weil sie sich gegenseitig bufften und schubsten.

Hilda grübelte kurz, dann beschloss sie, auf die Eiche zu klettern, um es sich auf einen dicken Ast bequem zu machen. Sie hängte sich ihren Apfelsack um den Hals und begann auf den Baum zu klettern. Hilda hatte keine Mühe damit, denn von einigen dicken Ästen hingen noch Seile herab, an denen die Kinder oft Kletterübungen machten, oder einfach nur daran schaukelten. Einen Moment später war sie im Baum und kletterte noch ein Stücken höher, bis sie eine richtig dicke Astgabel erreichte. Hier setzte sie sich dicht neben den Stamm und stellte fest, dass sie einen sehr gemütlichen Platz gefunden hatte. Von hier aus hatte sie auch einen guten Blick, weit über das Dorf, bis hin zum Fjord.

„Schade, dass keiner von meinen Freunden hier ist; zu zweit wäre das viel lustiger“, dachte sie. „Mit Falki könnte ich hier meinen Spaß haben, oder mit Sölvi über alles reden.“

Hilda lehnte sich gemütlich an den Stamm und schloss die Augen. Ohne hinzusehen fummelte sie aus ihrem Säckchen einen Apfel heraus und genoss die süßen Bissen. Mit einem Mal wurde sie unheimlich müde und sie dachte noch ganz kurz: „Müde, wie ein alter Hund“, ihr Kopf sank auf die Brust und da war sie auch schon eingeschlafen. Hildas Schlaf währte aber nur ganz kurz und sie erwachte erschrocken.

„Was war das denn?“ Sie schaute sich suchend in dem Astgewirr um, schaute nach oben in die Baumkrone, aber die alten Weiber waren weg. „Das ist wirklich komisch“, dachte sie. „Ich schlafe auf einem Baum ein und plötzlich sind da drei alte Frauen und wollen mir Angst machen.“ Sie lehnte sich noch einmal an den Stamm und versuchte sich an den Traum zu erinnern. „War das überhaupt ein Traum, oder saßen die alten Frauen hier im Baum?“, grübelte sie und schaut sich wieder um. „Was haben die mir für einen doofen Spruch in Ohr geraunt? Dann fielen ihr die Worte wieder ein:

Vom Baum wirst du fallen,

verspottet von allen.

Nimm hin deinen Schmerz

er stärket dein Herz.

„So einen Blödsinn, ich falle nicht vom Baum. Ach, das ist alles nur Quatsch, eben ein blöder Traum“, dachte sie und schaute nach unten, zu den schmatzenden Schweinen. Sie wollte ja eigentlich die Schweine beobachten und schaute jetzt nach einem besser geeigneten Platz in den Ästen, denn hier waren doch zu viele Äste und Blätter, die ihr die Sicht verdeckten.

Sie musste nicht lange suchen und entschied sich für einen riesigen Hauptast, der weit über die Schweine hinwegragte. Auf diesen Ast zu gelangen war schon etwas schwieriger, aber Hilda wäre ja nicht Hilda, wenn sie das nicht gewagt hätte. Sie hielt also ihr Apfelsäckchen mit den Zähnen fest und kletterte auf den ausladenden Ast.

„Wie ein Eichhörnchen müsste man auf diesem Ast lang laufen können“, dachte sie und schob sich Stück für Stück vorwärts. Dann erreichte sie eine Position, von der sie hervorragend alle Schweine im Blick hatte, die unter ihr im Schlamm wühlten. Sie band ihr Apfelsäckchen fest, legte sich bäuchlings auf den Ast und ließ Arme und Beine einfach herunterbaumeln. Ja, so ging es gut und sie freute sich über ihren Einfall. Die Schweine unter ihr grunzten, schmatzen und schubsten sich gegenseitig, und Hilda hörte deutlich, wie sie die Eicheln kauten. Hmmm, sie hatte sich ja auch etwas zum Kauen mitgenommen und fingerte an dem Säckchen herum, bis sie einen Apfel in der Hand hatte. Sie biss so herzhaft hinein, dass ihr der süße Saft gleich an den Mundwinkeln herunter lief.

„Eigentlich müssten alle Alvitur ständig dafür danken, dass er vor vielen Jahren die Apfelbäume nach Björkendal gebracht hatte“, ging es ihr durch den Kopf und sie biss gleich noch einmal kräftig in den Apfel.

Hilda knabberte nur das süße Fruchtfleisch ab und ließ den Apfelgriebsch einfach fallen. Sofort stürzten sich mehrere Schweine, mit gierigem Quieken, auf den leckeren Happen. Hilda lachte laut auf. Das gefiel ihr, wie die Schweine vor Vergnügen oder Neid um den Apfelgriebsch herumtobten und sich gegenseitig schubsten. Sie griff nach dem nächsten Apfel und ließ ihn schon nach wenigen Bissen in den Matsch fallen, und wieder folgte lautes Gequieke mit Schweinekeilerei. Das war ein Spaß und Hilda lachte laut auf. Sofort hatte sie den nächsten Apfel in der Hand, biss aber nur eine Hälfte ab und er landete wieder im Schlamm, zwischen den Schweinen. Sofort stürzte die, inzwischen richtig wild gewordene Schweinehorde auf den neuen Leckerbissen. Hilda lachte glucksend, denn die Wirkung ihrer Apfelstücke gefiel ihr ausgezeichnet und sie wollte gleich für noch mehr Gequieke sorgen. Laut kichernd warf sie die Apfelstücke nun mal hierhin und mal dorthin. Die Schweinehorde folgte prompt und stützte sich auf jedes Apfelstückchen, so dass der Schlamm am Fuße der Eiche hoch aufspritzte und das Gequieke der Schweine wohl im ganzen Dorf zu hören sein würde.

Hilda lachte übermütig. „Hier habt ihr noch einen Happen“ – und wieder flog ein Apfelstück in den Modder.

Mittlerweile wurde das Gequieke, der Schlamm verspritzenden Schweine, fast ohrenbetäubend, aber Hilda warf weitere Apfelstückchen hinunter. „Ja, die schmecken euch bestimmt besser, als die ollen Eicheln“, rief sie laut lachend.

Sie hatte auch schon einmal eine Eichel probiert, aber die hatte ihr überhaupt nicht geschmeckt. Die war so bitter, dass die Zunge davon richtig stumpf wurde und sie machte: „Brrr, bäää“, als sie daran dachte. Da waren die saftigen Äpfel schon viel besser und sie griff sich gleich zwei Stück, biss sie nur durch und warf die Hälften hinunter zu den Schweinen.

„Hui“, rief sie und kreischte vor Vergnügen, wie die Schweine, sich gegenseitig rammend und über die Äpfel herfielen. Manche Schweine nahmen sogar Anlauf, um andere weg zu schubsen. Die geschubsten Schweine quiekten jedes Mal so laut, als ginge es ihnen ans Leben.

Nach und nach warf sie immer mehr durchgebissene Äpfel unter die Schweine und kaute nur noch gelegentlich an einem Bissen. Der Spaß stachelte sie so an, dass sie sich vor Lachen schüttelte. Der Matsch unter ihr spritzte hoch auf, die Schweine quiekten und grunzten, so dass einige Leute aus dem Dorf näher kamen, weil diese Art von Lärm doch etwas absonderlich war und sie wissen wollten, was da los sei. Einen Apfel im Mund und in jeder Hand einen angebissenen Apfel, lag Hilda auf dem großen Ast und lachte. Als sie aber vor lauter Lachen auch noch mit den Füßen zu strampeln begann, verlor sie den Halt. Hilda war zwar ein geschicktes Mädchen, aber mit zwei Äpfeln in der Hand und einem im Mund gelang es ihr nicht mehr, sich auf dem Ast zu halten und plötzlich hing sie kopfüber, an einem Bein herunter.

 

Zu spät öffnete Hilda ihre Hände und ließ die Äpfel fallen. Als sie einen Schreckensschrei ausstieß, fiel auch der Apfel aus ihrem Mund, zwischen die quiekenden Schweine. Mittlerweile waren, durch den Lärm, so viele Leute angelockt, dass das halbe Dorf rund um die Eiche versammelt stand und dem ungewöhnlichen Treiben zusah.

„Schaut mal da oben, dort im Baum hängt Hilda“, rief Fegurd, die Frau vom Bogenbauer. Alle schauten zu Hilda hinauf und begannen zu laut lachen.

Hilda indes kämpfte verzweifelt, um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Sie hing immer noch kopfüber, mit nur einem Bein, am Ast. In ihrer Not griff sie mit beiden Händen nach dem festgebundenen Apfelsäckchen und wollte sich daran hoch ziehen, aber – ratsch; die Strippen rissen und Hilda fiel mit all ihren restlichen Äpfeln vom Baum. Mit einem Aufschrei, gefolgt von einem lauten Platschen, fiel Hilda in die Schweinesuhle. Es spritzte gewaltig, die Schweine quiekten ohrenbetäubend und rannten erschrocken, nach allen Seiten auseinander. Nach einem lauten Ooooh, das fast gleichzeitig aus allen Mündern kam, war Stille unter der Eiche. Nur patschende und schmatzende Schweine waren noch zu hören, die sich wieder über die restlichen Äpfel hermachten.

Nach und nach setzte verhaltenes Geraune und Gekicher ein. Bjolfur, der Bogenbauer, rief belustigt: „Bravo, Hilda, das war Klasse. Kannst du das noch mal machen?“

Alle lachten über Bjolfurs Scherz und sein Sohn Stufi quiekte mit heller Kinderstimme: „Papa, ich will auch mal, hebst du mich in den Baum?“

Unter den neugierigen Blicken der Björkendaler war es, als ob der Modder lebendig wurde und Hilda erhob sich aus dem Schlamm. Sie war über und über voller Modder, hustete, spuckte, wischte sich die Augen und schaute nach oben.

Der Schmerz lies Hilda keuchen und sie hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Als sie die lustige Menge um sich herumstehen sah, zog sie einen schmerzvollen Flunsch. Sie fand ihre Situation überhaupt nicht lustig und schon gar nicht, dass sie mit ihrem Missgeschick Mittelpunkt des Spotts der Leute wurde.

Da rief Stufi auch noch laut: „Hiiie, seht mal, da ist ein Schlammmonster!“

Ein anderer rief: „Das sieht eher wie ein Sumpftroll aus!“

Alle lachten auf und einer rief: „Ein Schlammmonster, uuuh, ein Ungeheuer, rennt um euer Leben!“

Dass Stufi, der Stummel, über sie lachte, machte Hilda erst richtig wütend und sie rannte auf ihn zu, streckte ihre schlammbeschmierten Hände wie Krallen aus und fletschte, gruselig stöhnend, die Zähne.

Schlagartig verging dem Jungen das Lachen. Er kreischte auf und versteckte sich ängstlich hinter seinem Vater.

Und wieder lachten die Leute schallend. Irgendwer rief: „Seht, das Monster will Kinder fressen, schnell weg von hier.“

An dieser Art Spott fand Hilda überhaupt keinen Gefallen mehr, denn ihr taten vom Sturz die Arme und der Bauch weh. Sie war von oben bis unten mit Modder bedeckt und ihr war zum Heulen zumute. Wegen des Spotts kam aber auch Wut in ihr hoch und sie stampfte mit dem Fuß auf, dass der Modder nur so spritzte. Sie rief mit weinerlicher Stimme: „Ihr seid ja alle gemein. Ich bin die Hilda und kein Schlammmonster!“

Hinter dem Rücken seines Vaters geschützt, meldete Stufig sich wieder: „Die Strumpfhilda sieht aber ganz anders aus. Die kenne ich nämlich.“

Wieder lachten alle. „Strumpfhilda?“, „das soll Strumpfhilda sein?“

Diesen Namen Strumpfhilda mochte Hilda schon gar nicht und sie wurde noch wütender, aber sie fühlte sich auch gleichzeitig so hilflos, dass ein Schluchtzer in ihrer Kehle hochstieg. In ihrer Hilflosigkeit und Wut griff sie in den mit Schweinekacke durchmischten Schlamm zu ihren Füßen und warf eine Handvoll nach der anderen in die lachende Menge. Fast wie ein kleiner Trost war es für Hilda, dass die Leute nun aufkreischten und das nun auch nicht mehr lustig fanden.

Als eine ihrer Matschladungen den kleinen Stufi traf, blieb eine Frau stehen und rief: „Schluss, Leute, das reicht. Hört auf sie zu ärgern. Seht ihr nicht, dass sie jetzt leidet?“

Es war Gerda, Hildas Tante. „Hilda, komm zu mir. Komm schon Kleine, das ist ja alles nicht so schlimm“ – und Gerda streckte ihre Arme nach Hilda aus.

Hilda schluchzte auf, stürzte sich in Gerdas Arme und drückte ihren Kopf ganz fest an sie. Gerdas Tochter, Elfa, stand daneben und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Gerda nahm Hilda an der Hand und zog sie mit. „Komm“, sagte sie, „das kriegen wir schon wieder hin. Du lebst ja noch und deine Arme sind auch noch dran.“ Gerda streichelte Hildas Kopf, dann sah sie an sich hinunter und entdeckte auf ihrem Kleid die moddrigen Spuren von Hildas Umarmung. Sie zog erst erschrocken die Augenbrauen nach oben, doch dann lachte sie wieder und rief den Leuten zu: „Es ist vorbei, geht nach Hause“ – und lief ihrer Tochter und Hilda hinterher.

Für Hilda wurde der Weg zur elterlichen Hütte unendlich lang, außerdem fand sie den Matsch an ihrem ganzen Körper eklig und dass es in ihren Schuhen bei jedem Schritt schmatzte, fand sie auch ganz schlimm. Überall standen gaffende Leute, die sich vor Lachen die Bäuche hielten.

Dass Gerda und Elfa sie jetzt an der Hand hielten, ließ Hilda ihr Leid leichter ertragen und ihre Wut verging langsam. An der Hütte angekommen, riss Gerda die Tür auf und rief hinein: „Hilda, komm mal raus, ich bringe dir Arbeit. Haha, und was für welche.“

Dann schaute sie etwas verdutzt, denn niemand antwortete. Es war niemand zu Hause. Die meisten Männer waren zum Fischen im Fjord und die große Hilda, war dann wohl im Langhaus.

Als Gerda und Elfa die kleine Hilda wieder weiter zogen, in Richtung Langhaus, konnte Hilda sich nicht mehr halten und begann hemmungslos zu weinen. Gerda tröstete sie so gut sie konnte: „Weine doch nicht mehr. Das lässt sich doch alles beheben. Du wäschst dich und alles ist wieder gut. Im Laufen drückte sie die aufgelöste Hilda immer wieder an sich.

Wie erwartet, war im Langhaus reges Treiben. Gleich neben dem Eingang stand die große Kornmühle, an der zwei Frauen arbeiteten. Dann sahen sie Hildas Mutter, die in der Nähe einer Feuerstelle Schafswolle zu Garn spann.

Als sie ihre Tochter an Gerdas Hand erblickte, sprang sie von ihrem Stuhl auf und rief: „Ach, du meine Güte, was ist denn das für ein Aufzug“, und lief ihnen entgegen.

„Meine kleine Hilda, was ist denn mit dir los? Wo bist du denn reingefallen?“

Sie drückte ihre Tochter an sich, als sie sah, wie jämmerlich Hilda dreinschaute. Die Tränen hatten helle Spuren in ihrem schlammbeschmierten Gesicht hinterlassen und sie schluchzte immer noch.

„Was hast du denn angestellt? Hast du dir wehgetan?“

Da mischte sich Gerda ein: „Das ist alles nicht so schlimm. Sie ist von der großen Eiche gefallen, in die Schweinesuhle, mitten zwischen die Schweine.“

Dann erzählte sie Hildas Mutter ganz kurz, was geschehen war und dass das halbe Dorf über Hildas Unglück amüsiert hatte.

Die anderen Frauen hatten mit ihren Arbeiten aufgehört, kamen neugierig näher und machten große Ohren, damit ihnen der neuste Dorfklatsch ja nicht entginge.

Mutter Hilda kniete sich vor ihrer Tochter nieder und drückte sie an ihre Brust: „Nun wird alles wieder gut, meine kleine Sonne. Du kannst gleich wieder lachen. Wir werden dich hier gemeinsam saubermachen und du wirst wieder wie neu aussehen.“