Geschichten aus der Anderswelt

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"Danke der Nachfrage, uns geht es gut. Die Kinder fühlen sich wohl in Berlin und auch Bernadette hat ihre schlimme Phase überstanden. Sie träumt nicht mehr und schläft jede Nacht durch. Hin und wieder wird sie nachts mal wach, so wie jedes Kind, und dann kommt sie zu uns ins Bett. Das ist soweit alles. Nur im April, da hatte sie es ganz schlimm, aber davon wissen Sie sicher."

Der alte Maschultke schwieg und trank von seiner Schorle. Dann stand er auf, ging zu einem alten Nussbaumsekretär, öffnete eine Lade und entnahm daraus einen vergilbten Umschlag. Vorsichtig, als könnte er etwas darin zerbrechen, glitten seine Finger in die knisternde Papierhülle und zogen behutsam ein Bündel Papiere hervor. Ich glaubte Zeitungsausschnitte zu erkennen und wurde in meiner Vermutung bestätigt. Ohne weitere Erklärungen legte Maschultke meiner Frau und mir die Presseausrisse auf den Tisch, lehnte sich in seinen Sessel zurück und atmete tief aus. Dann trank Maschultke nochmals, wischte sich über die Lippen und begann mit seiner Erzählung.

"Es war im Jahre Neunzehnhundertvierundvierzig, genau im April, der Achtzehnte, zwei Tage vor Führers Geburtstag. Die letzten Juden wurden aus Berlin deportiert, nach Auschwitz und Lublin-Madjanek, was uns - mir - damals aber nicht bekannt war. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, auch wenn es für Sie vielleicht wie eine abgedroschene Ausrede klingt. Umsiedlung in den Osten hieß es, aber bei der Geschwindigkeit, mit der die Russen auf Deutschland vorrückten haben wir uns gefragt, was es für einen Sinn macht noch umzusiedeln, wenn doch alles verloren geht. Wir glaubten um diese Zeit nicht mehr an den Endsieg. Ich war als Soldat bei der Luftverteidigung der Reichshauptstadt eingesetzt und erlebte Tag für Tag und Nacht um Nacht die fürchterlichen Bombenangriffe. Wenn Deutschland noch siegen wollte, dann musste es sich verdammt noch mal beeilen. Hier in der Cottbusser Straße fielen Bomben wie überall, aber unser Haus, das Haus meiner Eltern und Großeltern, blieb wie durch ein Wunder verschont. Ein paar kaputte Fensterscheiben, ein paar Dachpfannen gingen zu Bruch, aber das waren Lappalien gegen die Vernichtung ganzer Stadtteile. Ich habe die Menschen rennen sehen, wie Wahnsinnig schreiend vor Angst und Schmerzen, wenn sie Phosphor überschüttet durch die lichterloh brennenden Straßen taumelten. Zum Landwehrkanal wollten sie, aber die meisten brachen unterwegs zusammen und verbrannten elendig. Der Asphalt auf den Straßen verflüssigte sich ob der ungeheuren Hitze und regelrechte Teerbäche schossen die Straßen hinunter, schwappten über Gehsteige hinein in die Keller, wo Tausende auf ein Ende des Infernos hofften. Nach solchen Angriffen lag ein Gestank über der Stadt, als stünden sämtliche Krematorien der Welt an diesem Ort. Und irgendwie waren die deutschen Städte während des Krieges alles große Krematorien. Voll mit Menschen. Die Keller und Bunker wurden zu Öfen, die Bomben und der Phosphor zum ewigen Feuer. Es war eine fürchterliche Zeit. Zwischen den Angriffen mussten wir Flak-Soldaten Aufräum- und Rettungsdienste leisten, rund um die Uhr. Und dann machten fanatische und aufgehetzte Gruppen aus der Bevölkerung Jagd auf abgeschossene feindliche Flieger. Ich habe nie einen lebend gesehen, und wir haben Dutzende Bomber runtergeholt. Auch ihre Leichen wurden selten entdeckt, denn sie verbrannten mit jenen Menschen, denen sie zuvor den Tod brachten. Einige behaupteten und schwörten darauf, dass sie gesehen haben, wie die SS und Hitlerjugend die gefangenen Amis und Engländer gefesselt und lebend auf die Scheiterhaufen warfen, auf denen die ungezählten Leichen in der Stadt verbrannt wurden. Es war ein einziges Chaos. Na ja - und in diesem Chaos interessierte sich kaum jemand für den Abtransport von Juden, die noch versteckt im Stadtgebiet lebten. Es wurde ja nicht einfacher durch die täglichen Luftangriffe, im Gegenteil. Immer mehr Wohnraum wurde zerstört, immer weniger Verstecke standen zur Verfügung. Die Standgerichte jagten durch Berlin auf der Suche nach Opfern, die sie an der nächsten Ecke liquidieren konnten. Es sind damals viele Menschen auf diese Weise umgekommen. Ein falsches Wort, ein unbedachter Griff nach einem Stück Brot oder Wurst, schon wurden die Unglücklichen wegen Wehrkraftzersetzung oder Plünderns standrechtlich erschossen. Ich habe das alles erlebt - hautnah. Aber jetzt bin ich etwas vom Thema abgekommen doch ich denke, dass es wichtig ist die Hintergründe zu verstehen, warum das passierte, was geschah. Also im April sollten die letzten Transporte mit Juden aus Berlin in die Vernichtungslager durchgeführt werden, was hinsichtlich der katastrophalen Verkehrslage enorme Probleme verursachte. Das Haus, in dem Sie wohnen, gehörte einer Familie Maibaum. Herr Dr. Maibaum war ein angesehener und erfolgreicher Mediziner an der Berliner Charité und arbeitete mit dem alten Sauerbruch zusammen. Maibaum war sehr beliebt, nicht nur bei seinen Patienten, sondern bei allen Anwohnern in der Reichenberger Straße. Das änderte sich auch nicht, als die Nazis an die Macht kamen, wenngleich sich die Lebensbedingungen für Maibaum und seine Familie drastisch verschlechterten. Maibaum hatte eine Frau und vier Kinder. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Und noch eine Zugehfrau für den großen Haushalt. Dann verboten sie Maibaum die Klinik, sie warfen ihn hinaus. Selbst Sauerbruch konnte dagegen nichts tun. Eines Tages verschwand die Zugehfrau, ebenfalls eine Jüdin und wurde nie mehr gesehen. Sie ist in Treblinka ermordet worden. Die verbleibenden Juden organisierten ihren Lebensalltag so gut es ging, aber als immer mehr abgeholt wurden und für immer verschwanden, bekam es auch Maibaum mit der Angst. Seine Kinder durften keine Schule mehr besuchen, ihm wurde verboten zu praktizieren, dennoch tat er es heimlich und half dadurch einigen seiner Landsleute zu überleben. In dem Haus, in dem Sie ihre Wohnung haben, da versorgte Maibaum die vor Angst halb wahnsinnigen Menschen mit dem was er noch hatte. Inzwischen war es auch zu den letzten Berliner Juden durchgedrungen, was da im Osten mit ihnen geschah. Nur wir Deutschen, wir hatten von alledem keine Ahnung. Und wir wollten auch gar nichts wissen, denn man hatte genug mit sich selbst zu tun. Wie dem auch sei, bis zum April Neunzehnhundertvierundvierzig wurde Maibaum von den Nazis verschont, aus welchen Gründen auch immer. Gemunkelt wurde, ein hoher Nazi-Offizier hätte seine Hand über Maibaum gehalten, weil dieser seiner Frau bei einer komplizierten Geburt, bei der es auf Leben und Tod stand, geholfen hatte zu überleben. Ob an dieser Sache was dran ist, wurde nie geklärt. Es gibt auch keinen Menschen mehr, der darüber etwas weiß. Und diejenigen die noch Auskunft geben können, schweigen wie die Gräber."

Maschultke unterbrach seine Erzählung und nahm einen kräftigen Schluck Schorle. Wir saßen stocksteif auf dem Sofa und wagten kein Wort zu sagen, so sehr ging uns Maschultkes Schilderung unter die Haut. Wir fühlten uns ausgetrocknet, trauten uns aber nicht von unserer Erfrischung zu kosten, wollten wir doch endlich erfahren, was damals in unserer Wohnung geschah.

"Ja - wo war ich denn noch, ach - der alte Maibaum. Sehen Sie, in Ihrer Wohnung gab es zur damaligen Zeit ein Mädchenzimmer. Dieses Zimmer war durch eine schmale Tür zugänglich, die durch einen beweglichen Schrank geöffnet und geschlossen werden konnte. Natürlich hatte das Mädchenzimmer auch eine richtige Tür, aber die wurde nur vom Hausmädchen benutzt. Wenn Maibaums Kinder nicht schlafen konnten oder Angst hatten, so habe ich es nach Maibaums Tod von Luise, so hieß sie, erfahren, kamen die Kinder durch diese Geheimtür in Luises Kammer und in ihr Bett, wo sie Trost und einige Stunden Geborgenheit fanden. Luise wurde nach Kriegsende von russischen Soldaten mitgenommen. Ich habe sie nie wieder- gesehen. Was mit Maibaum und seiner Familie passierte; hier in den Zeitungsartikeln steht die offizielle Version oder vielmehr jene, die sich aus all den Informationen zusammen stricken ließ, die damals bekannt waren. In erster Linie ging es darum herauszufinden, ob es noch Hinterbliebene, Erben oder andere Angehörige von Maibaum gab, die Anspruch erheben konnten auf das Anwesen in der Reichenberger Straße. Aber es meldete sich niemand, und nach zehn Jahren wurde das Haus an einen Berliner Interessenten verkauft. Aber zurück zu Maibaum. Natürlich wussten er und seine Frau von den heimlichen Besuchen ihrer Kinder in Luises Zimmer und waren recht froh, dass Luise, eine Polendeutsche übrigens, sich so liebevoll um die gemeinsamen Kinder kümmerte. Das war das Einzige, was uns in dieser Zeit auffiel, dass ein deutsches Mädchen bei einer jüdischen Familie Hausdienst leistete. Irgendwie muss also etwas dran gewesen sein, dass da ein hohes Nazi-Tier seine Finger im Spiel hatte. Für Luise wurde die Maibaum-Familie zum Lebensinhalt, denn ihre eigenen Eltern wurden vor Kriegsbeginn von den Polen nahe Bromberg erschlagen. In Luises Zimmer, damaligem Zimmer, die Trennwand mit der Geheimtür wurde längst herausgerissen, lag im Eckbereich des Fensters zur Lausitzer Straße, da wo die Deckenbalken mit dem Dachgestühl zusammenlaufen, ein baubedingter Hohlraum, der weder von außen noch von innen eingesehen werden konnte. Durch einen Zufall müssen Maibaums Kinder auf dieses Versteck gestoßen sein. Um in diesen Hohlraum zu gelangen, musste lediglich eine Holzplatte unter dem Fenstereck aus dem Rahmen herausgenommen werden, und schon konnte man durch die Öffnung in die Nische hinter der Wand kriechen. Ein fabelhafter Unterschlupf, wie sich später herausstellte. Natürlich war es für sechs Personen nur ein Notbehelf, aber wenn die Gestapo die Maibaums abholen wollte bestand immer noch die Möglichkeit, sich in dieser Nische zu verbergen. Die Holzfüllung wurde von innen mit Riegeln versehen, so dass diese selbst einem Stiefeltritt standhalten würde. Bis auf Maibaums wohnte niemand mehr im Haus, alle jüdischen Bewohner waren bereits vor langer Zeit deportiert worden. Schließlich kamen auch keine Juden mehr zu Maibaum, da das viel zu gefährlich war. Maibaum selbst machte seine Runde als Arzt so gut er konnte, traf Überlebende in Kellern, im Grunewald, in Ruinen und Laubenkolonien. Dann jedoch musste Maibaum seine Tätigkeit ganz aufgeben und konnte mit seiner Familie nur noch auf ein Wunder und auf das baldige Ende des Krieges hoffen. Und dann kam jener Achtzehnte April Neunzehnhundertvierundvierzig. Der letzte Transport Berliner Juden sollte nach Auschwitz rollen. Alles was an Polizei und Sondereinsatzkommandos verfügbar war, durchkämmte das von Berlin, was noch übrig war. Auch die Reichenberger Straße, die in unmittelbarer Lage zum Landwehrkanal bei der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und bei den jüdischen Familien begehrt war. Die Gestapo wusste das und Maibaum hat es irgendwie auch erfahren. Jedenfalls stürmten die Nazis frühmorgens das Haus in der Reichenberger Straße, aber außer einer erschreckt wirkenden Luise, fanden sie niemanden vor. Alles durchsuchte diese Bande, alles stellten sie auf den Kopf, traten Türen ein, Schränke, zerschlugen Wände und Decken, aber jene kleine Holzfüllung in Luises Zimmer bemerkten sie nicht. Dann nahmen sie sich Luise vor. Mein Gott, was hat das Mädchen geheult. Sie muss vor Angst um ihr eigenes Leben fast durchgedreht sein. Und dann hat sie der Gestapo gesagt, dass sie nicht weiß wo die Maibaums sind, sie wäre eben selbst gekommen, was die Gestapo-Schergen bezeugen konnten, die vor dem Haus auf der Lauer lagen. Sie, Luise, wäre die letzten Tage bei ihrer Tante gewesen, die zu den Ausgebombten gehöre und überdies nicht mehr regelmäßig zu Maibaums gegangen, weil das viel zu gefährlich sei, wegen der Bombenangriffe. Ihr Jammern und Klagen muss dem diensthabenden Wachführer auf die Nerven gegangen sein, denn er befahl ihr zu verschwinden und sich nie mehr hier blicken zu lassen. Und dann gab er ihr Anweisung sich unverzüglich auf der nahegelegenen Dienststelle zu melden, um ihre Aussage zu machen. Luise musste ihm ihre Ausweise, ihr Arbeitsbuch und die Freistellungsbescheide aushändigen und konnte dann gehen. Schluchzend verließ sie das Haus an der Reichenberger Straße und lief durch die zerbombte Stadt zu ihrer Tante, die in Lichterfelde bei einer Freundin untergekommen war. Luise hat die Maibaum-Familie nie mehr wiedergesehen. Luise, ihre Tante und die Freundin der Tante verließen am nächsten Tag auf ihren Fahrrädern Berlin und fuhren aufs Land, zu einer entfernten Kusine, die in der Nähe von Großbeeren eine kleine Landwirtschaft betrieb. Dort blieben alle bis zum Jahr Neunzehnhundertfünfundvierzig. Als der russische Großangriff auf Berlin begann, verweilten sie zunächst noch auf dem Land, denn dort waren sie halbwegs sicher vor Bombenangriffen. Doch dann wurde es auch in Großbeeren ernst und Ironie des Schicksals, Luise, ihre Tante und die Freundin der Tante, flüchteten zurück nach Berlin, das rundum von der Roten Armee eingeschlossen war. Es gab kein Entrinnen mehr. Auf ihrer Flucht kamen die Frauen an unserer Flakbatterie vorbei, als ein neuer Luftangriff gemeldet wurde. Dadurch sind Luise und ich uns ein wenig nähergekommen, und sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Meine jetzige Frau, die Martha, habe ich nach Rückkehr aus der Gefangenschaft Neunzehnhundertzweiundfünfzig kennen gelernt. Eine tragische Zeit. Nach dem Angriff wurde Luise aufgegriffen und einem Feldlazarett zugeteilt. Niemand überprüfte ihre Personalien, denn Tante und Freundin kamen bei diesem Angriff ums Leben. - Den Ausweis verloren, verbrannt, was weiß ich. So kam mancher zu einer neuen Identität. Luise wurde nach der Kapitulation mit vielen anderen Rot-Kreuz-Helferinnen von den Russen weggebracht. Es gibt bis heute keinen Hinweis auf ihren Verbleib. Wahrscheinlich liegt sie mit all den anderen in irgendeinem Massengrab. Was die russischen Soldaten mit den Rot-Kreuz-Schwestern und vielen anderen Frauen und Mädchen gemacht haben, brauche ich Ihnen wohl nicht extra erklären. Es war grauenhaft, das Schreien der Frauen und Mädchen klingt mir noch in den Ohren. Überall in den Straßen machten die Russen Jagd auf sie. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, will ich auch nicht. Dann haben sie mich und meine Kameraden kassiert. Ab ging es nach Osten, in den Ural. Erzbergwerk. Sieben lange Jahre."

 

Maschultke stand auf und ging zum Fenster, öffnete es weit und ließ die angenehm frische Abendluft in das Wohnzimmer. Wir hockten wie versteinert auf dem Sofa und waren nicht fähig ein Wort zu sagen.

"Na - nun trinken Sie doch Ihre Schorle. Die wird ja sonst schal. Oder möchten Sie lieber was anderes?"

"Wie - was - oh ja - ich - wir meinen nein, es ist schon gut, wir trinken die Schorle - danke der Nachfrage. Danke" stotterte meine Frau verlegen.

"Bleiben nur noch die Maibaums. Was geschah mit der Familie Maibaum? Stellen Sie sich vor, sie müssten einen ganzen Tag in einem Verschlag zubringen, einer licht- und einer schlecht belüfteten Nische, eingepfercht zu sechst, gepeinigt von Todesangst, immer damit rechnend, doch noch entdeckt zu werden. Diese Angst, die Menschen in den Wahnsinn treibt, die um ihr Leben zitternden Kinder. Was glauben Sie, wie es in der Enge dieses Gefängnisses zugegangen ist? Grauenvoll diese Vorstellung, einfach grauenvoll. Und dann ist die Gestapo mit ihrem kompletten Verein abgerückt. Unverrichteterdinge. So ein Aufmarsch bleibt ja nicht verborgen. Diese Strolche sind abgehauen ohne die Maibaums. Das ist nachgewiesen und schriftlich festgehalten. Die Familie Maibaum schien gerettet. Aber nun drohte eine andere Gefahr, nämlich die der Wohnraumbewirtschaftung. Ausgebombte Familien würden in das nun frei gewordene Anwesen der Maibaums einrücken und irgendwo mussten Maibaums bleiben. Doch daran dachte die gepeinigte Familie nicht. Sie dankte ihrem Gott für die Rettung. Und dann geschah etwas, dass sich niemand bis zum heutigen Tag erklären kann. Ein Bergungstrupp kam die Reichenberger Straße entlang, Soldaten, die nach Verschütteten suchten. Mit speziellem Gerät und mit Suchhunden. Plötzlich springt aus einem Kanalrohr nahe dem Landwehrkanal eine Ratte und rennt in das Maibaum-Haus. Ehe sich der Hundeführer versieht, reißt sich ein Schäferhund los und jagt der Ratte hinterher. Ein Tumult geht durch das Haus, der wie entfesselt bellende Hund, der rufende und Kommandos brüllende Soldat, und eine Gruppe feixender und lachender Kameraden, die dem Hundeführer hinterher stolperten, hinein in das Maibaum-Haus. Ob Schicksal oder Zufall, Bestimmung oder Tragik, der Hund rannte hinauf genau in die Wohnung, in der Sie jetzt wohnen und in der sich damals die Maibaum-Familie versteckte. Und war es nun wieder Schicksal, Bestimmung oder einfach der Instinkt des Tieres Verschüttete zu suchen und zu finden; der Hund kratzte und biss an der Holzplatte, sprang dagegen und war nicht zu beruhigen. Die nachfolgenden Soldaten waren ratlos, allein der Hund ließ nicht locker. Selbstverständlich hörten die Maibaums den Lärm, den unnachgiebigen Hund und die Worte der Soldaten. Aber noch einmal gewährte das Schicksal den Maibaums eine Frist, denn die Soldaten rückten ab und verließen die Wohnung. Schließlich waren sie angetreten um Verschüttete zu bergen, nicht aber um Ratten zu jagen. Als die Männer das Haus verließen wurden sie vom hinzukommenden Offizier in Empfang genommen, der sich in Begleitung eines Gestapo Mannes befand. Es hat wüste Beschimpfungen gegeben und die Androhung von Kriegsgericht wegen Plünderns, aber dann konnten die Soldaten das Geschehen aufklären und den Sachverhalt erläutern, dass nämlich der Hund einer Ratte nach sei, genau in das Maibaum-Haus bis in die oberste Etage ins Eckzimmer. Dort habe er sich vor eine Holzfüllung gestellt, hinter der die Ratte verschwunden sein muss und wie von Sinnen gebellt und an dem Holz herumgekratzt. Aber was soll hinter einer Holzverkleidung schon sein außer Mauerwerk. Und die Ratte hatten sie nicht mehr gesehen. So sei es gewesen. Plötzlich wurde der Gestapo-Mann hellhörig, schrie etwas von jüdischen Saboteuren die sich in dem Haus versteckt hielten und beorderte den Zug nochmals in die Maibaumsche Wohnung. Dann begannen die Männer die Holzverkleidung aufzureißen und fanden das Versteck mit der Maibaum-Familie. Noch am gleichen Tag gingen sie mit dem letzten Transport nach Auschwitz, wo sich ihre Spur verliert."

Herr Maschultke schwieg einen Moment und holte tief Luft.

"Das ist die Geschichte des Hauses in der Reichenberger Straße, die Geschichte der Familie Maibaum und einiger Personen, die mit dieser Familie irgendwie zu tun hatten. Die Gesichter, die Ihre Tochter im Traum sieht, das sind die angsterfüllten Antlitze der Kinder und ihrer Eltern, die ihre Todesangst nicht heraus schreien durften, denen aber letztlich ihr Schweigen in dieser Wandnische zum tödlichen Verhängnis wurde. Ihre Angst hat sich in den Balken, den Wänden und Decken dieses Hauses festgesetzt. Und ich sage Ihnen, Sie sollten aus diesem Haus ausziehen. Es ist besser für Sie und für Ihre Kinder. Das ist alles, was ich Ihnen dazu noch sagen kann. Es ist spät geworden, Zeit zum Schlafen, ich habe einen langen Tag morgen. Eine gute Nacht und kommen Sie gut nach Hause, wo immer das auch sein möge."

"Auf Wiedersehen - Herr Maschultke - auf Wiedersehen" stammelten wir bruchstückweise unseren Abschiedsgruß. Die Beine waren eingeschlafen, und in unseren Köpfen drehte sich die Geschichte einer Stadt, einer Familie, und wir hatten nur noch einen Wunsch, so schnell wie möglich in unsere Wohnung zu kommen zu unseren Kindern. Die Schorle schmeckte schal und bitter, ein Geruch von Moder hing in der Luft, und erst an der frischen Frühlingsluft fanden wir zu unserer vertrauten Gemeinsamkeit zurück. Meine Frau und ich sagten kein Wort. Stumm schritten wir rasch zur Wohnung in der Reichenberger Straße. Graumetallisch schimmerte das Wasser des Landwehrkanals, aus dessen Fluten vor vielen Jahrzehnten das Schicksal den Sendboten des Todes in Gestalt einer Ratte in das Haus der Familie Maibaum sandte. Noch im gleichen Monat bat ich meine Firma um Versetzung in die Bundesrepublik, und schon im Juni desselben Jahres zogen wir fort aus Berlin, der Reichenberger Straße und aus dem Haus, das einstmals der Familie Maibaum gehörte, einer jüdischen Berliner Familie, die für viele Menschen so viel getan hat, für sich jedoch keinen Weg zur Rettung fand. Wir haben die Reichenberger Straße nie mehr wieder gesehen.

Die Geister treten aus ihrem Schatten heraus und kommen näher.

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