Fahr Far Away: Mit dem Fahrrad von Alaska bis Feuerland

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Unverzichtbares Utensil für Volkers Höhenprofile.

Woher hattet Ihr die Höhendiagramme?

Aus dem Internet unter www.perfilderuta.es. Da gibt es zwei Seiten. Eine funktionierte, die andere nicht. Unser absolviertes Höhenprofil zeichnete ich (Volker) Abend für Abend in unser Reisetagebuch.

Auf wie viele Höhenmeter nur bergauf kamt Ihr am Ende?

Auf 250.000, also auf 250 Kilometer.

Für den Fall, dass kein Brennholz aufzutreiben war, hattet Ihr einen Campingkocher dabei.

Sogar zwei, einen mit Gas, einen mit Benzin gefüllt.

Als Reserve, wenn einer ausfiel?

Eher aus Kostengründen und weil nicht überall Gas zu bekommen war. Eine 400-Gramm-Gasfüllung kostete acht Euro, die gleiche Menge Benzin 30 Cent.

Wo war es mit dem Brennholz schwierig?

In ganz Peru. Oder auch in Kanada. Da hätte es zwar reichlich davon gegeben, war aber zu nass und qualmte nur. In den Wüstengegenden Argentiniens war es dagegen spitze: viel trockenes Brennholz, ideal.

War alles für die Nacht erledigt, blieb womöglich auch viel Zeit, um beispielsweise in einem Buch zu lesen. Doch Ihr hattet keines dabei. Warum nicht?

Aus Gewichtsgründen. Jedes Gramm wog bei dieser Tour doppelt schwer. Es wäre ganz einfach zu belastend gewesen.

Ihr hättet also schon ganz gerne das eine oder andere Buch dabei gehabt?

Ja und nein. Auf der einen Seite verspürten wir schon ab und zu die Lust, zu lesen. Allerdings gingen wir während der Tour meist früh schlafen, weil wir von den vielen Eindrücken und den körperlichen Belastungen immer ziemlich müde waren. Wir konnten jedenfalls fast immer zwölf Stunden ganz gut durchschlafen (beide schmunzeln).

Der dicke Radführer war der einzige „Literatur“-Luxus, den Ihr im Gepäck hattet?


Auf dem Weg nach Sorata in den Anden, Bolivien.

Wir hatten auch einige Reiseführer und eine Menge Landkarten dabei. Wenn wir eine Region hinter uns gelassen hatten, rissen wir die entsprechenden Seiten raus – einfach, damit wir wieder ein paar Gramm weniger mitschleppen mussten. Wir sind da zwar nicht so extrem drauf wie viele andere, die wirklich jedes unnötige Gramm sparen. Aber irgendwann spürt man halt dann doch alles, was zu viel im Gepäck ist. Mit einem iPad wäre es leicht, sich immer wieder neuen Lesestoff zu besorgen – aber wir haben’s nicht so mit den technischen Dingen.

Ihr wart ausrüstungstechnisch also minimalistisch unterwegs. Was musste dennoch sein?

Für jeden ein MP3-Player. Musik war wichtig, vor allem, wenn wir gefühlte Ewigkeiten durch eintönige Landschaften radelten. Sie war auch nötig, um körperliche Erschöpfungszustände zu überwinden oder sich bei langen Berganstiegen zu puschen. Beim Mungo Jerry-Song „In the Summertime“ hab ich Petra meist nur noch von hinten gesehen.

Vor der Reise hattet Ihr überlegt, einen Campinghocker als echten Luxusartikel mitzuschleppen.

Den hatten wir zunächst tatsächlich dabei, aber nur für die Zeit in Tschechien und in Deutschland. In Nordamerika war er nicht mehr vonnöten, da die Campingplätze dort sehr gut ausgerüstet sind. Darum blieb der Hocker bei Petras Eltern.

Auf Empfehlung der Ranger hattet Ihr in Alaska das unverzichtbare Bärenspray erworben.

Das ist dort tatsächlich unerlässlich. Wir hatten es am Lenker befestigt. Im Notfall wäre die 225-Gramm-Flasche in acht Sekunden leer. Dafür wirke das Spray laut Hersteller bis zu sechs Meter weit.

Ihr habt sie noch gefüllt mit nach Hause gebracht.

Sie kam zum Glück nicht zum Einsatz.


Vergleich US-amerikanisches Bärenspray (links), daneben deutsches Pfefferspray – beides kam auf der Panamericana nicht zum Einsatz.

Bären sind Euch aber schon begegnet?

Wir haben 24 gesehen: Einen Grizzly, der Rest waren die nicht so aggressiven Schwarzbären. Auch in Gegenden, in denen wir diese Tiere nicht vermutet hätten, zum Beispiel auf Weizenfeldern in Montana (USA).

Erzählt mehr von den Begegnungen mit den Bären. Hattet Ihr Bedenken, dass es auch mal gefährlich werden könnte?

Wir haben viel nachgefragt und uns erkundigt, wie es mit den Bären aussieht. In ganz Nordamerika übernachteten wir stets auf Campingplätzen, einfach auch aus Sicherheitsgründen. Volkers Gedanke: Wenn dort ein Bär auftauchen würde, hätte er mehr Auswahl. Die Chance, dass er sich unter 30 Zelten ausgerechnet unseres aussucht, ist freilich geringer als hätten wir irgendwo in der Wildnis ein einzelnes Zelt stehen. Da würde er definitiv dieses eine nehmen.

Mehrfach rieten uns Einheimische vom Übernachten in der Wildnis ab, da haben wir auch so einige Storys gehört. Aufgrund der jüngsten Vorkommnisse waren wir sehr vorsichtig, auch wenn die „Chance“, von einem Auto überfahren zu werden, weitaus größer ist: Eine ältere Dame wurde in Kanada in ihrem eigenen Garten von einem Schwarzbären angefallen und getötet. Das gleiche Schicksal ereilte einen Wanderer im Yellowstone-Nationalpark bei der Begegnung mit einem Grizzly. Und ein Ranger in Kanada bemerkte einen Bären in etwa 500 Metern Entfernung. Wie im Lehrbuch machte er alles richtig und mit einer Signalpfeife auf sich aufmerksam, damit er früh genug von diesem mächtigen Tier wahrgenommen würde, und sich dieser nicht in seinem Territorialverhalten gestört fühlte. Dennoch griff der Bär an, und der Ranger musste ihn erschießen. Bei unserer ersten Bärensichtung am Straßenrand haben wir ein Wohnmobil gestoppt, um uns ungesehen auf der Rückseite des Fahrzeugs an diesem mächtigen Tier vorbei zu mogeln.

Einmal habt Ihr in einem Lkw übernachtet.

Im kleinen Ort Mendenhall im kanadischen Yukon Territory fragten wir in „Irenes Restaurant“ nach einem Platz für unser Zelt. Irene meinte, dass dies zurzeit zu gefährlich sei, da eine Grizzlymutter mit zwei Jungen in der Gegend unterwegs sei. Sie würde uns aber einen kostenlosen Van zur Verfügung stellen, in dem wir sicher übernachten könnten. Ich (Volker) freute mich schon, nach zwei Monaten im Zelt, auf den Luxus und die Annehmlichkeiten eines Wohnmobils, und malte mir dies in den schönsten Farben aus. Stattdessen gab’s einen heruntergekommenen Lieferwagen, der auf einem Schrottplatz vor sich hin gammelte. Im Innenraum befand sich viel Unrat und eine alte Matratze, auf der wir uns frustriert breitmachen durften.

Gab es „gefährliche“ Nächte, in denen Euch in Eurem Zelt nicht wohl war?

Kaum. In Peru gab es mal eine Nacht, in der ich (Petra) stundenlang wach und mit offenen Ohren dagesessen bin, ob wer kommt. Denn da waren am Abend mehrere Autos mit seltsamen Gestalten bedrohlich nah an uns herangefahren. Das war eher unheimlich.


Bestens geschützt: Perfekter Zeltplatz im Hochland, Peru.

Infopoint: Wenn einer eine (lange) Reise tut

Wenn einer eine Reise tut … – auch über einen längeren Zeitraum, und seine Wohnung aufrecht hält, muss er sich nicht extra abmelden. Wird die Wohnung aufgelöst, braucht die Gemeinde (Stadt) eine Anschrift im Ausland – bei einem Weltumsegler den ersten Hafen, in dem er startet.

Wenn jemand beruflich unterwegs ist, kommt es wieder darauf an, ob die Wohnung bestehen bleibt oder nicht. Ein Soldat, der für ein Jahr in den Auslandseinsatz geht und seine Wohnung behält, muss sich nicht abmelden. Geht der Soldat für drei Jahre weg, die Wohnung bleibt ebenfalls bestehen, müsste er sich jedoch abmelden. Laut Gesetz muss die Wohnung bewohnt bleiben, drei Jahre sind in diesem Fall zu lange.

Man kann auch zwei Hauptwohnsitze haben, einen in Deutschland, den anderen beispielsweise in Österreich (weil man dort beruflich beschäftigt ist). Das geht die Gemeinde meldetechnisch nichts an.

Wenn das Amt feststellt, dass es sich um eine Scheinwohnung handelt, weil derjenige beispielsweise bei der Mutter angemeldet ist, muss er sich abmelden. Bei Scheinwohnungen wird grundsätzlich nachgeforscht, zur Not auch mithilfe der Polizei. Das Meldegesetz macht da ganz klare Vorschriften.

Fakt ist aber auch, dass es in vielen Fällen auch am Ermessen der Behörde liegt, ob sich jemand abmelden muss oder nicht. Ein entsprechender Spielraum ist diesbezüglich meist gegeben.

Quelle: Stadt Bad Reichenhall

Petra und Volker Braun besitzen ein Haus. Sie waren rund 20 Monate am Stück unterwegs und meldeten sich nicht ab. In der Zeit ihrer Abwesenheit bewohnte ein ehemaliger Arbeitskollege von Petra das Haus. Er hielt es sozusagen in Schuss. Das Hausrecht übertrugen die Brauns per schriftlicher Vollmacht einem guten Freund. Er wäre eingeschritten, hätte es gravierende Probleme gegeben oder wären wichtige Dinge – beispielsweise mit den Nachbarn – zu regeln gewesen.

 


Guanajuato, Mexiko.

2. Etappe: Freundlich zurück auf die Autobahn

Führt Ihr darüber Buch, wie viele Länder Ihr bereist habt und hinter denen Ihr sozusagen ein Häkchen machen könnt?

Nein, um Himmels Willen. Das ist uns völlig egal. Es wäre eine schreckliche Vorstellung, hätten wir den Drang, darüber Buch zu führen. Wir sind eher auf die Kilometer stolz, die wir auf all unseren Reisen bislang hinter uns gelassen haben, aber nicht, weil wir besonders viele Länder bereisten.

Wie viele waren es denn bislang?

42.

Wo hat es Euch denn überhaupt nicht gefallen.

In Mexiko.

Warum?

Dort herrschte irrsinnig viel Verkehr. Das hat uns fast erschlagen, weil wir aus Alaska, Kanada und den USA viel Einsamkeit gewohnt waren. Dann kam dieser Moloch, fürchterlich. So viele Autos, so viele Menschen, enge, schlechte Straßen, rücksichtslose Busfahrer. Wir benutzten verbotenerweise öfter mal die Autobahn, weil auf denen aufgrund der Maut fast nichts los war. Zweimal komplimentierte uns die Polizei wieder runter, sehr freundlich, ohne Strafe. Wir sind dann hinter dem nächsten Ort wieder „freundlich“ auf die Autobahn zurückgekehrt. Dort war es einfach sicherer.

Und Ihr hattet keine Angst, wieder „erwischt“ zu werden und dann womöglich einer Strafe nicht mehr zu entkommen?

Nein, die Polizei war an sich ganz nett und ist wohl toleranter als bei uns in Deutschland. Wir machten in Zentralmexiko einmal eine Pause im Schatten einer Brücke, als sich ein Streifenwagen näherte. Nach kurzem Smalltalk mit vielen Verständigungsproblemen forderten uns die Polizisten auf, hier zu warten – sie seien in einer Stunde zurück. Wir wussten nicht, was wir tun sollten und was jetzt wohl als nächstes käme. Die beiden waren im nächsten Ort einkaufen, kamen wieder und überreichten uns einen ganzen Sack voll mexikanischer Energieriegel – unter anderem mit Honig überzogene Nüsse. Bevor sie wieder abrauschten, prosteten wir uns noch mit einer Cola zu, dann wurden wir wieder mit den besten Wünschen auf die Strecke geschickt.


Freundliche Ordnungshüter: Pickninck mit Polizisten in Mexiko.

Wie lange „quälte“ Euch das ländliche Mexiko?

Da es leider die längste Länderstrecke war, rund 4.500 Kilometer, fast drei Monate. Es war dort mit wenigen Ausnahmen und einigen Regionen im Süden monoton und wenig aufregend. Ein für uns unattraktives Reiseland.

Einige Städte Mexikos beeindruckten Euch jedoch.


Buntes Würfelspiel: Guanajuato, Mexiko.

Die 1.500 Kilometer lange Baja California, eine Wüstenlandschaft mit riesigen Kakteen im Norden, hat uns sehr gut gefallen. Aber als wir wieder auf dem Land waren, gab es in erster Linie monotone Überlandstrecken ohne irgendwelche Höhepunkte zu bewältigen. Einige Kolonialstädte präsentierten sich uns allerdings konträr zu den Gebieten dazwischen, absolut einzigartig: Guanajuato beispielsweise, in Zentralmexiko, auf 2.000 Metern gelegen. Ein sagenhafter Augenschmaus, so strahlend, so leuchtend, in allen Farben. Die Häuser stehen dicht an dicht, dazwischen atmosphärisch einzigartige Plazas, eine richtig schöne alte Kolonialstadt. Um das Verkehrsproblem der Stadt zu lösen, wurden 1965 ein trockenes Flussbett sowie einige Bergwerkschächte in ein Fahrzeugtunnelsystem umgewandelt. Aufgrund der starken Güsse in der Regenzeit werden die unterirdischen Verkehrsadern der Stadt jedoch derart überschwemmt, dass es immer wieder zum Verkehrschaos kommt. Beeindruckend war das Mumien-Museum. Darin werden über 100 mumifizierte Körper gezeigt. Sie wurden bei der Erweiterung des Friedhofes ab dem Jahre 1865 gefunden und werden hier aufbewahrt. Der trockene, mineralische Boden und das semiaride Klima (lateinisch aridus = trocken, dürr/​Anm. d. Autors) verhinderten die Verwesung der Leichen.

Zeitfahren: Don Quijote mit Knüppel

Mit der Einreise nach Mexiko (bei Tijuana) trifft uns fast der Schlag: Die Straßen sind eng, der Verkehr erdrückend. Die Fahrer versuchen, das Letzte aus ihren meist verbeulten und wenig fahrtüchtig wirkenden Kisten herauszuholen. Wir sind verzweifelt: Fahren wir ganz rechts, ermutigt das den Fahrer, ungebremst an uns vorbei zu donnern, um uns auch noch der letzten Zentimeter zur brüchigen Fahrbahnkante zu berauben. Das Motto lautet also: Möglichst weit in der Straßenmitte halten und die Pkw und Sattelschlepper damit zum Bremsen nötigen, um im Zweifelsfall den erkämpften Raum zum Straßenrand als Fluchtweg zu nutzen. Die Anspannung ist enorm. Zwischenzeitlich weichen wir auf sandige Trampelpfade neben dem Asphalt aus und arbeiten uns damit im Fußgängertempo vorwärts. Wie sollen wir so jemals die 4.500 Kilometer durch Mexiko bewältigen?

Ich (Volker) besorgte mir einen Knüppel und versuchte damit – und lächerlichen Drohgebärden –, die zu dicht auffahrenden Autolenker, die ich im Rückspiegel beobachtete, zu einer defensiveren Fahrweise zu bewegen. Ich fühlte mich wie Don Quijote im Kampf gegen Windmühlen. In jedem Dorf wanderte der Knüppel von der linken in die rechte Hand, denn mexikanische Hunde lieben Radler und nahmen grundsätzlich und dauerkläffend die Verfolgung auf. Petra versuchte, die Vierbeiner mit einer Reitgerte am Lenker auf Abstand zu halten.

Erst nach 350 Kilometern war der Verkehrsalbtraum fürs erste beendet und wir konnten die Baja mit all ihren Schönheiten so richtig genießen.

Bearbeitet aus Volkers Reisetagebuch


Jetzt reicht’s: Das ewige Gekläffe war irgendwann zu viel.


Einfach nur fantastisch: Laguna Verde, Bolivien.

3. Etappe: Der Weg ist das Erleben

Wie viel Sightseeing gönnt Ihr Euch auf Euren Reisen?

Ehrlich gesagt gehört das nicht zu unseren vorrangigsten Zielen. Es ist nicht unser Bestreben, systematisch die Höhepunkte eines Landes abzugrasen. Bei der letzten Tour haben wir sogar Machu Picchu (Ruinenstadt in Peru/​Anm. des Autors), also den Klassiker schlechthin, ausgelassen.

Weil Ihr den großen Touristenströmen aus dem Weg gehen wolltet?

Uns fiel das nicht schwer: Weil uns Kleinigkeiten viel wichtiger sind, die Begegnungen unterwegs, zu sehen, wie die Menschen in ihren Dörfern leben. In jedem Reiseführer steht, dass man Machu Picchu gesehen haben muss, wenn man schon in Peru ist. Wir verspürten dieses Verlangen nicht.

Dennoch habt Ihr Euch auch zahlreiche Abstecher „geleistet“, um bestimmte Dinge zu sehen.

Dazu gehörten aber nicht die großen Sehenswürdigkeiten. Sie reizten uns einfach nicht so sehr. Sie waren den zusätzlichen Aufwand oder einen großen Umweg oft nicht wert. Wir waren mit unseren Rädern im Vergleich zu den geführten Touristentouren wie schon berichtet relativ langsam unterwegs. Wir erlebten dadurch schon beim Fahren unglaublich viel. Deshalb mussten wir keinen 400-Kilometer-Umweg machen, um beispielsweise den Kondor im Colca-Canyon Perus zu sehen. Es musste auch nicht die große berühmte Tempelanlage sein, zu der alle rennen, wenn wir eine kleine, weniger bekannte „erleben“ konnten – die womöglich sogar noch viel schöner, ursprünglicher ist. Dort, wo alle hingehen, muss es nicht unbedingt faszinierender sein.


Zeltmöglichkeiten im Überfluss: In den Bergen Perus.

Das heißt, Ihr wart auch keiner Reizüberflutung ausgesetzt.

Die Dinge, die auf uns wirkten, wirkten meist ausgewogen. Indien entspricht eher einer Reizüberflutung. Dort ist die Summe des Sehens, Hörens, Riechens und Schmeckens, also letztlich des Erlebens, oft nur schwer auszuhalten und dann auch zu verarbeiten.

Johann Wolfgang von Goethe sagte einmal: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“. Der Spagat zum Radfahren ist diesbezüglich also nicht weit.

Wir hatten permanent Höhepunkte: das Radfahren in der Natur, an der frischen Luft, das waren Highlights genug. Da brauchten wir keine Menschenmassen vor irgendeinem Tempel. Wir lieben die Natur, die Berge, Seen, Flüsse, weite Flächen. Gebäude begeistern uns weniger. Unser Unterwegssein war Erleben und Erfahrung genug, und wir bekamen das auf unserer Strecke von A nach B obendrein auch noch kostenlos. Der Weg, unser Weg, war sozusagen das Erleben.

Welche Sehenswürdigkeit entlockte Euch dennoch einen Abstecher, einen Umweg?

In den USA, es war zu heiß und wir waren gut im Plan, hatten Zeit. Wir sind nach Colorado runter gefahren, haben uns ein paar Sachen angeschaut – aber auch wieder eher Naturphänomene wie den Canyonlands-Nationalpark Utah mit dem Colorado und dem Green River oder den Great Sand Dunes-Nationalpark Colorado. Diese Dinge faszinieren uns mehr als Ausgrabungsstätten.


Verschwenderische Farbenspiele im Yellowstone-Nationalpark, USA.

Wie dürfen sich die Leserinnen und Leser Euren Zeitplan vorstellen?

Der existierte nur im Gedächtnis. Wir radelten im Schnitt 70 Kilometer pro Tag. Manchmal waren es nur 40 Kilometer, wenn wir zwischendrin einen schönen Platz zum Bleiben entdeckt hatten, dann auch mal 120 Kilometer. Wir entwickelten rasch ein gutes Gefühl, wie wir dran waren – meistens schneller als gedacht oder „geplant“. Wir hatten auch im Kopf, wo gerade Regenzeit herrschte oder wo es richtig heiß werden konnte. Darauf stimmten wir unsere Route beziehungsweise die zeitliche Abfolge ab.

Wie sahen Eure Rekordetappen aus?

Die längste Tagesetappe bewältigten wir in Kanada, am 8. Juli 2011, von Houston zum Fraser Lake: 166 Kilometer mit 1.150 Höhenmetern. Unsere längste Tagesetappe aller Reisen hatten wir am 23. Juni 2006 im Norden Norwegens: 182 Kilometer.

Um Honduras habt Ihr einen großen Bogen gemacht und den zentralamerikanischen Karibik-Staat mit einer Fähre sozusagen umschifft. Aus welchem Grund?

Honduras ist aus unserer Sicht nicht gerade das Rad-Traumland.

Warum?


Sicherheit in Guatemala: Man(n) kann’s auch übertreiben.

Beim Lesen der Streckenbeschreibungen bekamen wir grundsätzlich ein mulmiges Gefühl, vor allem aufgrund der hohen Kriminalität. Viele Berge, schlechte Straßen, kaum Versorgungsmöglichkeiten, enorme Hitze mit bis zu 40 Grad – das hörte sich alles nach einer brutalen Quälerei an, die letztlich nichts gebracht hätte. Honduras reizte uns nie. Es war auch nur ein kleiner Teil, den wir ausließen, zirka 100 Kilometer.

Guatemala galt während Eurer Reise als das gefährlichste Land, das auf Eurer Route lag. Ihr habt Euch dennoch hinein gewagt. Wie ging es Euch dabei?

Wir waren noch krank, vom schlechten Essen in Mexiko, und sind deshalb erst mal mit dem Bus gefahren. Für mittelamerikanische Verhältnisse ist das Busnetz dort hervorragend erschlossen. Guatemala bietet beste Infrastruktur für Reisende. Und für uns war es das schönste Land Mittelamerikas. Wir wurden auch immer spitzenmäßig mit Infos versorgt, beispielsweise dass wir einem Vulkan nicht zu nahe kommen sollten, weil es dort verstärkt zu Überfällen gekommen war.

 

Habt Ihr deshalb Unbehagen verspürt?

Wir fühlten uns dort nicht unsicherer als in anderen Ländern. Guatemala ist toll, und es leben sehr liebe Menschen dort.

Wie habt Ihr Euch auf die vermeintlich gefährlichen Länder vorbereitet?

Über das Auswärtige Amt in Berlin, die haben eine aktuelle Internetseite. Ansonsten haben wir es einfach auf uns zukommen lassen. Auch über andere Reisende konnten wir uns gut informieren. In Kolumbien nahmen wir auf den letzten 300 Kilometern den Bus. Dazu wurde uns geraten, weil die Region gefährlich ist. Wir sahen dann auch entsprechend viele Polizeikontrollen.

Gab es genügend Internetcafés, in denen Ihr Euch informieren konntet?

Ja, das war überhaupt kein Problem.

Konntet Ihr diesbezüglich auch einen zufriedenstellenden Kontakt mit Euren Lieben daheim halten?

Wir meldeten uns einmal im Monat per Rundmail bei der Familie und Freunden.

Hat es Euch gestört, wenn Ihr den Bus nehmen musstet? Weil Ihr so nicht auf Eure ursprünglich geplante Kilometerzahl kamt.

Ab und zu war es schon schade, schöne Landschaften nur aus dem Busfenster sehen und erleben zu können – wie etwa im Norden Kolumbiens. Auf der anderen Seite benutzten wir den Bus nur, wenn es wirklich notwendig war: wegen Defekten an den Rädern, Krankheiten, gefährlichen Streckenabschnitten. In unserer Welt ist es selbstverständlich, sich motorisiert fortzubewegen. Für uns war es unglaublicher Luxus und etwas Besonderes, auch mal so einfach von einem Ort zum nächsten zu gelangen.


Marble Caves, Chile.

Ihr wart oft tagelang in einsamsten Gegenden unterwegs: Welche Gedanken schwirrten Euch dabei durch den Kopf?

Wir dachten oft nur sehr wenig und genossen einfach die Landschaften, das Sein – wo wir eben gerade waren. Meist mussten wir aber auch höchst konzentriert sein, weil so viel Verkehr war. Auf der anderen Seite schwirrten uns dann wieder reichlich Gedanken durch den Kopf: wo wir als nächstes übernachten könnten, welche Dinge noch zu erledigen seien, haben wir noch genug Essen, genug zu trinken? Solche Sachen. Für monotone Gegenden hatten wir wie gesagt unsere MP3-Player dabei, die waren unverzichtbar. Und dann hofften wir, dass es hinter der nächsten Kurve interessanter werden würde.

Unterhaltungen während des Radfahrens fanden demnach eher selten statt?

Es gab sie natürlich, aber sie waren eher die Ausnahme.

Die Einsamkeit ging Euch nicht irgendwann auf den Wecker?

Absolut nicht. Wir waren schließlich zu zweit (beide schmunzeln): Uns machte die Ruhe, auch oft die Einöde nichts aus. Trotzdem freuten wir uns, wenn wir andere Reisende trafen, mit denen wir uns austauschen konnten. Besonders nett war es, wenn sie aus dem gleichen Sprachraum kamen, weil die Mentalität doch in etwa die Gleiche und die Kommunikation in der eigenen Sprache freilich einfacher und angenehmer ist.

Langeweile kam also nie auf?

Eine solche Tour ist unglaublich abwechslungsreich und es kommt niemals so etwas wie Langeweile auf. Es gleicht hin und wieder einer Reizüberflutung im positiven Sinn. Deshalb fühlten wir uns meistens recht ausgeglichen und zufrieden. Daheim haben wir oft Hummeln im Hintern und wollen unsere begrenzte Freizeit möglichst sinnvoll nutzen, ausfüllen. Das Ganze läuft dann sehr actionreich ab, oft zu getrieben. Auf Reisen ist es ein ganz anderer Rhythmus, ein gewisser Takt zwischen körperlicher Anstrengung und Genuss.


Einsamkeit, aber keine Langeweile: Auf dem Altiplano, Bolivien.

Das heißt, Ihr habt Euch auch absolute Ruhetage während der Reise gegönnt, mit absolutem Nichtstun?

In der Regel mindestens einen Tag pro Woche. Das brauchte der Körper. Denn das ewige Radfahren stand natürlich auch mal so richtig im Weg. Um Dinge zu tun, die wir in diesem Augenblick einfach gerne tun wollten. Doch diese Dinge sind dann oft zu anstrengend, weil wir bereits sechs oder sieben Tage am Stück auf dem Sattel gesessen sind. Da stieg das Bedürfnis nach Ruhe unglaublich.


Vielleicht der idyllischste Zeltplatz der Reise: Los Alerces-Nationalpark, Argentinien.

Wie habt Ihr so richtig entspannt?

Wir saßen am liebsten an einem schönen Platz, schauten, tranken Kaffee, ließen die Seele baumeln – also im Nichtstun.

Welche Kriterien entschieden noch über einen Ruhetag?

Das kam spontan, wenn es uns irgendwo besonders gut gefiel oder wir dringend eine Pause benötigten. Wir sind auch mal elf oder zwölf Tage durchgefahren. Es gab da keinen festen Rhythmus. Ein Ruhetag pro Woche musste es aber eigentlich schon immer sein …

… ein freiheitliches Privileg auf Euren Reisen. Was bedeutet Freiheit grundsätzlich für Euch?

Wir kündigen unsere Jobs, weil wir einen Traum haben. Während der Reise haben wir keine Termine, keine Verpflichtungen oder irgendeinen strengen Zeitplan. Wir sind dann auch nur uns selbst und unseren eigenen Interessen gegenüber verantwortlich, unseren Launen und Neigungen. Wenn uns irgendetwas vorantreibt, dann ist es lediglich die Neugier auf jeden neuen Tag, auf Landschaften und Begegnungen mit Menschen und Situationen. Mit unseren Fahrrädern sind wir enorm unabhängig, es gibt keine einzuhaltenden Fahrpläne. Wir können überall halten, können Fotos machen, unseren Schlafplatz ziemlich frei wählen und müssen die Regionen nicht durch verdreckte Busfenster anschauen.

Und dabei spart Ihr noch eine Menge Geld.

Meist konnten wir unsere Räder kostenlos oder gegen einen geringen Betrag mit dem Flugzeug transportieren. Der Transport eines Motorrades oder eines Wohnmobils hätte eine ganze Menge mehr gekostet.

Ihr sagt, dass Euch das Radfahren ab und an auch mal im Weg stand, um andere Dinge zu tun. Was meint Ihr damit?

Wir wären gerne mal drei oder vier Tage auf einen aktiven Vulkan gegangen. Aber das war mit dem Radfahren, wie gesagt, irgendwie nicht vereinbar.

Warum?

Zum Bergsteigen braucht der Mensch ganz andere Muskeln – und hat zu Beginn einen irrsinnigen Muskelkater. Das Radfahren stand uns dafür im wahrsten Sinne im Weg, so dass wir an radfreien Tagen einfach keine Lust oder Energie mehr in uns hatten, anderen Sportarten nachzugehen. Da stand einfach die meiste Zeit das Relaxen im Vordergrund.

Was war während des Radfahrens außerdem wichtig?


Verdiente Rast, USA.

Vor allem, ausreichend Wasser dabei zu haben – wobei wir eigentlich stets mit wenig Trinkwasser auskamen. Nur in Chile konnten wir das Wasser aus Bächen unbehandelt zu uns nehmen. In Cusco in Peru verwendeten wir das Wasser aus einem Bach zum Nudeln kochen und hatten daraufhin für mehrere Tage eine Mageninfektion. Ansonsten behandelten wir das Wasser mit einem Wasserfilter oder kauften es im Geschäft. In eine wirkliche Notlage sind wir diesbezüglich aber nie geraten. Im Bundesstaat Utah in den USA ging uns einmal vorzeitig das Wasser aus. Ich (Volker) fotografierte noch das Schild „Next Service 90 Miles“ und ignorierte das freundliche Angebot eines Sportwagenfahrers, uns mit Wasser zu versorgen. Vielleicht waren wir etwas verwirrt, weil wir wohl doch zu wenig getrunken hatten. Laut unserer Karte sollte eigentlich der Ort Cisco noch kommen. Und richtig, die ersten Werbeschilder wiesen in großen Buchstaben auf kalte Getränke, Eis und andere Erfrischungen hin. Doch Cisco entpuppte sich als Geisterstadt: Windschiefe, verfallene Holzbaracken und über die Straße wehten die aus Westernfilmen bekannten Strauchkugeln. Kein Mensch weit und breit, keine Aussicht auf Wasser. Doch glücklicherweise näherten sich mehrere Pkw, und beim Versuch, einen davon zu stoppen, hielten direkt alle an – die typische Hilfsbereitschaft in den USA. Sie versorgten uns nicht nur mit Wasser, sondern auch mit zwei Flaschen Bier fürs Abendessen.

Ihr habt auf Euren Reisen auch viel Armut gesehen. Wie ging es Euch damit?

Es klingt blöd, aber wir gewöhnten uns ein Stück weit daran. Wir sahen es, es nahm uns mit. Danach mussten wir es aber auch wieder schnell vergessen, ja verdrängen. Das musste wohl so sein, damit wir weitermachen konnten. Wir hatten das alles halt auch schon sehr oft gesehen.

Es wäre sicher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein: Aber verspürtet Ihr nicht den Drang, helfen zu müssen – wie auch immer?


Armut in Peru.

Ja, aber wir hatten uns eine Grenze gesetzt: Nur einmal am Tag etwas geben. Das machten wir, um nicht immer dem eigenen Konflikt ausgesetzt zu sein, ständig etwas geben zu müssen. Denn auch wenn wir „reiche Europäer“ sind, verfügen wir nicht über unbegrenzte Zahlungsmittel. So gaben wir beispielsweise Lebensmittel oder geringe Geldbeträge nur an Gebrechliche, ältere Menschen. Geld auf keinen Fall an Kinder, da sonst die Gefahr besteht, dass die Eltern nicht mehr arbeiten und ihre Sprösslinge zu den Alleinverdienern der Familie werden – so, wie es in Afrika oft üblich ist. Es wurde nicht immer positiv gesehen, wenn wir helfen wollten. So haben wir es in Südafrika erlebt, als wir unser Zelt am Ende unserer Reise zwei Kindern schenken wollten. Sie hausten unter Pappkartons. Ein Erwachsener bekam dies mit und schimpfte wild gestikulierend auf uns ein. Er meinte, die Kinder seien nicht obdachlos. Und mit unserem Geschenk würden wir nur dafür sorgen, dass diese womöglich nicht mehr nach Hause gehen.

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