Kapitän in zwei Welten

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Diese wenigen Beispiele zeigen, dass in der Schifffahrt bei den Personen in der wichtigsten Funktion große Extreme zu beobachten sind. Der Unterschied zu anderen Berufen ist, dass diese Extreme, weil sie auf großes öffentliches Interesse stoßen, in den Medien mit umfangreicher Berichterstattung bedacht werden. Hat der Kapitän eines von einem Seeunfall betroffenen Schiffes, wie Francesco Schettino, versagt, dann überschreitet die Berichterstattung schnell, bevor Seeämter oder Gerichte zu einem abschließenden Urteil gekommen sind, den gebotenen sachlichen Rahmen. Für richtig halte ich es, dass die Schifffahrtsliteratur sowohl den „Guten“ als auch den „Bösen“ ein Denkmal setzt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch an weitere Kapitäne erinnern, die sich entweder durch hervorragende Seemannschaft und exzellente Leitungstätigkeit oder durch das Versagen in einer von beiden Kategorien hervorgetan haben.

Beginnen möchte ich mit Robert Hilgendorf, der am 31. Juli 1852 in Schievelhorst bei Stepenitz am Ostufer des Stettiner Haffes geboren wurde und am 4. Februar 1937 in Hamburg starb. Bei dem Ruf, den Hilgendorf nicht nur in Deutschland als außergewöhnlicher Schiffsführer der größten Segelschiffe genoss, ist es erstaunlich, dass so wenig über ihn geschrieben wurde. Als harte Fakten stehen seine Reisen mit ihrer hohen Durchschnittsgeschwindigkeit und ihrer Regelmäßigkeit, ungeachtet dessen, dass die meisten von ihnen um Kap Horn gingen. Ein weiterer harter Fakt ist, dass er von 1883 bis 1898 16 500 Wetterbeobachtungen zur Deutschen Seewarte in Hamburg schickte. Diese intensive Beschäftigung mit dem Wetter ermöglichte ihm, das Wetter „zu lesen“. Ich hätte gern gewusst, wie er navigierte, wie er die Besatzung führte usw.

Die Angaben dazu sind sehr dünn. Im November 1901 gab er im Alter von nur 49 Jahren die Seefahrt auf. Das Angebot, das Fünfmastvollschiff PREUSSEN als Kapitän zu führen, lehnte er ab. In diesem Punkt war er offensichtlich klüger als Cook.


Die von Robert Hilgendorf von 1895 bis 1901 geführte Fünfmastbark POTOSI an einer Pier. Fotograf unbekannt - State Library of Victoria, Malcolm Brodie shipping collection, gemeinfrei.

Er war zu der Auffassung gekommen, dass er für dieses Schiff schon zu alt sei. Eine weise Entscheidung. Zu den Kapitänen, die mir immer besonders imponiert haben, gehört Richard Woodget, der berühmteste aller Befehlshaber des Teeklippers CUTTY SARK. Basil Lubbock, der einige Reisen als Seemann auf Tiefwasserseglern machte, hat ihm in seinem Buch „The Log Of The CUTTY SARK“ ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt. Woodget führte sie von 1885 bis sie 1895, als sie an die Portugiesen verkauft wurde. Seine außergewöhnliche Seemannschaft wird durch seine Aussage, dass er sie nie in achterlicher See beidrehte, deutlich. Er lief mit ihr vor der hohen See, und das in den Roaring Forties (Brüllenden Vierzigern), auf den langen Reiseabschnitten von Europa nach Australien. Nach Lubbock wurde sie nur einmal von einer achterlichen See überlaufen. Abgesehen von einigen eingeschlagenen Schotten (Türen) kam sie ohne Verluste durch diese schwere Prüfung.


Kapitän Richard Woodget, der die CUTTY SARK von 1885 bis 1895 führte (Captain Richard Woodget, Master of Cutty Sark 1885 – 1895, National Maritime Museum, London)

Als Woodget die CUTTY SARK übernahm, überprüfte er ihre Takelage gründlich. Im Laufe der Zeit verbesserte er sie. Zu seinen Auffassungen gehörten strikte Disziplin und Gerechtigkeit an Bord. Er war vielseitig interessiert, und er war einer der ersten Kapitäne, die fotografierten. Er erkannte die Bedeutung eines Hobbys für die langen Seereisen und empfahl den Seeleuten, sich eines zuzulegen.

Cook, Hilgendorf und Woodget sind die Personifizierung eines Wortes von Einstein, der sagte: „Persönlichkeiten werden nicht durch schöne Reden geformt, sondern durch Arbeit und eigene Leistung.“ Dieses Zitat trifft auch auf einen Kapitän einer Zeit mit ganz anderen Anforderungen zu. Da die Natur Gustav Schröder nur mit einer schmächtigen Statur bedacht hatte, musste er hart kämpfen, um die für den Schulbesuch erforderliche Segelschifffahrtszeit zusammenzubekommen. Er bewies Willen und Durchsetzungskraft, die die fehlende physische Kraft mehr als ausgeglichen hat. Berühmt machen sollte ihn eine außergewöhnliche Reise mit dem Passagierschiff ST. LOUIS.


Kapitän Gustav Schröder, Foto United States Holocaust War Memorial, gemeinfrei

Da im Verlaufe der Nazidiktatur das Leben für die Juden in Deutschland immer schwieriger und gefährlicher geworden war, versuchten viele von ihnen auszuwandern. Das Auswandern war ihnen nicht verboten, aber leisten konnten es sich nur Reiche. Wenn sie dann endlich die Genehmigung hatten, waren sie arm. Die Nazis nahmen ihnen alles. Problematisch war auch, dass nur wenige Staaten diese Flüchtlinge aufnehmen wollten. Die Hapag bot der Europäischen Jüdischen Vereinigung in Paris Anfang 1939 die ST. LOUIS für eine Reise an. Die Hamburger Reederei verlangte für einen Passagier der Kajütsklasse 800 RM und in der Touristenklasse 600 RM. Außerdem musste jeder Passagier 230 RM für eine mögliche Rückreise einzahlen. Für die Einreisegenehmigung mussten die Passagiere selbst sorgen. Nur 16, die die Reise antraten, hatten im Pass ein kubanisches Einreisevisum. Die übrigen Passagiere besaßen eine Landeerlaubnis, die aus unbekannten Gründen am 4. Mai für ungültig erklärt wurde.


Das Hamburger Passagierschiff ST. LOUIS, Archiv Autor

Am 10. Mai traf aus Havanna die Nachricht ein, dass der Leiter der Einwanderungsbehörde sie doch schriftlich für gültig erklärt hatte. Am 13. Mai gingen 388 Passagiere der Kajütsklasse und 511 der Touristenklasse in Hamburg an Bord. In Cherbourg stiegen weitere 38 Passagiere auf das Schiff auf. Von den 937 Passagieren waren 409 Männer, 350 Frauen und 148 Kinder. 94 Prozent von ihnen waren Deutsche. Kapitän Schröder führte eine Besatzung von 373 Mann (Zahlen aus Heinz Burmeister: Aus dem Leben des Kapitäns Gustav Schröder). Der erfahrene Kapitän dürfte kaum Illusionen über die Probleme dieser Reise gehabt haben. Schon bevor das Schiff Havanna erreichte, kamen beunruhigende Telegramme aus Hamburg. In ihnen wurde die Situation in der kubanischen Hauptstadt als „unübersichtlich“ bezeichnet. Schröder behielt den Inhalt der Telegramme zuerst für sich, bewies aber von Anfang an eine sehr durchdachte Leitungstätigkeit. Er wählte aus den Passagieren fünf geeignete Persönlichkeiten aus, die ein „Bord-Komitee“ bildeten. Als das Schiff am Morgen des 27. Mai in Havanna ankerte, wurde den Passagieren ohne Einreisevisum die Landung verweigert. Auf der Reise nach Havanna hatte sich schon ein Selbstmord ereignet, an diesem Tag kam es zu zwei Selbstmordversuchen. Kapitän Schröder versuchte den kubanischen Präsidenten persönlich zu sprechen, was ihm nicht gelang. Der Präsident legte fest, dass das Schiff Havanna verlassen müsse. In dieser Zeit arbeitete Schröder eng mit dem Komitee zusammen, um die Lage unter Kontrolle zu halten. An die Bereichsleiter seines Schiffes schrieb er: Die ungeklärte Lage, in der sich unsere Passagiere befinden, bringt es mit sich, dass die Stimmung sehr gespannt ist. Es muss alles getan werden, sie zu beruhigen. Bisher ist es unserem Personal gelungen, die gute Form den Passagieren gegenüber zu wahren. Achten Sie bitte ständig darauf, dass alle Besatzungsmitglieder den Passagieren in ruhiger und höflicher Form begegnen. Auf Fragen nach dem nächsten Hafen ist stets mit einem Hinweis auf die ausgehängten Bekanntmachungen zu antworten. – Jedes Besatzungsmitglied muss über diese Instruktionen informiert werden.

Am 2. Juni verließ das Schiff mit 907 Passagieren Havanna. Der Versuch, die Passagiere in den USA zu landen, schlug fehl. Das Schiff musste sich wieder auf den Weg nach Deutschland machen. An Bord bildeten jüngere Passagiere ein „Sabotage-Komitee“. Passagieren, die das dem Kapitän berichteten, empfahl er die Bildung eines „Anti-Sabotage-Komitees“. Darüber hinaus sicherte er die Brücke und ließ das Schiff verstärkt kontrollieren. Passagiere, die bereits im KZ gewesen waren, teilten ihm mit, dass sie niemals nach Deutschland zurückkehren würden. Der Kapitän soll einen Plan entwickelt haben, das Schiff nach einer vorgetäuschten Notlage auf den Strand der englischen Südküste zu setzen. Er bezog den Leitenden Technischen Offizier und das „Bord-Komitee“ in diese Überlegungen ein. Dann kam es zur Aufruhr unter den Passagieren. Der Kapitän trat den verzweifelten Menschen gegenüber und erklärte ihnen seine Überlegungen. Er konnte sie beruhigen. Er informierte die Reederei darüber, und langsam begriff man dort, wie ernst die Situation auf der ST. LOUIS war. Der Generaldirektor des Unternehmens und ein Direktor der Passageabteilung unterstützten die Verhandlungen zum Ausschiffen der Passagiere. Dann erhielt der Kapitän die Order, Antwerpen anzulaufen. Dort sollten alle Passagiere, die von England, Belgien, den Niederlanden und Frankreich aufgenommen wurden, das Schiff verlassen. In dem Buch von Heinz Burmeister fehlt leider die Aufstellung, wie viele dieser Passagiere durch den Überfall Nazideutschlands auf diese Länder doch noch den Tod im Konzentrationslager fanden. Die Reise war ein Meisterstück der Führungs- und Leitungstätigkeit eines Kapitäns unter außerordentlich schwierigen Bedingungen.

 

Auch deutsche Kapitäne lieferten eindrucksvolle Beispiele unzureichender Leitungstätigkeit, die nicht wenige Besatzungsmitglieder mit dem Leben bezahlten. Beispiele dafür sind Kapitän Johannes Diebitsch von der PAMIR und Siegbert Rennecke von der BÖHLEN. Bei Diebitsch komme ich aufgrund des Spruches des Seeamtes Lübeck zu folgenden Aussagen:

1. Besatzung: Seine Erfahrung als Kapitän belief sich auf 1 Jahr (1926/​27 auf zwei Dampfern), 2 Monate (1940) und auf seine Zeit auf der XARIFA (Yacht, Dreimastgaffelschoner). Ansonsten war er als Zweiter und Erster Offizier auf dem Segelschulschiff DEUTSCHLAND gefahren. Diesen Mangel an Erfahrung in der Ladung befördernden Segelschifffahrt und in der Führungs- und Leitungstätigkeit konnten andere Offiziere nicht ausgleichen. Der Erste Offizier hatte nach dem Krieg das Patent gemacht und war als Vierter und Dritter Offizier auf Dampfern und Motorschiffen gefahren. Am 14. Mai 1956 stieg er als II. NO auf die PAMIR auf. Nach etwas über einem Jahr wurde er als Erster Offizier angemustert.

Der Zweite Offizier war als Jungmann, Leichtmatrose und Vollmatrose auf der PAMIR und PASSAT gefahren. Nachdem er das Patent zum Steuermann auf Großer Fahrt (A5) erhalten hatte, kam er am 8. Oktober 1956 als III. NO auf die PAMIR. Seit dem 1. März 1957 war er als II. NO gemustert.


Kapitän Johannes Diebitsch

Als außerplanmäßiger Erster Offizier war der Seeschriftsteller Alfred Schmidt und als außerplanmäßiger II. NO Kapitänleutnant Buscher an Bord. Bei der Mannschaft sah es nicht besser aus. Der Bootsmann war fast 68 Jahre alt (Aussage Kraaz: „Half dem alten, sehr kranken Bootsmann, der schlecht laufen konnte, sich unter Deck etwas anzuziehen.“). Diese Aussage sprach er nach der Rettung auf Dimafon. In der Hauptverhandlung zog er die Aussage zurück. Das Ladung befördernde Segelschulschiff mit einer derartigen Besatzung zur Ausbildung von 30 Jungmännern und 22 Schiffsjungen sowie einigen Leichtmatrosen auf See zu schicken, war unverantwortlich. Entweder hätte der Kapitän oder zumindest der Erste ein ausgewiesener Fachmann für ein Ladung beförderndes Segelschiff sein müssen.

2. Umbauten: Unter neuseeländischer Flagge und in der Zeit, in der es sich im Besitz von Reeder Schliewen befand, wurden am Schiff zahlreiche Umbauten vorgenommen. Diese beeinträchtigten die Stabilität und die Seetüchtigkeit des Schiffes. Kapitän Diebitsch war offensichtlich nicht fähig, ihre Auswirkungen einzuschätzen.


Die Viermastbark PAMIR unter finnischer Flagge unter Vollzeug; John Oxley Library, State Library of Queensland, gemeinfrei

3. Reisevorbereitung und Kurs: Die Vorbereitung der Besatzung und des Schiffes auf das angekündigte schwere Wetter war katastrophal. Die Besatzung war nicht informiert und dadurch auch nicht auf die sich entwickelnde schwierige Situation eingestellt. Anstatt Essen wurden Zigaretten und Schnaps ausgegeben. Die Aussagen vor dem Seeamt lesen sich, als hätte sich das Schiff auf einer Kaffeefahrt befunden.

Das Schiff war ebenfalls nicht auf das sich ständig verschlechternde Wetter vorbereitet worden. Folgende Aussagen belegen dies eindrucksvoll. Wirth: Die Eisen-Schutz-Türen waren nicht eingesetzt; Kraaz: In der Matrosenmesse waren auf der Bb.-Seite die Bullaugen über Nacht offen und Wasser drang durch sie ein. Die eisernen Schutztüren waren nicht eingesetzt.

Der Kapitän ließ die Segel zu spät wegnehmen. Für die beim plötzlichen (?) Einsetzen des Sturmes auf der PAMIR gesetzte Segelfläche und bei Windstärke 10 ergab sich nach Aussage der Sachverständigen eine Neigung von 27 bis 29º. Wären die Segel weggenommen worden, hätte das Schiff bei Bft 10 noch eine Krängung von 12º gehabt. Wie es die angeführten Aussagen schon andeuteten, war der Verschlusszustand des Schiffes (Bullaugen gerieten im Kadettenraum bei 10º, Bullaugen Brücke bei 28º, Poopbullaugen bei 35º und Türsüll Brücke bei 35º unter Wasser) nicht hergestellt worden. Strecktaue wurden erst nach Eintritt der Schlagseite gespannt. Aussage Wirth: Die Räume waren bereits halb voll Wasser, als sie den Befehl bekamen, die eisernen Blenden vor die Bullaugen festzuschrauben. Kapitän Diebitsch hatte ausreichend Zeit, sich mit der Entwicklung des Hurrikans zu beschäftigen. Wenn Diebitsch, wie es immer wieder gesagt wurde, Schubarts Orkankunde „fast auswendig“ gekannt hat, dann ist es, zu dieser Auffassung kam das Seeamt, nicht unwahrscheinlich, dass das starre Durchhalten des Nordkurses, welches das immer schärfere Anbrassen der Rahen (und Dichtholen der Schoten) erforderte, auf den bei Schubart S. 120 gegebenen Ratschlag zurückzuführen. Sollte Kapitän Diebitsch diesen Ratschlag bei seinen Maßnahmen im Sinn gehabt haben, so hat er ihn missverstanden oder allzu schulmäßig befolgt.

Die Wahl seines Kurses ist nicht nachvollziehbar. 1992 befand ich mich mit der MEYENBURG auf der Reise von Brasilien nach Keelung. Südlich von Taiwan näherte sich uns ein Taifun. Nachdem die Technischen Offiziere die ausgefallene Hauptmaschine gerade wieder repariert hatten, setzte ich die Reise fort. Die Hauptmaschine konnte aber aufgrund des miserablen Bunkers jederzeit wieder ausfallen. Deshalb musste ich überlegen, ob ich unter diesen Umständen eine der wichtigsten Regeln guter Seemannschaft – wenn irgendwie möglich, einen tropischen Wirbelsturm zu vermeiden – bei dem nördlichen Kurs einhalten konnte.


MS MEYENBURG in Wismar

Ich kam nach einigen Stunden zu der Auffassung, dass das Risiko zu groß war. Das Schiff wurde auf Gegenkurs gebracht und wir warteten in einer Entfernung von 80 sm darauf, dass der Taifun vorbeizog. Als das geschehen war, wurde die Reise wieder aufgenommen. Die gleiche Möglichkeit hatte Diebitsch.

4. Wetter: Nach den Ermittlungen des Seeamtes erreichte der Wind als obere Grenze 70 kn. Die Aussage Fredrichs: „04.00 BZ Wind Bft 7 – 8, Wind und See stetig ohne Böen oder Richtungsänderungen quer von Stb“ belegt, dass das kein außergewöhnlich schweres Wetter war.

5. Segelführung: Dem sich systematisch und vorhersehbar ändernden Wetter entsprach nicht die Segelführung, das belegen die Aussagen von Fredrichs: „Um 04.00 BZ standen noch 12 Segel“ und von Haselbach: „Um 11 Uhr BZ flogen die Segel weg“.

6. Stabilität: Die Stabilität musste, wie das Vorbereiten der Besatzung und des Schiffes auf schweres Wetter, einer der Schwerpunkte des Kapitäns bei der Führung des Schiffes sein. Aus allen mir zur Verfügung stehenden Unterlagen geht nicht hervor, dass sich die Stabilität der PAMIR seiner besonderen Aufmerksamkeit erfreute. Die erwähnten Umbauten waren ein ganz wichtiger Punkt in dieser Frage. Umbauten sorgen fast immer dafür, dass die Beurteilung der Stabilität durch Kapitän und Offiziere erschwert wird. Hinzu kam, dass sie auf dem Schulschiff offensichtlich nicht berechnet werden konnte. Ihre Kontrolle erfolgte durch Rollversuche, deren Ergebnisse nach Erfahrung bewertet wurden.


Die PASSAT – das Schwesterschiff der PAMIR

Am 12. Dezember 1956 verließ die PAMIR mit 2 500 t Methylalkohol in 11 716 Fässern, die auch in den Tieftank gestaut worden waren, Antwerpen. Kapitän Eggers war sich wohl von Anfang an der Stabilitätsprobleme bewusst. Er hat nach Rollversuchen auf Terneuzen Reede die Reuelrahen, die an Deck gelegt worden waren, nicht wieder aufgebracht. Nach dem Passieren von Kap Lizard wurden die Segel gesetzt. Schon bei Windstärke 3 hatte der Segler eine Schlagseite von 11°. Am 21. Dezember beschloss Kapitän Eggers, ohne eine Entscheidung der Reederei abzuwarten, Falmouth als Nothafen anzulaufen. Dort wurden 1 256 im Tieftank gestaute Fässer gelöscht und der Tank mit Wasser gefüllt. Vor dieser Aktion hatte das Schiff eine Rollperiode von 24 Sekunden und danach von 16,5 Sekunden. Die vor dem Seeamt befragten Segelschiffskapitäne hatten 16 Sekunden als obere Grenze angesehen.

7. Ladung: Auf den fünf Reisen vor Diebitsch hat die PAMIR unter Eggers 3 x Weizen und 2 x Gerste befördert. Es gibt in den Unterlagen des Seeamtes keinen Hinweis darauf, dass bei Eggers die Gerste gesackt an Bord kam. Wahrscheinlich ist, dass sie bei Eggers, der über eine viel größere Erfahrung als Diebitsch verfügte, besser gestaut wurde. Es fällt mir sehr schwer, für den Umstand, dass die PASSAT auf ihrer letzten Reise nach dem Untergang der PAMIR, erneut lose Gerste beförderte!, angemessene Worte zu finden. Vor dem Seeamt und bei anderen Gelegenheiten hatten erfahrene Segelschiffskapitäne ausgesagt, dass sie Gerste nie lose akzeptiert hätten.

8. Führungs- und Leitungstätigkeit: Die in den verschiedenen Punkten aufgezeigten Mängel beruhen, bis auf die des Schiffes und in gewissem Umfang die der Beladung, auf einem Versagen der Leitungstätigkeit des Kapitäns. Weder die Vorbereitung des Schiffes und der Besatzung auf das von „Carrie“ ausgehende Wetter noch Kurs und Segelführung entsprachen den Regeln guter Seemannschaft in dieser Situation. Alle einschränkenden und damit die Gefahren für Schiff und Besatzung verstärkenden Faktoren wie die Stabilität des Schiffes, die von der Ladung und ihrer Stauung ausgehenden Gefahren sowie die Qualität der Besatzung hätten den Kapitän zu größtmöglicher Wachsamkeit und Vorsorge veranlassen müssen. Bei dieser großen Anzahl von Amateuren an Bord war eine straffe Schiffsführung gefragt. Der Kapitän war nicht in der Lage, diese zu etablieren. Da Diebitsch lange auf dem Schulschiff DEUTSCHLAND gefahren war, hätte er die Möglichkeit, aus dem Zusammentreffen von PAMIR und dem Hurrikan „Carrie“ ein Lehrstück machen zu können, erkennen müssen. Er tat es nicht, es blieb bei einer Kaffeefahrt mit Zigaretten und Schnaps.

Von der 86 Mann starken Besatzung wurden nur 6 gerettet.

Zwischen dem Untergang der PAMIR und dem des DSR-Motortankers BÖHLEN bestehen einige Parallelen. Zu ihnen gehören, dass kein Nautischer Offizier gerettet wurde, dass auf beiden Schiffen ein unverantwortlich laxer Schiffsbetrieb herrschte, dass die unmittelbare Gefahr für das jeweilige Schiff nicht erkannt wurde und dass das Verlassen des Schiffes eine einzige Katastrophe war, die unnötig viele Seeleute das Leben kostete. Auf die meisten Fragen im Zusammenhang mit dem Untergang des Tankers hat die Seekammer in Rostock überzeugende Antworten gegeben. Es gab keine Vertuschungen, auch wenn das nach 1990 von sich in billigem Populismus gefallenden Medien immer wieder behauptet wurde. Trotzdem beantwortete die Seekammer die folgenden Fragen nicht oder nicht ausreichend:

1. Einschätzung der Leitung des Schiffes durch Kapitän Siegbert Rennecke generell und nach der Grundberührung des Schiffes im Besonderen. Dazu gehört auch sein Alkoholkonsum.

2. Rolle des Chief mate Hans-Joachim Wabst, der zu meinem Lehrjahr (1957) gehörte und den ich als einen sehr sportlichen jungen Mann in Erinnerung habe.

3. Verhalten der Brückenwache vor und während der Grundberührung.

Als sehr informativ empfinde ich die vom Seeamt Lübeck im Spruch angeführten Zeugenaussagen der Überlebenden. Im Spruch der Seekammer fehlt vor allem eine Aussage des Funkers Schultze, des einzigen überlebenden Offiziers vom Vorschiff.


Der Motortanker BÖHLEN

Ein Gespräch mit Kapitän Rolf Permien, der als Verantwortlicher für die Seeunfalluntersuchung der DSR den Funker befragte, konnte die Fragen nicht völlig beantworten, aber zumindest die Situation ein wenig aufhellen.

Kapitän Rennecke war nicht betrunken, diese Aussage ist eindeutig. Davon bin ich bei meiner Einschätzung der Situation auch nie ausgegangen. Allerdings war er Alkoholiker. Dies berichtete mir der Politoffizier Rudi Gündel, der darüber den Flottenbereich Spezialschiffahrt informierte. Die medizinische Forschung hat schon seit Langem herausgefunden, dass Alkoholmissbrauch zu psychischen, sozialen oder körperlichen Schäden führt. Eine deutliche Leistungsminderung und Störungen in der Leistung von Gedächtnis, Konzentration, Antrieb und Aufmerksamkeit gehören zum Krankheitsbild. Welche Erklärung ist sonst für den Fakt vorstellbar, dass ein Kapitän über viele Stunden nichts zur Rettung seines Schiffes und seiner Besatzung unternimmt. Die leitenden Offiziere sollen angenommen haben, dass ein Tankschiff unsinkbar sei. Das ist ein Gedanke, der seit dem Untergang der TITANIC abenteuerlich ist. Von der Brücke war über Stunden zu beobachten, wie sich die Lage des Schiffes verschlimmerte. Warum hat Wabst nicht eingegriffen?

 

Hans-Joachim Wabst (1. von rechts) mit anderen Lehrlingen der THEODOR KÖRNER 1959 in Izmir

Diese Frage hat mich, seit einigermaßen verlässliche Aussagen zu dem Seeunfall vorliegen, beschäftigt. Vielleicht liegt die Antwort in den Beobachtungen des Technischen Inspektors Heinz-Jürgen „Atze“ Marnau, der die geretteten Besatzungsmitglieder der Maschine befragte. Er sagte in einem Gespräch zu mir: „Ich wurde beauftragt, die Überlebenden der technischen Besatzung zu befragen. Die Überlebenden haben aus falsch verstandener Kameradschaft und weil sie unberechtigt Angst hatten, dass die Versicherung für die auf See Gebliebenen nicht zahlen könnte, mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten. Sie gaben mir verschiedene Informationen, erlaubten mir aber nicht, diese aufzuschreiben oder zu verwenden. Sie machten mir klar, dass sie diese Aussagen vor der Seekammer nicht machen würden. Aus diesen wurde deutlich, dass der Dienstbetrieb auf dem Schiff in allen Bereichen von großer Schlamperei gekennzeichnet war. Dafür war im Maschinenbereich der Chief verantwortlich.


Chief „Atze“ Marnau beim täglichen Kontrollgang im Maschinenraum

Da er seine Frau mit an Bord hatte, kümmerte er sich noch weniger als sonst um den Dienstbetrieb. Er ist auch vom Wachingenieur nach der Grundberührung nicht angemessen informiert worden. Es wurden nicht alle möglichen und notwendigen Kontrollen vorgenommen. Eines der Probleme auf dem Schiff war, dass dort in einem für die Sicherheit eines Tankers unverantwortlichen Maße getrunken wurde. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass die Inspektion dies nicht gewusst hat.“

Es ist sehr gut vorstellbar, dass sich Wabst aus dieser verfahrenen Situation nicht lösen konnte. Die Aussagen der Seekammer zur Navigation des Schiffes unterstreichen die Beobachtungen von Marnau. Im Spruch der Seekammer heißt es: „Auf Grund mangelhafter Navigation, die in der unzureichenden Ausnutzung der an Bord befindlichen nautischen Geräte begründet war, kam MT ‚Böhlen‘ vom vorherbestimmten Kurs ab. Die Nichtberücksichtigung von Wind, Strom und der tatsächlichen Geschwindigkeit des Schiffes führte auf eine Entfernung von 1 100 Seemeilen zu einer Versetzung in Vorausrichtung um ca. 60 Seemeilen und nach Osten um ca. 30 Seemeilen. Der Kurs führte daher auf die Riffe der Inselgruppe Chaussee de Sein. Der wachhabende II. Nautische Offizier Hoppe sowie der Ausgucksmann führten während ihrer Wache Schreibarbeiten durch. Daher bemerkten sie nicht rechtzeitig die 15 bzw. 18 Seemeilen weit scheinenden Leuchtfeuer von Ar Men und Ile de Sein … Die Duldung der Missstände in der Durchführung der Navigation und der Wachen schufen die Voraussetzung der Grundberührung. Die Inkonsequenz in der weiteren Führung des Schiffes nach der Grundberührung führte schließlich zum Untergang des Schiffes und zum Tod einer so großen Anzahl von Besatzungsmitgliedern. Die Schuld am Untergang des Schiffes und am Tod einer so großen Anzahl von Besatzungsmitgliedern trägt der Kapitän.“

Einige Aussagen aus dem Nautischen Untersuchungsbericht der Section des Affaires Maritimes de Bretagne – Vendee a’ Nantes haben mich an der Feststellung der Seekammer, dass der II. NO Schreibarbeiten auf der Brücke durchführte, zweifeln lassen, denn das Geschwaderbegleitschiff DUPETIT THOUARS hatte, als es merkte, dass die BÖHLEN einen gefährlichen Kurs steuerte, versucht, die Aufmerksamkeit des Wachoffiziers des Tankers zu wecken. In dem Bericht heißt es: „Ab 03.37 h (GMT) versuchte der Kommandant des französischen Kriegsschiffes 10 Minuten lang die Aufmerksamkeit des Schiffes auf sich zu ziehen durch Aussenden von Lichtsignalen (wiederholter Buchstabe V) und gleichzeitigem Anruf über UKW Kanal 16 (unbekanntes Schiff – sehen Sie mein Licht – Sie laufen Gefahr – fahren Sie nach links).“ Das französische Kriegsschiff wiederholte die Signale, aber es erfolgte keine Reaktion. Eine Kontrolle des Generalplans der BÖHLEN ergab, dass der Kartenraum des Schiffes kein Fenster hatte und dadurch die Erkennung der Signale des französischen Schiffes erschwert war.


Autor als Kapitän der AQUITANIA mit philippinischen Seeleuten

„Schlamperei“ war das richtige Wort für den Dienstbetrieb auf der BÖHLEN. Dort, wo Schlamperei herrscht, gibt es entweder keine oder zumindest eine unzureichende Seemannschaft. Ungeachtet der generellen Schlamperei hätte ein guter Wachoffizier die Grundberührung verhindern können. Er war aber kein guter Wachoffizier. Abgesehen von seinen Schwächen und den unzureichenden Voraussetzungen für diese wichtige Aufgabe hatte er auch einen Kapitän, der unfähig war, aus ihm einen guten Wachoffizier zu machen.

Es ist sehr schwer, die Gefahren und Bedrohungen, die den Kapitänen durch gegen sie gerichtete Gewalt, durch unterschiedliche Krisen, durch Druck der Schifffahrtsunternehmen, durch eigene schlechte Leitungstätigkeit, durch kulturelle Unterschiede usw. entstehen, mit ihren Ursachen kurz und knapp zu beschreiben. Über Jahrhunderte ging, abgesehen von den Naturgewalten, die größte Gefahr für ihre persönliche Sicherheit von Meutereien aus. Von deutschen Schiffen sind relativ wenige bekannt geworden. Eine war die auf dem seit Wochen vor Iquique liegenden Vollschiff MELPOMENE3. Der Kapitän verweigerte den Seeleuten Landgang und Geld. Irgendwann musste das selbst dem friedlichsten Seemann den Verstand rauben. Zwei Mal warfen sie den Kapitän, die Offiziere und Polizisten über Bord. Beim dritten Mal waren die chilenischen Polizisten stärker. Die „Anführer“ wurden nach Brennecke3 mit einem Dampfer nach Deutschland zur Verurteilung geschickt. Der Kapitän kam ungeschoren davon. In allen mir zur Verfügung stehenden Unterlagen wird nur ein einziges Schiff aus Mecklenburg oder Pommern im Zusammenhang mit dem Begriff „Meuterei“ genannt. Es betrifft die Rostocker Bark ROSTOCK, die 1849 von Wilhelm Zeltz in ihrem Heimathafen gebaut worden war. Nach dem von Matthias Menke herausgegebenen „Kapitäne, Konsuln, Kolonisten/​Beziehungen zwischen Mecklenburg und Übersee“ erreichte die Bark am 12. April 1850 von Newcastle kommend Rio de Janeiro. Drei Tage später ließ der Kapitän durch den Konsul erst zwei und am folgenden Tag noch einmal zwei Seeleute verhaften. Dieser Bericht lässt mich zu dem Schluss kommen, dass es einem schwachen Kapitän nicht gelang, zwei undisziplinierte Seeleute zur Räson zu bringen, und er sich dafür Hilfe beim Konsul holte. Eine Meuterei sieht anders aus. Ein Beispiel für die Ermordung eines Kapitäns von unserer Küste habe ich nicht gefunden. Ein Faktor dafür ist sehr wahrscheinlich, nämlich dass sich auf den Reisen in Nord- und Ostsee oder ins Mittelmeer, ihren bevorzugten Fahrtgebieten, weniger Spannungen aufbauen. Ein weiterer Faktor wird die Zusammensetzung der Besatzung, die vor allem aus Einheimischen und Skandinaviern bestand, gewesen sein. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es vor allem die Unterschiede zwischen den Nord- und Südeuropäern (Dagos – rassistische Bezeichnung vor allem für Italiener, aber auch für Spanier, Portugiesen und Griechen), die zu Spannungen führten. An ihre Stelle traten in der Schifffahrt des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart die Seeleute von den Philippinen, aus Burma (Myanmar), von Sri Lanka, dem Südpazifik usw. Nach der Auflösung des sozialistischen Lagers kamen die Osteuropäer hinzu. Arroganz und Unverständnis auf der einen sowie gewaltbereite Kulturen auf der anderen Seite, vor allem bei den Ukrainern und Russen, führten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. 1975 erschlug ein indonesischer Matrose den Kapitän und drei Offiziere der MIMI und versenkte anschließend das Schiff. Auf der „Seeschlange“ BÄRBEL wurden der Kapitän und vier russische Besatzungsmitglieder getötet. Der verdächtige russische Seemann wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen.


Die PRINZESSIN VICTORIA LUISE, Detroit Publishing Company

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