Das Rätsel Seele

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„Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluss fortsetzt. Sie hat den Namen des Über-Ichs erhalten.“ (Freud 1953, 10) Das Über-Ich setzt die Aufgaben fort, die zunächst allein Personen der Außenwelt, den Eltern und Bezugspersonen, zukamen, wie beispielsweise zu überwachen, zu belohnen und zu strafen. Das Über-Ich belohnt den Menschen für moralisches Verhalten und bestraft ihn für sozial nicht sanktioniertes Verhalten, indem es Schuldgefühle weckt. Es hat Gewissensfunktion und repräsentiert die moralischen und ethischen Wertvorstellungen, die Gebote und Verbote der Eltern beziehungsweise der Gesellschaft. Viele Gebote, Verbote und moralische Wertvorstellungen sind uns bewusst, doch gibt es von Person zu Person in verschiedenem Ausmaß Wertvorstellungen und soziale Anforderungen, die bereits in frühester Kindheit übernommen wurden und die nicht bewusst sind. Sie werden sogar verleugnet, obwohl die Person konkret danach handelt (vgl. Kriz 1994, 38).

Bei aller Verschiedenheit repräsentieren Es und Über-Ich die Einflüsse der Vergangenheit, das Es die ererbten und das Über-Ich die im Wesentlichen von anderen übernommenen. „Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß.“ (Freud 1953, 10) Das Ich als Diener dieser drei Herren hat also die schwierige Aufgabe, den Einflüssen aller drei gerecht zu werden. Dabei erlebt es den Einfluss des mächtigsten dieser Herren, des unbewussten Es, gar nicht direkt, sondern nur indirekt als Träume, Fehlleistungen und Symptome psychischer Störungen und damit als vermeintlich eigene Zustände. Das bewusste Ich hat keine Einsicht in die unbewussten Kräfte, die es beherrschen. Es wird weitgehend von Ereignissen determiniert, die in der frühen Kindheit oder gar in der Vorgeschichte des Menschen liegen (vgl. Roth & Strüber 2015, 307). Ursprünglich verwendete Freud die Bezeichnungen Es, Ich und Über-Ich als Metaphern zur Beschreibung von Erleben und Verhalten, er verfiel jedoch der Personifizierung dieser Konstrukte. In seinem Gefolge sprechen und schreiben tiefenpsychologisch orientierte Autoren über die drei Instanzen, als handle es sich um drei selbstständige Wesen mit je eigener Macht, zu denken, zu wollen und zu handeln.

Freud verstand das Seelenleben als Funktion des seelischen Apparates, von Es, Ich und Über-Ich. Als er dieses Strukturmodell der Seele entwarf, hatte er bereits längere Zeit als neurobiologischer Forscher und Nervenarzt gearbeitet. Er wollte eine Brücke schlagen zwischen dem Physischen und dem Psychischen, dem Körperlichen und dem Seelischen, und bemühte sich, sein Modell der Seele auf eine neurophysiologische Grundlage zu stellen. Für ihn war es selbstverständlich, dass jedes brauchbare psychologische Modell mit dem Wissensstand auf dem Gebiet der Anatomie und Physiologie des Nervensystems vereinbar sein müsse. Es könne keine Psychologie unabhängig von der Physiologie des Nervensystems geben. Nur Esoteriker und Okkultisten würden sich die Freiheit nehmen, seelische Vorgänge zu postulieren, die neurophysiologisch unmöglich sind. In seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips bemerkt er: „Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird.“ (Freud 1920, 65)

Der südafrikanische Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms hält Freuds Strukturmodell der Seele mit seinen drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich für nicht mehr haltbar (vgl. Solms 2011). Er beruft sich auf aktuelle Erkenntnisse der Bewusstseinsforschung und kündigt eine neue Ära der Psychoanalyse an. Es gelte, das Beste aus den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse zu vereinen und Freuds Thesen weiterzuentwickeln. Im Seelenmodell von Freud ist das Es völlig unbewusst. Solms hingegen betont, dass nach neueren Erkenntnissen der Hirnforschung das Es keineswegs unbewusst ist, sondern ganz im Gegenteil von Anfang an bewusst. Das Es ist von Geburt an bewusst, das Ich ist es hingegen nicht. Das sei die große Überraschung! Das Bewusstsein beginnt aus dem Es heraus. Das Ich wird vom Es mit Bewusstsein versorgt und nicht vom Wahrnehmungssystem, wie Freud glaubte. Der Organismus ist sich der primären Gefühle stets bewusst. Primäre Gefühle bilden die Grundlage des gesamten emotionalen Lebens und sind der Anfang des Bewusstseins überhaupt. Solms argumentiert im Sinne des Neurologen Antonio Damasio, demzufolge die ursprünglichen Gefühle spontane Spiegelbilder von Körperzuständen sind. Es sind Zustände wie Lust oder Schmerz, Körperleichtigkeit oder Körperschwere, Energie oder Mattigkeit, Anspannung oder Entspannung. Die ursprünglichen Gefühle dienen dazu, die Bedürfnisse des Organismus zu erfüllen. Sie sind das Urbild für alle anderen Gefühlserlebnisse. Neurowissenschaftler unterscheiden zwischen einem primären und einem sekundären Bewusstsein. Das primäre Bewusstsein entsteht aus dem Inneren des Organismus heraus. Es ist ein angeborenes System der Bewertung. Wir Menschen teilen es mit den Säugetieren, vielleicht sogar mit den Reptilien und den Vögeln. Sein Credo lautet: „Ich fühle, und deshalb bin ich“ (vgl. Damasio 1999, 2000). Ein angenehmer Zustand bedeutet, die Bedürfnisse des Organismus sind oder werden befriedigt, ein unangenehmer Zustand bedeutet, sie sind weder erfüllt noch werden sie befriedigt. Selbst Tiere wissen es, wenn sie sich gut fühlen, und sie wissen, dass sie in Gefahr sind, wenn sie sich schlecht fühlen. Wir Menschen wissen das erst recht. Das ursprüngliche „Selbstbewusstsein“ erwächst aus dem Es. Das sekundäre Bewusstsein, das autobiografische Bewusstsein, entsteht in unserer Entwicklung später. Mit seiner Hilfe können wir mühelos durch die Zeit reisen, uns an frühere autobiografische und andere Ereignisse erinnern, unsere Zukunft planen oder überlegen, was wir in den nächsten Jahren noch erleben wollen. Das Ich weist das primäre Bewusstsein in seine Schranken und dirigiert es gemäß den Anforderungen der realen Umwelt. Das Ich ist der Wächter des Es. Solms geht es in seiner Theorie primär um das Gleichgewicht zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen.

„Ja, wir sind ja immer davon ausgegangen, das ‚Es‘ mit seinen Trieben und Gefühlen sei unbewusst und dass wir dieses Unbewusste über die Sprache ins Bewusstsein zurückholen können beziehungsweise müssen. Aber wenn es denn diese widerstreitenden Pole gibt, auf der einen Seite das primäre Bewusstsein mit seinen Gefühlen und auf der anderen Seite das sekundäre Bewusstsein mit seinen Kontrollmechanismen, dann sollte es unsere allererste Aufgabe als Psychoanalytiker sein, auf eine bessere Balance zwischen den beiden Polen hinzuwirken, zwischen den mächtigen Trieben und ihrer Hemmung. Es sollte künftig noch mehr als bisher darum gehen, Gefühle zu „managen“, als sie hervorzuwühlen.“ (Solms 2011, 45)

Der Psychiater Hartmann Hinterhuber würdigt Freuds Seelenapparat als den Versuch, die Psychoanalyse naturwissenschaftlich zu fundieren und die neuzeitliche Fragmentierung von Leib und Seele, von Natur und Geist, in den Natur- und Geisteswissenschaften aufzuheben. Freuds Modell der Seele ist und bleibt ein neurophysiologisches. Das Biologische spielt nach Freud für das Psychische die Rolle des unterliegenden gewachsenen Felsens (vgl. Hinterhuber 2001, 144; 2012, 226). Der holländische Psychoanalytiker Piet Kuiper hingegen bemerkt, es habe keinen Sinn, zwischen dem Erleben und dem zentralen Nervensystem so etwas wie einen psychischen Apparat einzuschieben. Der psychische Apparat, das heißt die organische Grundlage der seelischen Funktionen, ist das Gehirn, und das erforscht man nicht, indem man einen Analysanden nach seinen Einfällen fragt, sondern mithilfe von Neuroanatomie und Neurophysiologie (vgl. Kuiper 1975, 35).

Freud legt in seiner Sicht des Seelischen den Schwerpunkt auf das Unbewusste. Unbewusste Einflüsse bestimmen unser Erleben, Verhalten und Handeln. Als Quelle der Lebendigkeit nennt er die vitale Triebdynamik des unbewussten Es. Das Es ist der Energiespeicher, aus dem heraus alles seelische Leben gespeist und angetrieben wird. Freuds Verständnis des Seelischen ist vor allem ein kausales Woher und weniger ein finales Wohin und Wozu. Menschliches Sein deutet er als Getriebensein. Das Bild von der seelischen Natur des Menschen, das er entwarf, ist insgesamt ziemlich düster und pessimistisch.

Nach Freud gehört die Vorstellung, es gebe eine vom Körper abtrennbare Seele, die den Tod überdauert, einer vorwissenschaftlichen, mythischen Epoche der Menschheitsgeschichte an. Die Annahme einer unsterblichen Seele betrachtete er als Illusion, die der Bewältigung der Todeserfahrung dient. Als Illusion bezeichnete er auch die Vorstellung, es gebe einen göttlichen Vater, der sich um jeden einzelnen Menschen sorgt. Beide Illusionen entstammen kindlichem Wunschdenken. Menschen können jedoch so selbstständig werden, dass sie ohne diese Illusionen auskommen (vgl. Hampe 2010).

Verhaltenspsychologie

Die Verhaltenspsychologie befasst sich mit der Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens. Ihr Ursprung liegt im Behaviorismus, jener Richtung, welche die amerikanische Psychologie zirka fünfzig Jahre lang dominierte und die sich ausschließlich auf das beobachtbare und messbare Verhalten konzentrierte. Nach dem Willen ihrer Vertreter soll die Psychologie, ähnlich den Naturwissenschaften, eine objektive Wissenschaft sein und nur intersubjektiv überprüfbare Daten akzeptieren. Die in der Bewusstseinspsychologie verwendete Methode der Introspektion lehnen die Behavioristen als unwissenschaftlich ab. Markenzeichen des Behaviorismus sind Objektivität und strenge methodische Standards bei der experimentellen Überprüfung präzise formulierter Hypothesen.

 

Die prominentesten Vertreter des Behaviorismus sind John B. Watson (1878–1958) und Burrhus F. Skinner (1904–1990). Watson, ein radikaler Behaviorist, war der Ansicht, sämtliche Erfahrungen lassen sich auf Drüsensekretionen und Muskelbewegungen zurückführen. Als Gegenstand psychologischer Forschung akzeptierte er nur das beobachtbare Verhalten und dessen Wechselwirkung mit beobachtbaren Umweltbedingungen. Begriffe wie Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Wollen strich er aus dem wissenschaftlichen Vokabular, sofern sie subjektive Zustände bezeichnen, die objektiv nicht überprüfbar sind. Das subjektive Erleben war für ihn kein akzeptabler Forschungsgegenstand der Psychologie. Er betonte die Bedeutung der Umwelteinflüsse für das menschliche Verhalten. B. F. Skinner gilt als der bekannteste Vertreter des Behaviorismus. Seiner Meinung nach lassen sich Aussagen über seelische Ereignisse als Aussagen über Verhalten identifizieren. In seiner experimentellen Analyse des Verhaltens klammerte er subjektive Zustände als Ursachen des Verhaltens aus. Er entwarf eine äußerst sparsame Theorie zur Erklärung tierischen und menschlichen Verhaltens, indem er sich auf folgende Fragen konzentrierte: welche Reize lösen Verhalten zuverlässig aus, und vor allem, wie beeinflussen die auf das Verhalten unmittelbar folgenden Konsequenzen dessen zukünftige Auftrittshäufigkeit? Wenn eine genaue Kenntnis dieser beiden Gegebenheiten es ermöglicht, Verhalten zuverlässig vorherzusagen und zu kontrollieren, dann erübrigen sich Spekulationen darüber, was im Lebewesen oder im Individuum vor sich geht, was es denkt, fühlt oder beabsichtigt. Diese Form der Verhaltenspsychologie trägt den Namen „Black-Box-Psychologie“. Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts fand die sogenannte „kognitive Wende“ in der Verhaltenspsychologie statt. Verhaltensforscher distanzierten sich zunehmend von der Black-Box-Psychologie und interessierten sich für kognitive Prozesse. Phänomene wie Empfinden, Denken, Fühlen und Wollen, die nur aus dem Ausdrucksverhalten erschlossen werden können, bezeichneten sie als „verdecktes Verhalten“.


Abb. 4: John B. Watson (1878–1958)


Abb. 5: Burrhus F. Skinner (1904–1990)

Behavioristen gehen davon aus, dass der Großteil unseres Verhaltens gelernt ist und von Umwelteinflüssen bestimmt wird. Da wir Menschen kaum angeborene Verhaltensweisen besitzen, können wir unser Überleben nur durch Lernen, durch eine ständige Auseinandersetzung mit unserer Umwelt sichern. Wie passen wir uns den mannigfaltigen Anforderungen der sozialen und dinglichen Umwelt an? Wie erwerben wir Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen? Wie können wir schädliche Gewohnheiten und Verhaltensweisen wieder verlernen? Behavioristen betrachten gestörtes oder abnormes Verhalten als unter Belastung erworbenes Fehlverhalten. Dieses unterliegt den gleichen Lerngesetzen wie normales Verhalten auch und wird nicht, wie in der Tiefenpsychologie, als Symptom unbewusster Konflikte gesehen.

Behavioristen unterscheiden zwischen „respondentem“ und „operantem“ Verhalten. Respondentes Verhalten umfasst alle unwillkürlichen Reaktionen, die unter der Kontrolle des vegetativen oder autonomen Nervensystems stehen. Es sind automatische Reaktionen, die durch bestimmte äußere oder innere Reize ausgelöst werden, wie beispielsweise Reflexe und emotionale Reaktionen. Operantes Verhalten hingegen umfasst alle spontanen, willkürlichen Verhaltensweisen, die auf die Umwelt wirken. Es unterliegt der Kontrolle des zentralen Nervensystems. Im Deutschen ist dafür auch der Ausdruck „Wirkverhalten“ gebräuchlich. Es handelt sich um Aktivitäten, die bereits im Verhaltensrepertoire des Lebewesens vorhanden sind. Den beiden Verhaltensklassen entsprechen unterschiedliche Lernformen: Dem respondenten Verhalten entspricht im Großen und Ganzen die Klassische Konditionierung und dem operanten Verhalten die Operante Konditionierung.

Die Klassische Konditionierung

Der russische Physiologe und Nobelpreisträger Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) gilt als Vater der Klassischen Konditionierung. Er untersuchte die Entstehung von sogenannten bedingten (gelernten) Reflexen. Beim Anblick von Futter reagiert ein hungriger Hund automatisch mit Speichelfluss. Diese ungelernte Reiz-Reaktions-Verbindung ist ein unbedingter Reflex. Andere unbedingte Reflexe sind zum Beispiel der Kniesehnenreflex, die Pupillenkontraktion und der Lidschlussreflex, die durch spezifische Reize ausgelöst werden. In seinem klassischen Experiment bot Pawlow einem hungrigen Hund einen Glockenton zusammen mit etwas Futter dar. Da Hunde auf Glockentöne normalerweise nicht mit Speichelfluss reagieren, wird der Glockenton neutraler Reiz genannt. Die beiden Reize, Glockenton und Futter, bot Pawlow seinem Versuchstier viele Male gemeinsam dar. Als er nach dieser Prozedur dem Hund nur noch den Glockenton darbot, reagierte dieser ebenfalls mit Speichelfluss. Vor dem Experiment konnte nur Futter den Speichelfluss auslösen. Der Glockenton wurde durch die gemeinsame Darbietung mit dem Futter zu einem konditionierten (bedingten) Reiz, der die konditionierte (bedingte) Reaktion Speichelfluss hervorrief. Der Hund lernte durch das Experiment eine neue Reiz-Reaktions-Verbindung, einen sogenannten bedingten Reflex.


Abb. 6: Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936)

Für die Schutzreflexe der Skelettmuskulatur ist diese Form der Konditionierung dann am wirksamsten, wenn der neutrale Reiz – zum Beispiel ein rotes Licht – eine Sekunde vor dem unkonditionierten Reiz – zum Beispiel einem Luftstoß gegen das Auge – verabreicht wird. Bei der Konditionierung von Reaktionen, die unter der Kontrolle des autonomen Nervensystems stehen, liegt das optimale Zeitintervall zwischen fünf und fünfzehn Sekunden. Die zeitliche und räumliche Nähe der beiden Reize allein genügt jedoch nicht für eine effektive Konditionierung. Der neutrale Reiz (Glockenton) muss auch eine zuverlässige Vorhersage des unbedingten Reizes (Futter) ermöglichen.

Ausgangsbasis für die Klassische Konditionierung sind angeborene Reiz-Reaktions-Verbindungen wie zum Beispiel Schreckreize, die eine Veränderung der Puls-, Herz- und Atemfrequenz hervorrufen, oder Helligkeitsveränderungen, die zu einer Verengung oder Erweiterung der Pupillen führen. Diese Form des Lernens erklärt, warum viele Reize und Ereignisse Reaktionen auslösen, die unter der Kontrolle des autonomen Nervensystems stehen. Für uns Menschen können auch Worte, Symbole und Erinnerungen zu konditionierten Reizen werden. Worte und Symbole vermitteln nicht nur eine Bedeutung, sie lösen auch emotionale Reaktionen aus, die wir durch Klassische Konditionierung erworben haben. Worte wie Prüfung, Zahnarzt, Arbeitsverlust, Urlaub, Wirtschaftskrise und Symbole aller Art, die wir mit persönlichen Erlebnissen verbinden, rufen in uns gleiche oder ähnliche emotionale Reaktionen wie die ursprünglichen Erlebnisse hervor. Personen, die in einem Experiment angewiesen wurden, sich schmerzhafte Erlebnisse wie physische Verletzungen oder Demütigungen vorzustellen, zeigten entsprechende emotionale Reaktionen (vgl. Mahoney 1977, 52). Abgesehen von besonders schwachen und ungewöhnlichen Reizen, kann beinahe alles, was ein Tier oder Mensch wahrnimmt, zu einem konditionierten Reiz werden. Unsere erworbenen Vorlieben und Abneigungen, unsere Tendenzen, auf bestimmte Menschen, Gegenstände, Orte, Situationen und Ideen emotional positiv oder negativ zu reagieren, sind wahrscheinlich durch Klassische Konditionierung entstanden. Da wir Vorlieben und Abneigungen nicht aufgrund bewussten Überlegens und Denkens erworben haben, können wir sie durch Denken allein kaum beeinflussen.

Die Werbebranche bedient sich längst des elementaren Lernvorgangs der Klassischen Konditionierung. Die Zigarettenwerbung zum Beispiel verbindet Rauchen mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften. Der „Marlboro-Man“, eine fiktive Werbefigur, die von Männlichkeit, Gesundheit, Abenteuerlust und Risikobereitschaft strotzt, dient als unkonditionierter Reiz, der beim Kunden eine angenehme emotionale Reaktion hervorruft. Durch die wiederholte gemeinsame Darbietung von Marlboro-Man und dem Namen der Zigarettenmarke soll diese beim Kunden ebenfalls eine angenehme emotionale Reaktion auslösen. Der Markenname wird hiermit emotional aufgeladen und erhält für den Kunden eine positive Bedeutung. Auf diese Weise versucht die Werbung, die Einstellung der Kunden zum angepriesenen Produkt ohne sachliche Information, allein durch emotionale Konditionierung, zu verändern. Diese Form der Beeinflussung erfolgt weitgehend außerhalb des Bewusstseins.

Wie können durch Klassische Konditionierung entstandene Reaktionen wieder verlernt werden? Wie kann man einem Hund das Sabbern auf einen Glockenton hin wieder abgewöhnen? Als Pawlow seinem konditionierten Hund nur mehr den Glockenton und kein Futter darbot, nahm dessen Speichelreaktion an Intensität ab und hörte dann ganz auf. Dieser Vorgang wird als Löschung oder Extinktion bezeichnet und ist als aktiver Lernvorgang zu sehen. Nach einer Ruhepause bot Pawlow dem Hund erneut nur den Glockenton dar. Überraschenderweise reagierte dieser mit Speichelfluss, wenn auch in geringerer Intensität als ursprünglich. Man spricht von spontaner Erholung. Es bedarf mehrerer Löschungsdurchgänge, um eine konditionierte Reaktion ganz zu beseitigen. Ist die Reaktion damit endgültig gelöscht? Werden dem Hund nach der Löschung der konditionierten Speichelreaktion wieder beide Reize, Futter und Glockenton, dargeboten, dann erfolgt das Lernen der konditionierten Reaktion sehr schnell. Der Hund benötigt weniger Zeit, die Reaktion wieder zu lernen, als sie ursprünglich zu lernen. Der Organismus muss etwas von der ursprünglichen Konditionierung behalten haben, obwohl die Löschung diese beseitigt zu haben scheint.

Für das menschliche Verhalten ist das Klassische Konditionieren vor allem für die Frage relevant, wie belastende Angstreaktionen, sogenannte Angststörungen, entstehen. Diese erfolgen nicht nur schnell, sie sind auch sehr langlebig und können sich jahrelang halten. Durch bloßes Verstreichen der Zeit wird man sie nicht los.

Auch wenn die beobachtbaren Angstreaktionen scheinbar verschwunden sind, bestehen die Reaktionen des autonomen Nervensystems weiterhin fort, und die Person kann durch die ursprünglichen Angstreize wieder in Erregung versetzt werden, wie die folgende Untersuchung zeigt. Auf den Schiffen der amerikanischen Marine im Zweiten Weltkrieg benutzte man einen ganz bestimmten Gong als Signal, das die Soldaten auf ihre Kampfposten rief. Für sie war der Gong mit Gefechtslärm, mit Geräuschen von Gewehren und Bomben, assoziiert. Der Gong wurde daher zu einem konditionierten Reiz für starke emotionale Erregung. Fünfzehn Jahre nach dem Krieg untersuchte man bei Marine- und Armeeveteranen, die sich in einem Krankenhaus aufhielten, die emotionalen Reaktionen auf zwanzig unterschiedliche Geräusche. Obwohl keines dieser Geräusche eine gegenwärtige Gefahr signalisierte, rief der Klang des alten Gongsignals bei den Marineveteranen immer noch eine starke emotionale Reaktion hervor, nicht jedoch bei den Armeeveteranen (vgl. Edwards & Acker 1962).

Die Klassische Konditionierung ist für das Verständnis der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen deshalb attraktiv, weil sie verdeutlicht, warum gutes Zureden und wiederholte Versicherungen, die Angst sei ja völlig unbegründet, so wenig fruchten. Das Angstgefühl mit seinen starken körperlichen Begleiterscheinungen tritt automatisch auf und ist der bewussten Kontrolle entzogen. Versuchen Sie einmal, einen Menschen, der an einer Phobie leidet, von der Grundlosigkeit seiner Angst zu überzeugen! Der Begriff „Phobie“ stammt aus der griechischen Mythologie und geht auf phóbos (griechisch Furcht), den Namen eines Sohnes des Kriegsgottes Ares und der Liebesgöttin Aphrodite, zurück. Eine Phobie ist eine exzessive Angstreaktion, die sich auf bestimmte Objekte und Situationen bezieht, deren Harmlosigkeit den Betroffenen durchaus bewusst ist. Angstquellen, die Phobiker angeben, rufen bei Nichtphobikern keine Angst und auch kein Unwohlsein hervor. Das lerntheoretische Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung von Phobien ist auch für die Behandlung dieser Störungen der wohl bedeutendste Ansatz (vgl. Rachman & Bergold 1976). Es geht davon aus, dass das Individuum zunächst einem traumatischen Ereignis ausgesetzt ist, das zu heftigen emotionalen Reaktionen führt. Jemand erlebt zum Beispiel einen Übelkeitsanfall in einer vollen Straßenbahn und muss sich im Zustand extremer Hilflosigkeit von den anderen Fahrgästen anstarren lassen. Alle Reize, welche die Person mit dem traumatischen Erlebnis verbindet, werden zu konditionierten Reizen, die auch in Abwesenheit echter Gefahr die emotionale Reaktion auslösen können. Die Angst breitet sich nach der Ähnlichkeit der angstauslösenden Reize aus. Man spricht von Reizgeneralisierung. Auch in anderen Verkehrsmitteln treten ähnliche Angsterlebnisse auf, und bereits der Anblick oder der bloße Gedanke an Straßenbahnen erzeugt Angst. Das kann so weit gehen, dass der Aufenthalt in fremden Räumen, das Weggehen von zu Hause ohne Begleitung, praktisch alles, was außerhalb der eigenen vier Wände geschieht, Angst macht. Die Person meidet alle Situationen, in denen die Angst auftreten könnte. Die Flucht vor der Angst ist für sie im Augenblick erfolgreich. Sie glaubt, ihre Angst nur dadurch bewältigen zu können, dass sie allen Verkehrsmitteln aus dem Wege geht. Langfristig fixiert sie dadurch jedoch ihre Angst vor Straßenbahnen und anderen Verkehrsmitteln. Ihr ausgedehntes Vermeidungsverhalten führt zur Aufrechterhaltung der phobischen Reaktion. Solange die Person alle angstauslösenden Situationen meidet, beraubt sie sich der Möglichkeit, eine gegenteilige Erfahrung zu machen, und zwar die, dass sie Verkehrsmittel zwar mit Angst benutzen kann, aber dass diese Angst bei Weitem nicht so schlimm ist wie befürchtet. „Wenn ein Patient, der eine unangepasste Angstreaktion erworben hat, gezwungenermaßen wiederholt in Kontakt mit den angstauslösenden Reizen kommt, so kann eine allmähliche Schwächung der phobischen Reaktion und schließlich ihr Verschwinden erwartet werden (spontane Remission).“ (Rachman & Bergold 1976, 12) Warum entwickeln nicht alle Menschen, die Traumatisches erlebten, eine Phobie? Menschen werden von Hunden gebissen, erleben schwere Autounfälle, entwickeln aber trotzdem keine Hundephobie und fahren weiterhin mit dem Auto. Man nimmt an, dass emotional labile Menschen mit einer ausgeprägten Anfälligkeit für Angststörungen und der Neigung zu introvertierten Verhaltensmustern mit größerer Wahrscheinlichkeit Phobien entwickeln als emotional stabile, extravertierte, gesellige und optimistische Menschen.

 

Können durch eine erfolgreiche Verhaltenstherapie, in der sich die Betroffenen den angstauslösenden Situationen aussetzen und diese Schritt für Schritt bewältigen, frühere negative Erfahrungen vollständig gelöscht werden? Eine Therapie kann das Erleben der Angst und die Angstreaktion wohl deutlich vermindern und abschwächen, aber nicht total löschen. Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe hält den Ausdruck „Löschung“ für einen irreführenden Ausdruck, der durch den Ausdruck „Hemmung“ ersetzt werden sollte. In einer wirksamen Angstbehandlung wird die Angst nicht gelöscht, sondern gehemmt (vgl. Grawe 2004, 101 ff). Er beruft sich auf den Emotionsforscher LeDoux, der die Auffassung vertritt, dass bei der Löschung einer Angstreaktion nicht die in der Amygdala gespeicherte „implizite Erinnerung“ selbst ausgelöscht wird, sondern dass die weiteren Auswirkungen dieser unbewussten emotionalen Erinnerung durch das Stirnhirn gehemmt werden. „Unbewusste Furchterinnerungen, die von der Amygdala gebildet wurden, scheinen unauslöschlich ins Gehirn eingebrannt zu sein. Sie bleiben uns wahrscheinlich ein Leben lang erhalten.“ (LeDoux 1998, 272) LeDoux meint, es könnte sein, dass wir die Erinnerungen, die den Angststörungen zugrunde liegen, niemals los werden, dass wir aber hoffen können, eine gewisse Kontrolle über sie zu erlangen.

Die Operante Konditionierung

Der amerikanische Psychologe B. F. Skinner ist der Begründer der Operanten Konditionierung. Sein Forschungsinteresse galt der Frage: Was bestimmt die Auftrittshäufigkeit eines Verhaltens? Registrierbare Umweltreize lösen zwar viele Reaktionen aus, aber offensichtlich gibt es eine ganze Menge von Verhaltensweisen, bei denen auslösende Reize in der Umwelt fehlen. Für Verhalten, das ein Lebewesen ohne äußere Auslöser, also spontan von sich aus zeigt, prägte Skinner die Bezeichnung „operantes Verhalten“ (Wirkverhalten). Der ursprüngliche Grund dieses Verhaltens liegt im Lebewesen selbst. Die Bezeichnung „operant“ soll ausdrücken, dass dieses Verhalten auf die Umwelt wirkt und dort zu bestimmten Effekten führt. Operante Konditionierung ist die Veränderung der Auftrittshäufigkeit von Verhaltensweisen durch die Manipulation ihrer Konsequenzen. Bei der Klassischen Konditionierung sind die dem Verhalten vorausgehenden Reize und Ereignisse von entscheidender Bedeutung. Bei der Operanten Konditionierung hingegen spielen die dem Verhalten nachfolgenden Wirkungen die ausschlaggebende Rolle. Verhalten führt zu positiven oder negativen Konsequenzen, und diese bestimmen, wie häufig dieses in Zukunft auftritt.

Skinner zufolge führt die Praxis, bei einem Lebewesen nach innen zu schauen, um dort eine Erklärung für dessen Verhalten zu finden, zur Verschleierung jener Einflussfaktoren, die einer wissenschaftlichen Analyse unmittelbar zugänglich sind. Diese Einflussfaktoren liegen außerhalb des Lebewesens, sie sind in seiner unmittelbaren Umwelt und in der Geschichte seiner Umwelt zu suchen (Skinner 1965, 31). Für Skinner sind die Gesetze des Verhaltens mit der Manipulation der Verhaltenskonsequenzen identisch. Der zentrale Begriff der Operanten Konditionierung ist der Begriff Kontingenz. Kontingenz bezeichnet die Beziehung zwischen dem Verhalten und seinen Konsequenzen. Sie lässt sich als Wenn-Dann-Beziehung zwischen dem Verhalten und seinen nachfolgenden Wirkungen beschreiben. Wenn auf ein Verhalten positive Konsequenzen folgen, dann wird dieses in Zukunft häufiger auftreten; wenn auf ein Verhalten negative Konsequenzen folgen, dann wird dieses in Zukunft seltener oder gar nicht mehr auftreten. Wie wir uns verhalten, was wir tun oder nicht tun, hängt demnach von den Konsequenzen unseres Verhaltens und Handelns ab, aber auch davon, wie unsere Mitmenschen darauf reagieren.

Skinner untersuchte das Verhalten von Tauben, Ratten und Menschen. Er formulierte keine Theorie darüber, was in Tieren und Menschen vor sich geht, und lehnte alles, was nicht direkt beobachtbar ist, als Verhaltenserklärung ab. Nahrungssuche und Nahrungsverzehr kann man beobachten, Hunger und Appetit hingegen nicht. Nicht direkt beobachtbare Einflussfaktoren sind in seinen Verhaltensbeschreibungen nicht zu finden. Eine innere Bedingung wie „Hunger“ definierte er ausschließlich empirisch, zum Beispiel als Nahrungsentzug von mehreren Stunden. Bei seinen experimentellen Untersuchungen des Verhaltens von Tauben verwendete er die sogenannte Skinner-Box, eine Art Versuchskasten, der das Tier gegen störende Reize von außen abschirmt. Eine Kamera zeichnet das Geschehen innerhalb der Box auf. Eine Taube, die viele Stunden nichts zu fressen bekommen hat, zeigt in der Box zunächst verschiedene Verhaltensweisen. Unter anderem pickt sie mit ihrem Schnabel an mehrere Stellen im Käfig. Als sie rein zufällig auf eine Plastikscheibe an der Wand der Box pickt, kippt ein Futtertrog von der Wand, und die Taube findet darin ein Futterkorn zum Fressen. Jedes Mal, wenn sie auf die Scheibe pickt, fällt ein Futterkorn in den Trog. Das zunächst zufällige Picken auf die Plastikscheibe nimmt in der Folge an Intensität und Häufigkeit zu, weil das Pickverhalten für die hungrige Taube einen positiven Effekt hat. Man sagt, das Pickverhalten der Taube wird verstärkt (belohnt). Fallen nach dem Picken auf die Scheibe keine Futterkörner mehr in den Trog, nimmt das Picken auf die Scheibe an Intensität und Häufigkeit ab und hört allmählich ganz auf. Man sagt, das Pickverhalten wird gelöscht.

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