Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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Aus der Reihe: gelbe Buchreihe #185
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„Gute Nacht, Kufalt. Es ist ja wohl Ihre letzte Nacht?“

„Vorletzte.“

„Und wie lange haben Sie abgerissen bei uns?“

„Fünf Jahre.“

„Lange Zeit. Auf und ab eine lange Zeit“, sagt der alte Mann und schüttelt den Kopf. „Sie werden sich wundern draußen. Fünf Millionen Arbeitslose. Schwer ist das, Kufalt, schwer. Meine beiden Söhne sind auch arbeitslos.“

„Ich hab' ja warten gelernt.“

„Haben Sie's gelernt? Hier doch nicht! Hier hat's noch keiner gelernt. – Na, wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte, Kufalt, alles Gute. Sie werden's nicht leicht haben, schwer werden Sie's haben. Ob Sie's aushalten werden? Wer einmal aus dem Blechnapf frisst...“

Der alte Mann steht wartend, denn Kufalt ist schon beinahe fertig mit Ausziehen im Licht der Flurlampe.

„Schlecht sind Sie nicht gewesen, nur zu leicht. Fleißig, ja. Und höflich, wenn man höflich war. Aber immer gleich im Bruddel, wenn was verquer ging, und hinter jeder Scheißhausparole hinterher. Fünf Millionen Arbeitslose, Kufalt...“

„Sie machen mich nicht gerade munter, Herr Thießen.“

„Munter werden Sie schon genug sein, wenn Sie entlassen sind, da sorgen die Mädchen schon für und der Suff – das Muntersein macht's nicht. Denken Sie immer dran, Kufalt, wir haben hier im Bau an die siebenhundert Zellen – denen ist's egal, wer sich drin sorgt. Uns ist's egal, bei wem wir schließen, alles kennen wir schon, alles, was es gibt.“

„Jeder ist anders, Herr Thießen.“

„Draußen ja. Aber hier drinnen seid ihr alle gleich, das wissen Sie doch selbst, Kufalt. Wie rasch lernt ihr's. – Na, gehen Sie jetzt man schlafen. Ihr Bett haben Sie schon runtergeklappt. Sehen Sie, das ist nett, so was mag' ich, das sind die wirklich Gebildeten. Aber andere gibt's. Der Schlimmste ist der Batzke, der macht sein Bett nachts um zwölf vom Haken und haut es mit aller Gewalt auf den Steinfußboden, dass der ganze Bau rebellisch wird. – Na, schlafen Sie denn also gut, die vorletzte Nacht. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Thießen. Und danke auch schön. Für alles!“

* * *

11

Es ist dunkel in der Zelle. Durch das Fenster kommt Mondlicht. Kufalt stellt sich auf sein Bett und zieht sich an der Blechblende hoch. Nun kann er mit einem Knie auf dem schmalen Fenstersims ruhen und sieht oben, unter der Decke, in die Nacht.

Ja, es ist still. Wenn sich auch einmal ein Hund rührt und ein Schritt laut wird auf dem Hof von der Nachtwache, darum ist die Nacht nur noch stiller.

Nein, keine Sterne. Auch den Mond kann er nicht sehen, nur seine Helligkeit ist in der Luft. Die dunklen, schweren, langen Schatten da, das sind die Mauern, und was sich kuglig über ihnen wölbt, das sind die Kastanien. Die blühen jetzt, aber man kann sie nicht riechen. Kastanien riechen nur von ganz nah und dann riechen sie unangenehm, wie Samen.

Aber sie werden noch blühen wenn er draußen ist. Er kann unter ihnen gehen, wenn sie blühen, er kann hingehen, wenn sie voller werden im Grün, wenn die ersten gelben Blätter kommen, wenn die Früchte platzen, wenn sie kahl sind, wenn sie wieder blühen – immer kann er zu ihnen gehen, überallhin kann er gehen, wie er will, wann er will.

Es ist nicht auszudenken. Fünf Jahre lang hat er viele hundert Male hier unter der Decke gehangen, immer in Gefahr, mit der Blende herunterzurasseln oder vom Wachtmeister erwischt zu werden, nun braucht er das alles nicht mehr.

‚Der Thießen hat gut quasseln’, denkt er. ‚Der versteht von nichts mehr was, so ein Wachtmeister hat ja lebenslänglich. Und das mit seinen zwei Söhnen. Ich weiß ganz gut, der Jüngste hat lange Finger gemacht und säße auch hier, wenn der Vater nicht alles abbezahlte. Viel Gehalt hat er auch nicht.’

Er hat Lust auf eine Zigarette und klettert hinunter. Während er im Dunkeln der Zelle nach den Hosen und dem Tabak in ihnen tastet, überkommt ihn plötzlich ein Gefühl ... er bleibt stehen...

‚Ich will nicht mehr’, denkt es in ihm. ‚Ich will gewiss nicht mehr. Ein guter alter Mann, er ist immer nett gewesen zu allen. Es ist auch so wie draußen die Nacht, es wird dunkel, der Mond scheint, dann wird es wieder hell, es ist alles ganz einfach...’

Er bemüht sich, klar zu werden. ‚Alle diese Schuftigkeiten, es macht es nur schwerer, es war vorher alles viel leichter, als ich noch ganz einfach in meiner Zelle saß, nichts von Schieben und Angeben wusste. Ich muss sehen, dass es wieder leichter wird. Ich komme sonst nicht durch, bin zu schwach, recht hat er. Es wird mir immer gleich alles zuviel. Man müsste irgendeinen sauberen Anfang haben, ganz gleich wie. Vielleicht gehe ich morgen doch zum Pastor.’

Er dreht sich die Zigarette und zündet sie an. ‚Ich muss sehen, dass es geht. Ich will gleich morgen früh damit anfangen, nicht um fünf am Fenster nach Batzkes Trulle zu sehen.’

Er sitzt im Hemd auf der Bettkante und starrt vor sich hin, sehr hilflos. Die Asche fällt unbeachtet auf den herrlichen Fußboden. Seiner hat ein Sternmuster, mit Mond und Sonne.

* * *

Zweites Kapitel – Die Entlassung – 1

Zweites Kapitel – Die Entlassung – 1

Ob Kufalt, am Morgen um fünf erwacht, sich den Reizen eines nackten Mädchenkörpers verweigert hätte, bleibt zweifelhaft. Denn er wacht erst um dreiviertel sechs auf, als die Glocke mit zwei scharfen Schlägen Signal zum Aufstehen und Waschen gibt. Er fährt hoch, in die Hosen, besonders gut wird das Bett gemacht, denn heute ist die große Zellenabschiedsrevision. Dann das Waschen im Emailleessnapf statt in der blinkenden Nickelwaschschüssel, die nun zu putzen keine Zeit mehr ist.

Als die Kalfaktoren um sechs nach den Kübeln und Wasser laufen, die Zellenriegel zurückdonnern und die Schlösser knacken, ist Kufalt schon längst beim Reinigen des Zementfußbodens. Noch einmal muss das Muster drauf gewichst werden, alles ist von der Nacht verdorben. Dann baut er das Inventar nach einem heiligen System auf, damit der Hauptwachtmeister auf einen Blick überschaue: siehe! alles ist da.

Und bei all dieser Tätigkeit denkt er doch nur ununterbrochen an den Traum, den er gehabt hat in der Nacht. Der Traum aus den ersten Wochen seiner Untersuchungshaft ist wiedergekommen, jetzt in dieser Nacht.

Er läuft auf einen dunklen, tief verschneiten Wald zu. Er muss sehr rasch laufen, die Polente ist auf seiner Spur. Es ist Nacht, es ist bitterer Winter, der Wald vor ihm ist sehr groß, auf einer Karte hat er gesehen, achtzehn Kilometer läuft die Chaussee durch Wald. Aber er muss hinüber nach der anderen Seite, dort geht eine andere Bahnlinie, dort vermuten sie ihn nicht, dort kann er vielleicht noch entkommen.

Ehe er in die ungeheure Waldung eintaucht, die ihn für vier Nachtstunden umschließen wird, muss er durch ein Dorf. Und im Gasthof des Dorfes sind die Fenster noch hell. Er geht hinein und lässt sich einen Schnaps geben. Und noch einen. Und noch einen. Es scheint, er kann nicht mehr warm werden. Er kauft sich eine Flasche Kognak. Er verstaut sie in seine Aktentasche und zahlt.

Dabei merkt er, dass ihn zwei Männer aufmerksam betrachten, ein blasser, fuchsgesichtiger, junger, und ein alter, gedunsener mit nur noch ein paar Haaren auf der schorfigen Platte. Zwei Pennbrüder.

„Viel Schnee auf den Wegen“, krächzt der Alte.

„Ja“, antwortet Kufalt und sieht, wo das Wechselgeld auf seinen Hunderter bleibt. Er hat die Geldtasche dabei in der Hand, und der Blick des jungen Fuchses liegt auf ihr, haltlos gierig.

„Gibt noch mehr Schnee, Nachbar“, brummt der Alte. „Keine Nacht zum Spazierengehen.“

„Nein“, sagt er kurz und steckt die Brieftasche ein. Er sagt „guten Abend“ gegen den Wirt und geht hinaus. Als er an dem Tisch der beiden vorbeikommt, steht der Junge auf und sagt bittend: „Geben Sie einen Schnaps aus für zwei Durchgefrorene. Wir wollen auch noch auf Quanz.“

Er geht rasch vorbei, als hätte er nichts gehört.

Draußen empfängt ihn der Wind mit einem scharfen prasselnden Trieb Schnee direkt ins Gesicht. Er muss sich Schritt um Schritt gegen ihn ankämpfen, der Wald steht dunkel über dem Feld, ein paar hundert Meter ab.

‚Ich hätte ihnen einen Grog geben lassen sollen’, macht er sich Vorwürfe. ‚Dann wären sie noch eine Viertelstunde sitzen geblieben und ich hätte Vorsprung gehabt. Die sind scharf auf mein Geld. Warum hat er gesagt, wir gehen auch auf Quanz? Woher weiß er, wohin ich will?’

Er versucht, den Weg zurückzusehen, den er kam. Aber es ist nichts zu erkennen, der Schnee treibt jagend schräg vorbei.

‚Im Wald wird es stiller sein. Aber der Schnee wird hoch liegen. Noch achtzehn Kilometer! Ich bin wahnsinnig, wie gut saß ich in Berlin! Sobald ich im Wald bin, nehme ich die Tausender aus der Brieftasche und verstecke sie an mir. Dann finden sie nur das Wechselgeld von dem Hunderter und das sollen sie gerne haben!’

Er läuft gegen den Wind und Schnee stürmend an. Der Alkohol flammt in ihm hoch, er dampft von Wärme. Der Schnee kühlt das Gesicht gut.

Dann plötzlich ist es ganz still um ihn, er ist in die ‚Geduld’ gekommen, in den Windschatten des Waldes. Nur noch ein paar Schritte. Da steht ein Tannenbusch gleich am Wege, er will hinter ihm Deckung nehmen, bricht in die metertiefe Schneeverwehung des Chausseegrabens ein und kämpft, immer wieder abrutschend und einsinkend, um festen Boden.

Als er den hat, nimmt er sich nicht erst die Zeit, den Schnee abzuklopfen von den Kleidern. Er setzt einen Fuß auf den Chausseestein und knüpft hastig die Schnürsenkel auf. Seine Schuhe sind gut mit langen wasserdichten Schäften, der Fuß darin ist trocken und warm. Vorsichtig schiebt er das flach gekniffte Paket mit den Tausendern – es sind leider nur noch drei – zwischen Strumpf und Haut, fühlt, ob alles gut und glatt sitzt und zieht den Schuh wieder an.

 

Dann richtet er sich auf. Er nimmt einen tüchtigen Schluck aus der Flasche. Er ist ganz ruhig jetzt und seiner Sache sicher. Die kriegen ihn nie, weder die noch die. Er ist der Schlauste. Er muss nur forsch ausschreiten, die holen ihn nie ein.

Und so beginnt seine Wanderung. Sie ist schwieriger, aber auch leichter, als er dachte. Von den beiden sieht und hört er nichts wieder, doch der Schnee liegt schrecklich hoch, bei den Schneisen in breiten Wehen, in denen er bis zu den Armen versinkt. Und von der Chaussee gleitet er so oft ab, dass er schließlich darin Routine hat: sobald er den Boden unter den Füßen verliert und in den Graben rutscht, wirft er sich mit aller Gewalt in die frühere Gehrichtung, dann landet er meist noch auf fester Erde.

Von Zeit zu Zeit macht er einen Chausseestein frei und leuchtet die Zahl an. Er kommt langsam vorwärts. Mehr als drei Kilometer schafft er nicht in der Stunde. Gut ist, dass er den Kognak hat, aber trotz alledem: den Frühzug bekommt er nicht mehr in Quanz, und vor allem: er muss dort erst in ein Hotel und schlafen und schlafen!

Als er die geleerte Flasche in den Schnee wirft, hat er noch vier Kilometer vor sich. Vor acht kann er nicht in Quanz sein. Die letzten Kilometer fällt er nur vorwärts, von einem Fuß auf den anderen, trotzdem zum Schluss die Chaussee fast schneefrei ist, außerhalb des Waldes reingeweht vom Winde.

Dann sitzt er im ‚Deutschen Adler’ in Quanz auf der Bettkante, das Zimmer ist eisig, der eben angezündete Ofen qualmt. Er schläft immer wieder, zur Seite fallend, ein, aber er muss sich ausziehen, er kann nicht schlafen in dem nassen Zeug. Seine Glieder sind starr, seine Knochen voll Eis.

Er streift den Strumpf ab...

Er starrt, er sitzt da, verständnislos. Dann helfen die Finger den Augen suchen. Sie finden – einen weichen zerriebenen Papierbrei, fast farblos, Papier, das acht Stunden zwischen feuchtem Fuß und Strumpf zerarbeitet wurde.

Dreitausend – sein letztes Geld, der letzte Rest vom Unterschlagenen! Er wirft sich aufs Bett und bleibt liegen, wie er hinfällt, ohne Denken. Etwas später bestellt er sich Kognak aufs Zimmer, auch heißen Rotwein und Nelken und Zucker.

Drei Tage bleibt er in seinem Bett, immer trinkend, dann ist das kleine Geld aus der Brieftasche alle. Er geht los und stellt sich der Polizei, genauer dem Oberlandjäger von Quanz, einem Städtel mit dreitausend Einwohnern. Es ist zu Ende.

Dies hat er erlebt, es ist etwas über fünf Jahre her. Und dies hat Kufalt geträumt, viele, viele Nächte lang, die ganzen ersten Monate nach seiner Verhaftung: den Nachtmarsch durch den Wald und den Augenblick, da er aus dem Strumpf die zermatschten Tausender holte.

Es hat ihm einen Stoß versetzt, es ist das Schlimmste, was er je erlebt hat. Es hat seinen Stolz für immer geknickt, die Einbildung, er wäre wer. Nicht einmal zum Ganoven taugt er. Nie wird er jemandem dies Erlebnis erzählen, stets hat er erklärt, er habe alles Geld verludert, auch diese drei.

Später ist der Traum seltener gekommen, aber immer einmal kam er wieder. Auch heute nacht. Auch diese Nacht. Da das neue Leben beginnt, klirrt das alte Kettenglied.

Aber seltsam, der Traum hat sich gewandelt, ein wenig nur, eine geringe Kleinigkeit war anders.

Er erinnert sich genau: auch heute Nacht hat er den Fuß auf den Chausseestein gesetzt, den Senkel gelöst, den Schuh abgestreift. Nur ... es waren keine drei Tausender, die er in den Strumpf schob, es war ein Hunderter...

Es war der Hunderter!

* * *

2

Willi Kufalt sitzt in Gedanken verloren da. Zögernd bückt er sich nach seinem Strumpf. ‚Eigentlich müsste ich ihn dem Netzemeister wiedergeben. Aber das kann ich nun doch nicht. Lieber zerreiß ich ihn.’

Er hat ein deutliches Gefühl von dem neuen Leben, das nun beginnen soll. Es ist etwas wie das Mondlicht heute Nacht. ‚Klar’, fühlte er. ‚Nichts mitschleppen.’

Er fasst in den Strumpf...

Er lässt die Hand wieder vom Strumpf. Er steht mit einem Ruck auf und stellt sich unter das Fenster, in aufmerksamer Haltung, denn Hauptwachtmeister Rusch kommt in die Zelle.

Der Stationswachtmeister bleibt an der Tür stehen.

Der Hauptwachtmeister sieht die Gefangenen nicht an. Er betrachtet erst den Kübel, dann die Inventaraufstellung auf dem Tisch, dann das Arrangement aus Schüsseln, Bürsten, Dosen, Putzkasten auf dem Fußboden. Irgendetwas missfällt ihm, er klappert erst mit den Schlüsseln, dann stößt er mit der Fußspitze die Bürsten durcheinander.

„Erst Wichse, dann Kleider“, befiehlt er.

Kufalt geht hin, bückt sich und legt die Bürsten in die geforderte Ordnung.

„Was gelernt, was?“ fragt Rusch gnädiger. „Kein Schwein mehr?“

„Nein“, sagt Kufalt und denkt daran, dass er hier beispielsweise gelernt hat, sich in der Essschüssel zu waschen und mit dem Netzemesser, einem schwärzlichen Stummel, zu essen, bloß um den befohlenen Paradeglanz der Dinge nicht zu zerstören.

Der Hauptwachtmeister geht gegen die Tür. Aber er hat noch etwas, er bleibt stehen und betrachtet nachdenklich den Wandschrank. Er fasst mit dem Finger hinauf und wischt die Kante entlang.

„Herr Suhm“, sagt er, „Briefbogen ausgeben. Ich mach' allein weiter.“

Der Stationswachtmeister verschwindet.

„Der Sethe. Der Sethe“, sagt Rusch und betrachtet die Decke.

„Nimmt er an?“

Kufalt überlegt einen Augenblick. Er weiß es zwar nicht, ob der alte Kartoffelschäler seine drei Monate Strafe wegen Beleidigung des Küchenwachtmeisters annehmen oder ob er Berufung einlegen wird, denn der spricht ja mit ihm nicht mehr. Aber davon erzählt er dem Rusch lieber nichts.

„Glaube nicht, Herr Hauptwachtmeister“, sagt er. „Wird wohl Berufung einlegen.“

„Soll er nicht. Soll nicht dumm sein. Mit ihm reden. Strafe annehmen, dann Bewährungsfrist, morgen raus. Sonst – bleibt er hier. Untersuchungshaft – Verdunkelungsgefahr.“

‚Kieke da’, denkt Kufalt, ‚das haben die ja wieder fein hingedreht. Acht Jahre hat der olle Sethe abgerissen, da wissen die ganz genau, dass ihm jetzt wieder jeder Tag zuviel wird. Damit wollen sie ihn kriegen.’

Und laut: „Ich kann ja heute Mittag mal mit ihm reden. Aber ich glaub' nicht, Herr Hauptwachtmeister, dass da was zu machen ist. Der hat einen Rochus im Leib.“

„Soll nicht dumm sein, annehmen. Dann Bewährungsfrist. Sonst – weiter Knastschieben!“ Der Hauptwachtmeister macht eine Pause. Darauf sagt er bedeutungsvoll: „Und dann...“

Er bricht ab. Sehr bedeutungsvoll.

‚Ja, und dann ...’, denkt Kufalt. ‚Ich weiß schon, was du meinst. Es ist nämlich noch gar nicht sicher, dass der Sethe dann in einem Vierteljahr rauskommt. Erst mal werden ihn wohl die Küchenhengste ein bisschen erledigen in seinem dunklen Keller, und ein Gefangener ist kein Zeuge. Bisschen in die Mache nehmen, dass er sein eigenes Geschrei mal hört. Und dann werden ihn die Beamten ein ganz kleines bisschen reizen – der ist ja jetzt schon wie so ein Teekessel am Überkochen –, bis er wieder was Dummes sagt, und wieder Beamtenbeleidigung. Und vielleicht ist er gar tätlich geworden, ganz egal, ob er's wirklich geworden ist – dem können sie Knast besorgen, bis er auf der Irrenabteilung ist...’

„Schlauer ist, er nimmt an“, sagt also Kufalt auch.

„Siehst du“, sagt der Hauptwachtmeister gnädig. „Ihm sagen. Soll sich vormelden zum Gerichtsschreiber. Kommt heute her. Dann morgen früh sieben raus.“

„Jawohl, Herr Hauptwachtmeister“, sagt Kufalt und weiß, dass er mit Sethe nicht ein Wort sprechen wird.

Der Hauptwachtmeister nickt: „Vernünftig. Bist immer vernünftig gewesen – bis auf die anderen Male. Fertigmachen. Hole dich gleich zum Direktor. Maul halten.“

Der Hauptwachtmeister ist weg und revidiert weiter die Zellen auf Ordnung und Sauberkeit. Kufalt steht da.

Jetzt vor acht Uhr zum Direktor! Schwager Werner hat geschrieben! Vielleicht ist die Schwester selbst da, ihn abzuholen! Aber dafür ist es doch noch einen Tag zu früh? Es ist natürlich wegen etwas anderm, es ist wegen Sethe. Warum hat der Hauptwachtmeister zum Schluss gesagt: ‚Maul halten’ –?

Er wird dem Direktor sagen, was er will. Direktor Greve ist der einzige Mensch im Bau, dem man alles sagen kann. Er kann ja nicht viel machen, seine Beamten stimmen ihn immer nieder, aber er ist anständig, er tut, was er kann. Und er will nur können, was anständig ist.

Kufalt denkt wieder an seinen Hunderter. Aber er nestelt nicht mehr an seinem Strumpf. Er räumt das Inventar ein. ‚Scheibe’, denkt er. ‚Ja, Scheibe! Ausgerechnet hier fange ich mit Anständigkeit an. So blau!’

Und dann: ‚Eine schöne Dummheit hätte ich gemacht, hätte ich den Hunderter zerrissen. Die sind doch alle so, die draußen sind auch nicht anders. Sethe – den werden sie noch nach acht Jahren Knast erledigen. Und ich soll anständig sein? So blau!’

Der Hauptwachtmeister steckt den Kopf durch die Tür: „Mitkommen“, sagt er.

* * *

3

Kufalt kommt immer besonders gerne aus dem Zellengefängnis zu denen ‚vorne’.

Er geht einen halben Schritt vor dem Hauptwachtmeister her, am Glaskasten der Zentrale vorbei. Hier wird es schon ganz anders, hier sind die großen Zellen der Handwerker: der Schuster und Schneider, der Steindrucker und des Bücherwarts. Hier stehen die Zellentüren weit offen und die Handwerker laufen ein und aus, zur Wasserleitung und zum Werkmeister, mit Bügeleisen und mit Lederkupons.

Dann aber kommt die große feste Eisentür.

Der Hauptwachtmeister schließt zweimal, Kufalt tritt durch die Tür und steht auf dem Büroflur. Ein kahler Flur, weiß getünchte Wände, das Linoleum des Bodens fleckenlos spiegelnd, und eine endlose Reihe Türen. Kufalt kennt sie alle: Sprechzimmer, Lehrer, Pastor, zweites Sprechzimmer, zwei Obersekretäre von der Arbeitsinspektion, das Vorzimmer zum Direktor, Direktorzimmer, Oberwachtmeister vom Postdienst. Und auf der anderen Seite wieder zurück: Telephonzentrale, Polizeiinspektor, Arbeitsinspektor, Ökonomieinspektor, Kasse, Kasseninspektor, Arzt, Jugendfürsorger, Konferenzzimmer, Untersuchungsrichter und die Aufnahme.

In fast allen diesen Zimmern ist er gewesen mit Bitten und Gesuchen, um getadelt zu werden, um Schriftstücke zu unterschreiben. Von hier aus ist sein Schicksal geregelt worden, sind Hoffnungen erweckt und enttäuscht worden.

Der Polizeiinspektor hat ihm einmal drei Monate lang seinen Besuch versprochen und ist nie gekommen. Seitdem hasst er ihn. Der Lehrer hat ihm einmal zwanzig fast neue Zeitschriften auf die Zelle gegeben, der war überhaupt immer anständig. Mit dem Arbeitsinspektor hat er oft Krach gehabt, weil die Abrechnung nicht stimmte. Einmal gab der Ökonomieinspektor acht Wochen zu flott Lebensmittel aus, und am Schluss des Quartals bekam dann das ganze Kittchen solchen Fraß, dass man nichts mehr denken konnte wie Kohldampf, Kohldampf, Kohldampf ... Der Pastor, nun, über den war überhaupt nicht zu reden. Der war nun schon über die Sechzig und machte seit vierzig Jahren im Bunker Dienst – der kälteste Pharisäer auf dieser pharisäischen Erde.

Der Direktor andererseits, nun über den ließ sich auch nicht reden. Ein herrlicher Mann ... zu gut vielleicht, zu gut sicher. Er hat schon viel Böses durch seine Güte erfahren, darum hat er den rechten Mumm nicht mehr, etwas gegen seine Beamten durchzudrücken, die doch immer recht behalten. Aber immer noch gut.

Der Hauptwachtmeister klopft an die Tür. „Der Strafgefangene Kufalt“, meldet er.

Der Direktor hinter seinem Schreibtisch sieht hoch: „Es ist gut, Hauptwachtmeister. Sie können gehen, ich schicke den Mann dann zurück.“

So eine Art Vorführung wurmt den Hauptwachtmeister, diesen mächtigen Mann, das weiß Kufalt. Beim vorigen Direktor ist er bei jeder Unterredung dabei gewesen und hat feste mitgeredet. Aber der Hauptwachtmeister verzieht keine Miene, er macht kehrt und geht aus dem Zimmer.

Der Direktor sitzt hinter seinem Schreibtisch. Er hat frische Farben, ein paar Durchzieher in der linken Backe und blaue Augen. Außerdem hat er eine Platte, die von den frischen Farben auch was abbekommen hat, gegen die Stirn ist sie rosa, gegen den Scheitel wird sie immer röter.

„Setzen Sie sich“, sagt der Direktor. „Sie nehmen eine Zigarette, nicht wahr, Kufalt?“

Er bietet ihm die Schachtel an, es ist eine Sorte zu sechs Pfennig, Kufalt sieht es, etwas Fabelhaftes. Und nun gibt ihm der Direktor auch noch Feuer.

 

Er hat sehr gepflegte Hände und einen tadellos sitzenden Sportanzug, seine Manschetten fallen so sauber über die Handgelenke, Kufalt kommt sich wie ein Schwein vor.

„Morgen ist es nun überstanden“, sagt der Direktor. „Ich will Sie fragen, ob ich Ihnen noch irgendetwas helfen kann?“

Kufalt möchte in seiner jetzigen Stimmung alles akzeptieren, was Direktor Greve ihm etwa vorschlägt, aber er hat keine eigenen Vorschläge – trotz seiner Hilflosigkeit. So sieht er den Direktor nur abwartend an.

„Was haben Sie für Pläne?“ fragt der. „Sie haben doch Pläne.“

„Ich weiß nicht recht. Ich denke, meine Verwandten schreiben noch.“

„Sie stehen mit ihnen in Korrespondenz?“ Und erläuternd: „Sie wissen, ich lese die Post nicht. Die Zensur macht der Herr Pastor.“

„In Korrespondenz? Nein. Ich habe ihnen in den letzten drei Monaten jedesmal einen Brief geschrieben, wenn Schreibtag war.“

„Und sie haben nicht geantwortet?“

„Nein. Noch nicht.“

„Ihre Verwandten stehen gut da?“

„Ja.“

„Möchten Sie, wenn keine Antwort kommt – sie kann natürlich noch kommen, wenn aber keine kommt –, möchten Sie einfach hinfahren zu Ihren Verwandten?“

„Nein“, sagt Kufalt ganz erschrocken. „Nein, keinesfalls.“

„Gut. – Und Sie wollen ernstlich arbeiten?“

„Am liebsten“, sagt Kufalt stockend, „möchte ich irgendwohin, wo niemand etwas weiß. Ich habe an Hamburg gedacht.“

Der Direktor wiegt den Kopf hin und her: „Hamburg ... Großstadt ...“

„Ach Gott, Herr Direktor, ich habe die Nase wirklich voll. Das lockt mich nicht mehr.“

„Die Versuchungen der Großstadt? Ach nee, Kufalt, an die glaube ich auch nicht. Oder vielmehr, die in der Kleinstadt sind genauso. Aber die Arbeitslosigkeit ist in Hamburg natürlich noch schlimmer. Sie haben keinen, der Ihnen dort hilft? Hier könnte ich vielleicht...“

„Nein, bitte nicht hier. All die Gesichter...“

„Gut. Vielleicht haben Sie recht. Aber was dort? Was haben Sie sich so gedacht?“

„Ich weiß doch noch nicht! An Buch- und Kassenführung komme ich natürlich nicht wieder ran. Und eine Stellung kriege ich auch nicht so leicht, wo die fünf Jahre in meinen Papieren fehlen...“

„Nein“, bestätigt der Direktor. „Kaum.“

„Aber ich kann doch Schreibmaschine. Wenn ich mir eine Maschine kaufte und Adressen schriebe im Akkord? Und später eine richtige Schreibstube einrichtete? Ich kann gut Maschine schreiben, Herr Direktor.“

„Sie besitzen keine Maschine? Haben Sie Geld?“

„Nur die Arbeitsbelohnung.“

„Und wieviel macht die?“

„Ich denke, dreihundert Mark. – Ach, Herr Direktor, wenn Sie veranlassen würden, dass die mir hier gleich ganz ausbezahlt werden? Dass ich sie mir nicht alle Wochen vom Wohlfahrtsamt holen muss?“

Der Direktor macht ein bedenkliches Gesicht.

„Ich will so sparsam sein, Herr Direktor!“ bittet Kufalt. „Ich will keinen Pfennig verludern. Aber nicht aufs Wohlfahrtsamt!“

Und leise: „Ich möchte auch mit so was durch sein.“

Der Direktor kann Bitten schlecht widerstehen. Er sagt: „Gut. Das ist erledigt. Ich werde veranlassen, dass Sie Ihre Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt kriegen. Aber, Kufalt – von den dreihundert Mark müssen Sie leben, vielleicht zwei Monate, drei Monate leben, da können Sie sich keine Schreibmaschine kaufen.“

„Auf Raten?“

„Nein, nicht auf Raten. Sie können ja nicht mit festen Einnahmen rechnen, das kann alles fehlgehen mit Ihren Adressen. Was also –?“

„Meine Verwandten...“

„Die lassen wir erst einmal ganz aus dem Spiel. Was machen Sie also?“

„Ich – weiß – doch – nicht.“

Des Direktors Stimme wird immer frischer: „Und wie lange haben Sie nicht Schreibmaschine geschrieben? Fünf Jahre nicht? Über fünf Jahre nicht? Ja, das wird dann im Anfang nur mühsam gehen, viel werden Sie nicht schaffen.“

„Ich kann gut hundert Adressen in der Stunde tippen.“

„Haben Sie gekonnt. Heute nicht mehr. Sie denken, Sie sind gesund. Sie denken, Sie haben Ihre zwei Pensum gestrickt, das geht auch draußen. Aber hier hat Sie nichts abgelenkt, Kufalt, draußen kommen all die Sorgen und die Versuchungen. Sie sind doch den Umgang mit Menschen nicht mehr gewohnt. Und dann die Kinos, in die Sie nicht dürfen, und die Cafés, für die Sie kein Geld haben. Das wird alles sehr schwer für Sie sein, Kufalt. Das Schwere fängt erst an.“

„Ja“, sagt Kufalt. „Ja.“

„Sie waren lange genug hier im Bau, Kufalt. Wie viele haben Sie wieder kommen sehen?“

„Viele, viele.“

„Sie müssen stärker sein als die alle. Sie werden oft denken, das lohnt ja gar nicht die Mühe – für was denn? Ich komme ja doch nicht wieder hoch. – Manche kommen aber doch wieder hoch. Nur streng müssen Sie es angehen lassen, Kufalt, ganz streng.“

„Ja, Herr Direktor“, sagt Kufalt gehorsam.

Das Zimmer ist zart bräunlich getönt. Die Fenster sind keine Löcher in der Wand, sondern haben Gardinen, weiße Mullgardinen mit zartgrünen Streifen. Ein richtiger Teppich liegt auf dem Boden.

„Sie sind wie ein Kranker, der lange im Bett gelegen hat, Sie müssen erst wieder gehen lernen, Schritt für Schritt. Wer lange im Bett lag, muss einen Stock zur Stütze haben oder jemanden, der ihn führt. – Noch eine Zigarette? Gut.“

Der Direktor wartet einen Augenblick. „Sie denken jetzt, lass den man reden, ich find mich schon zurecht. Es – ist – aber – sehr – schwer. Bis Sie sich reingefunden haben in das Leben draußen – Sie haben doch früher nie gelebt ohne festes Einkommen? Sehen Sie! Bis Sie sich eingelebt haben, ist Ihr Geld alle. Und was dann?“

„Man möchte bitten“, sagt Kufalt mühsam lächelnd, „dass Sie einen hierbehalten, Herr Direktor. Ich bin ja doch wie ein Mann, dem man die Hände abgeschlagen hat.“

„Nicht abgeschlagen“, sagt der Direktor. „Aber gelähmt sind sie, steif sind sie. Ich will Ihnen was vorschlagen. Es gibt ein Haus in Hamburg, da können Sie hingehen, da werden stellungslose Kaufleute aufgenommen, auch strafentlassene Kaufleute. Da ist eine Schreibstube dabei, Sie arbeiten dort tagsüber, genau wie auf einem Büro, und dafür haben Sie Ihr Zimmer und Ihr Essen frei. Wenn Sie mehr verdienen, wird Ihnen das gutgebracht. Sie brauchen Ihre Arbeitsbelohnung nicht anzugreifen, die wird sogar mehr, wenn Sie fleißig sind. Und sobald Sie sich sicher fühlen und irgendeine Arbeit wissen, gehen Sie raus aus dem Heim. Sie können jeden Tag rausgehen, Kufalt.“

„Ja“, sagte Kufalt überlegend. „Es sind nicht nur Strafentlassene da?“

„Nein“, sagt der Direktor. „Soviel ich weiß, auch sonst Stellungslose.“

„Und ich kann da ohne weiteres hin?“

„Ganz richtig. Sie lernen gehen, Kufalt, weiter nichts. Es wird natürlich da so eine Art Hausordnung geben, und sehr luxuriös wird es auch nicht grade sein, aber Sie sind ja nicht verwöhnt.“

„Nein“, sagt Kufalt aufatmend. „Nein, das bin ich nicht. Das ist sehr gut. Das will ich tun.“

Er sieht vor sich hin. Der Hunderter im Strumpf brennt wie Ausschlag. Er kämpft mit sich. Er möchte ihn dem Direktor geben: ‚Da, nehmen Sie, ich will klaren Weg haben.’ Der Direktor würde schon nichts fragen. Aber dann tut er es doch nicht, es sähe so großsprecherisch aus, als wolle er seine Dankbarkeit abbezahlen, aber oben in der Zelle wird er ihn gleich zerreißen. Bestimmt.

„Ja“, sagt der Direktor. „Dann ist also alles klar. – Und wenn irgendetwas nicht klappt, dann schreiben Sie mir.“

„Ja. Und ich danke Ihnen auch, Herr Direktor. Ich danke Ihnen für alles.“

„Gut“, sagt der Direktor und steht auf. „Und nun bringe ich Sie noch zum Pastor. Der besorgt die Anmeldung im Heim.“

„Zum Pastor –?“ fragt Kufalt. „Ist es ein frommes Heim?“

Er bleibt sitzen.

„Nein, nein. Wenn auch ein Pastor sein Leiter ist. Es ist ganz interkonfessionell. Da sind Juden und Christen und Heiden.“ Der Direktor lacht beruhigend.

„Aber ich möchte nicht gerne zum Pastor.“