Hans Fallada – Gesammelte Werke

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa
SECHSTES KAPITEL – Selbst ist der Mann

1

Ein jun­ger Mann geht die Mön­cke­berg­stra­ße ent­lang. Un­ter je­dem Arm einen großen Kar­ton, drängt er sich ei­lig durch die Leu­te, die hier an die­sem schö­nen Herbst­mor­gen bum­meln, ste­hen­blei­ben, Schau­fens­ter an­se­hen, in Lä­den ein­tre­ten und wei­ter­ge­hen – drängt er sich ei­lig, mit ge­senk­tem Kopf.

Am Wa­ren­haus Kar­stadt er­fasst sein Blick von der Sei­te den Schim­mer ei­nes großen Schau­fens­ters voll strah­len­der Toi­let­ten, sei­di­ger Glanz von Frau­en, sanf­te Hel­le.

Der jun­ge Mann geht has­ti­ger, er sieht nicht noch ein­mal zur Sei­te, steu­ert vor­bei an die­ser Klip­pe. Drei Häu­ser wei­ter steht das große Bü­ro­haus, das sein Ziel ist. Zum Por­tier mur­melt er: »Chi­na-Ex­port«, ver­schmäht Auf­zug und Pa­ter­no­s­ter und klimmt ei­lig die Trep­pe hin­auf.

Im Aus­s­tel­lungs­saal, voll von Kris­tall, Stof­fen, Bud­dhas, Por­zel­lan, ist es um die­se Mor­gen­stun­de noch still. Ein ein­zi­ger Lehr­ling, ein klei­ner un­ter­setz­ter Ben­gel mit ab­ste­hen­den Ohren, so glührot, als habe ihn eben erst sein Chef dar­an ge­ris­sen, we­delt dort mit ei­nem Fle­der­wisch her­um.

»Bit­te?« fragt der Lehr­ling.

»Zu Herrn Bram­mer«, sagt Ku­falt. Und: »Dan­ke, ich weiß schon den Weg.«

Er geht durch zwei Bü­ros, in de­nen Mäd­chen an ih­ren Schreib­ma­schi­nen sit­zen, und kommt in ein drit­tes. Dort wal­tet Herr Bram­mer hin­ter ei­ner lan­gen, knat­tern­den, klin­geln­den Bu­chungs­ma­schi­ne, zwi­schen vie­len bun­ten Kar­ten und Avi­sen.

»Die letz­ten zwei­tau­send, Herr Bram­mer«, sagt Ku­falt.

Herr Bram­mer ist auch noch ein jun­ger Mensch, mit ei­nem fri­schen Ge­sicht, blon­den Haa­ren und der zu kurz ge­ra­te­nen Ober­lip­pe der Ham­bur­ger.

Herr Bram­mer drückt auf ein paar Tas­ten, der Wa­gen ruckt, knat­tert, klin­gelt, spuckt eine Kar­te aus. Herr Bram­mer liest sie stirn­run­zelnd und sagt: »Le­gen Sie im­mer hin.«

Ku­falt tut es.

»Die Zahl wird ja stim­men, was?«

»Die stimmt«, sagt Ku­falt.

»Na schön«, sagt Herr Bram­mer, legt die Kar­te aus der Hand, fischt ir­gend­wo aus dem Hin­ter­grund ein Quit­tungs­for­mu­lar, schreibt es aus, gibt es Ku­falt nebst ei­nem Ko­pier­stift, und schon hat Ku­falt einen Zehn­mark­schein in der Hand.

»Dan­ke schön«, sagt Ku­falt.

»Wir dan­ken auch«, sagt Herr Bram­mer mit Nach­druck. Er sieht sich nach sei­ner Ma­schi­ne um, dann Ku­falt an und sagt höf­lich lä­chelnd: »Also gu­ten Mor­gen, Herr Ku­falt.«

»Gu­ten Mor­gen, Herr Bram­mer«, sagt Ku­falt auch höf­lich. Aber er geht noch nicht ganz, trotz­dem dies sicht­lich von ihm er­war­tet wird, er fragt zö­gernd: »Sonst wäre wei­ter nichts?«

»Nichts«, sagt Herr Bram­mer.

»Nein, nein«, sagt Ku­falt has­tig.

»Der Chef will vor­läu­fig wei­ter kei­ne Pro­pa­gan­da ma­chen, Sie ver­ste­hen: bei die­sen Zei­ten!«

»Ich ver­ste­he«, sagt Ku­falt. Er hat im Hin­ter­grund die Geld­kas­set­te ent­deckt, es scheint eine gan­ze Men­ge Geld dar­in zu sein, un­wahr­schein­lich viel Geld, nicht zum di­rek­ten Aus­ge­ben, ein­fach so für alle Fäl­le lie­gen­ge­las­sen.

»Ja …«, sagt Herr Bram­mer und be­trach­tet Ku­falt sehr auf­merk­sam.

Ku­falt wird un­ter die­sem Blick lang­sam rot. Er merkt, wie er im­mer rö­ter wird, er sagt ver­le­gen: »Und dass Sie mich viel­leicht ein­mal ei­ner an­de­ren Fir­ma emp­feh­len könn­ten?«

»Ger­ne, ger­ne«, sagt Herr Bram­mer. »Nur … Sie wis­sen ja …«

»Ja«, sagt Ku­falt has­tig. »Na­tür­lich.«

Er ver­sucht, von Bram­mers Blick los und wie­der zur Kas­set­te hin­zu­kom­men. Sie ist ein so lieb­li­cher An­blick, aber nein, es lässt sich nicht ma­chen, der Blick gibt ihn nicht frei.

Üb­ri­gens scheint sich Herr Bram­mer über ir­gen­det­was ge­är­gert zu ha­ben. »Und dann, Herr Ku­falt, Sie sind zu teu­er. Fünf Mark fürs Tau­send Adres­sen! Je­den zwei­ten Tag kommt hier ei­ner, der es für vier oder drei ma­chen will. Ich kann das vorm Chef gar nicht mehr ver­ant­wor­ten.«

»Nein«, sagt Ku­falt plötz­lich – er hat die Geld­kas­set­te nicht wie­der an­ge­se­hen, und er weiß, er wird sie nie wie­der se­hen. »Nein«, sagt er, »bil­li­ger kann ich es nun nicht ma­chen, Herr Bram­mer.«

»So«, sagt der. »Also gu­ten Mor­gen.«

»Gu­ten Mor­gen«, sagt auch Ku­falt und geht.

2

Der di­rek­te Weg von der Mön­cke­berg­stra­ße zu den Ra­boi­sen1 dau­ert kaum fünf Mi­nu­ten. Aber Ku­falt geht nicht den di­rek­ten Weg. Er hat zwei Tage, und die hal­b­en Näch­te auch noch, ge­tippt, ohne auf­zu­se­hen. Nun hat er alle Zeit, die Gott wer­den lässt, er ist mal wie­der ohne Ar­beit, er kann ru­hig spa­zie­ren­ge­hen. Wenn er aber auch kei­ne Ar­beit hat, so hat er da­für Geld, zehn Mark frisch ein­ge­nom­men, und eins zwan­zig war noch Kas­sen­be­stand, elf zwan­zig also. Ganz schö­nes Geld. Di­cke Mau­er zwi­schen ihm und dem Nichts, nicht wahr? Üb­ri­gens müss­te er der Wir­tin, der Dü­bel, min­des­tens drei Mark auf Ab­schlag ge­ben, sonst wür­de sie ihn wohl raus­schmei­ßen.

Schö­ner Mor­gen heu­te Mor­gen zum Spa­zie­ren­ge­hen, o Gott!

Nein, Ku­falt wohn­te nicht mehr in der Ma­ri­entha­ler Stra­ße, jetzt wohnt er auf den Ra­boi­sen, in ei­nem Loch, nach ei­nem dunklen Hin­ter­hof hin­aus, au­ßer­dem ging er jetzt nicht da­hin, son­dern er ging spa­zie­ren an der Als­ter, am schö­nen Vor­mit­tag, wie ein Groß­kotz … Üb­ri­gens sind Sie zu teu­er, Herr Ku­falt. An­de­re ma­chen das für drei Mark …

So ein Affe! So ein lang­schwän­zi­ger Affe! Also die­se Ar­beit war er nun auch los, bloß weil er so nach der Kas­se ge­schielt hat­te, alle Ar­beit war er los. Hat­te man des­we­gen we­ni­ger Kohldampf? Schlecht konn­te es ei­nem im­mer noch wer­den von den schlech­ten Zei­ten, lie­ber jetzt erst ein biss­chen Le­be­schön ma­chen.

Und Ku­falt kauft sich vier Rund­stücke und ein Vier­tel Le­ber­wurst, fünf­und­zwan­zig Pfen­nig, Rest zehn fünf­und­neun­zig.

Na, was denn? So zum Pick­nick? Was denn?

Also, das schö­ne Zim­mer in der Ma­ri­entha­ler war vor­bei. Nichts mehr von we­hen­den Vor­hän­gen, klir­ren­den Bah­nen, ob­szö­nen Müt­tern, per­ver­sen Lie­sen, nichts mehr. Ein schlich­ter Ab­schied, ein eng­li­scher Ab­schied. Als Ku­falt da­mals zu­rück­kam aus der Un­ter­su­chungs­haft, da war nie­mand von de­nen zu Hau­se. Und da nie­mand von ih­nen zu Hau­se war, pack­te Ku­falt still und stumm sei­ne Sa­chen und ver­zog. Un­be­kannt, wo­hin.

Ja, die Wahr­heit zu re­den, es hät­te da viel­leicht noch eine Chan­ce ge­ge­ben, es war da ein Au­gen­blick des War­tens vor­ge­kom­men, ge­nau­er ge­sagt, eine gan­ze reich­li­che hal­be Stun­de, Ku­falt war auf und ab ge­gan­gen. Er hät­te ja nun die Taxe ho­len kön­nen, Um­zug ins Blaue, auf den Rat ei­nes Chauf­feurs hin – aber nein, er war auf und ab ge­lau­fen und hat­te ge­war­tet.

Kam sie nicht?

Nein, sie kam nicht.

Es hat ein­mal eine schmäh­li­che Nacht ge­ge­ben, wo wir vor der Tür ih­res Zim­mers la­gen – also jetzt ge­hen wir mal rein. Ja, wir sind ver­rückt, wir sind rot im Hirn, Feu­ers­brunst, wir rie­chen an ih­ren Klei­dern, wir schnup­pern an ih­rem Bett …

Aber dann geht eine Tür, und schon flie­hen wir, schon ste­hen wir auf dem Vor­platz, un­ser Herz zit­tert vor Angst, dass sie es sein könn­te. Dann war es nur die Tür bei den Nach­barn.

Da­mit war es aber auch ge­nug, all­zu viel hal­ten wir nicht mehr aus, die letz­ten Tage kam es ein we­nig di­cke, mit Beer­boom, mit Cito-Pre­sto, mit Po­li­zei­haft, mit den ge­treu­en Freun­den Maack und Jäns­ch – also her mit der Taxe und ab da­für.

Es ge­nügt nicht, schließ­lich ein Zim­mer in ei­nem Hin­ter­hof der Ra­boi­sen ge­fun­den zu ha­ben, ein dunkles, schmie­ri­ges, stin­ken­des Loch mit trü­ben Fens­tern ne­ben ei­ner schwar­zen Kü­che, so groß wie ein Hand­tuch, mit hun­dert­tau­send Scha­ben und ei­nem ver­rück­ten al­ten Weib von Wir­tin, das Dü­bel heißt – ach ja, es ist schon die rech­te Woh­nung für den ge­schla­ge­nen, ent­mu­tig­ten, ver­zwei­fel­ten Ku­falt, die dunkle Höh­le, in de­ren knol­li­gem Fe­der­bett man lie­gen und vor sich hin dö­sen kann, Stun­den und Stun­den – aber es ge­nügt nicht.

Denn zwi­schen­durch im­mer wie­der blitzt sie in ihm auf, die Hoff­nung, wie Ta­ten­durst, es kann noch wer­den, o Gott, al­les kann viel­leicht noch wie­der gut wer­den.

Und da rennt er denn hin, er hat eine Idee, hat er nicht die Schreib­ma­schi­ne an­be­zahlt, hat er nicht Geld da­für ge­ge­ben, soll das Geld al­les ver­lo­ren sein …?

Ach, in sei­nen Träu­men ist ein Blüm­lein auf­ge­blüht, eine ei­ge­ne Schreib­ma­schi­ne ist et­was Gro­ßes, nicht nur ein Ding aus Stahl und Ei­sen mit Rä­dern, Fe­dern, Wal­zen, Gum­mi – eine Schreib­ma­schi­ne ist eine Hoff­nung, mit ei­ner Schreib­ma­schi­ne kann man sich durchs Le­ben schla­gen, sie ist ein Wech­sel auf die Zu­kunft. Nichts mehr von Drei­hun­dert­tau­send-Stück-Auf­trä­gen, aber, wie er da so auf sei­nem Bet­te lag, schein­bar be­täubt von der Tie­fe sei­nes Stur­zes, da ist er los­ge­lau­fen, zwi­schen­durch, in Ge­dan­ken, zwi­schen der blö­den, ewig gleich knar­ren­den Kaf­fee­müh­le der ewig glei­chen Vor­wür­fe: Hätt ich – hätt ich nicht – hätt ich doch …! – da ist er los­ge­lau­fen in Ge­dan­ken von Bü­ro­haus zu Bü­ro­haus, von Ge­schäft zu Ge­schäft. »Hät­ten Sie viel­leicht ir­gend­ei­ne Schreib­ar­beit für mich?«

So viel muss­te sich doch zu­sam­men­brin­gen las­sen im großen Ham­burg, dass ein ein­zel­ner Mensch nicht dar­über ver­hun­ger­te?!

 

Nun, er hat es er­reicht: Er hat sich auf den net­ten Un­ter­su­chungs­rich­ter be­ru­fen dür­fen, eine eben­so net­te Fir­ma hat ein Ein­se­hen ge­habt, und er hat eine Schreib­ma­schi­ne be­kom­men. Kei­ne neue zwar, aber eine ta­del­lo­se ge­brauch­te, Kos­ten­punkt hun­dert­fünf­zig, drei­ßig Mark An­zah­lung von da­mals ab, Rest hun­dertzwan­zig Mark in bar.

O Gott, wie glück­lich ist er in der ers­ten Zeit über sei­ne olle Mer­ce­des ge­we­sen! Wie hat er an ihr ge­wischt und po­liert, Stäub­chen und Fä­ser­chen ent­fernt, im­mer wie­der den An­schlag pro­biert und dem Kling­ling am Schluss der Zei­le ge­lauscht!

Aber selt­sam – er wohnt eben nicht in ei­nem Zim­mer, er haust in ei­ner Höh­le, in ei­nem Loch, wor­ein man sich ver­kriecht. Da steht der Wech­sel auf die Zu­kunft un­ter sei­ner Wachs­tuch­hau­be – müss­te er nicht auf­ste­hen und Auf­trä­ge sam­meln?

Gut, gut, gut. Er steht schon auf, er geht schon los, an­dert­halb Stun­den ist eine Fern­sprech­zel­le auf dem Haupt­post­amt blo­ckiert, weil ei­ner da das hal­be Bran­chen­te­le­fon­buch aus­schreibt …

Dann mar­schiert er ab, klin­gelt zwei­mal, spricht zwei­mal, er­hält zwei Kör­be – und heim ins Loch, auf das häss­li­che Bett. Zieh gar nicht erst die Schu­he aus, es lohnt nicht, du hast kei­ne Ah­nung, ob du heu­te noch ein­mal Lust ha­ben wirst, sie wie­der an­zu­zie­hen … also rein mit den Stie­feln in die Bet­ten und los­ge­grü­belt …

Ich war ein Straf­ge­fan­ge­ner, ich bin ein Straf­ge­fan­ge­ner, ich wer­de ein Straf­ge­fan­ge­ner sein. Alle.

Ein Ga­no­ve wer­de ich sein – aber auch das nicht ein­mal rich­tig, gut, schön, ich wer­de ein paar Auf­trä­ge zu­sam­men­krie­gen, aber da­von le­ben?

Und das Geld rinnt fort, wenn wir auch schma­le Kost ma­chen, es rinnt, es rinnt, zehn Mark fünf­und­neun­zig zwi­schen uns und dem Nichts – und was dann?

Die Sa­chen kann man noch ver­scheu­ern, die Ma­schi­ne noch ver­scheu­ern – und was dann? Die Höh­le kann man noch auf­ge­ben, eine Schlaf­stel­le neh­men, selbst bei den Hal­le­lu­ja-Brü­dern kann man pen­nen – und was dann?

Ein Ent­schluss, Ku­falt, nur ein Ent­schluss!

Und was nach dem Ent­schluss …?

1 Stra­ßen­be­zeich­nung in der Ham­bur­ger Alt­stadt <<<

3

Also nun sitzt Wil­li Ku­falt auf ei­ner Bank an der Au­ßenals­ter und ringt um einen Ent­schluss. Er ver­zehrt da­bei sei­ne vier Rund­stücke und sein Vier­tel Le­ber­wurst, das schmeckt, um sei­nen Ap­pe­tit braucht ihm über­haupt nicht ban­ge zu sein, wenn es um al­les so gut stän­de wie um den!

Selt­sam –: In den letz­ten be­läm­mer­ten Wo­chen ist die Erin­ne­rung an das Zen­tral­ge­fäng­nis in je­ner klei­nen Stadt wie eine se­li­ge In­sel aus dem grau­neb­li­gen Meer sei­nes Le­bens auf­ge­taucht. War es nicht eine herr­li­che, ru­hi­ge Zeit, als er dort in sei­ner Zel­le leb­te und nichts wuss­te von Geld, Kohldampf, Ar­beit, Blei­be …?

Er stand mor­gens auf und wie­ner­te sei­ne Zel­le, er ging zur Frei­stun­de und schwätz­te mit Schick­sals­ge­fähr­ten, er stand am Netz und strick­te – die Stun­den ran­nen da­hin, mit­tags gab es Erb­sen, und man freu­te sich, oder Rum­futsch, und man är­ger­te sich, freu­te sich aber auf die Lin­sen mor­gen – eine se­li­ge In­sel also, wie ge­sagt.

Was Wun­der, dass bei der In­sel auch der ku­ge­li­ge weiß­blon­de See­hunds­kopf des klei­nen Emil Bruhn mit sei­nen was­ser­blau­en Au­gen auf­tauch­te! Emil hat­te recht ge­habt, es wäre schlau­er ge­we­sen, er wäre mit ihm ge­gan­gen, statt nach Ham­burg zu zie­hen.

Es hat­te ja nun zwei Rich­tun­gen da­mals ge­ge­ben: die Rich­tung Batz­ke (ich bin Ga­no­ve, und ich blei­be Ga­no­ve) und die Rich­tung Bruhn (ein­mal und nie wie­der): Ich, Ku­falts Wil­li, Dus­sel, das ich bin, ich habe es dar­auf an­kom­men las­sen, ich habe nicht ja ge­sagt, ich habe nicht nein ge­sagt – und hier sit­ze ich mit mei­nem Ta­lent!

Na­tür­lich gab es im­mer noch die Mög­lich­keit, sich für das Eine oder für das An­de­re zu ent­schei­den, man konn­te Bruhn einen Brief schrei­ben, dass man doch käme, oder man konn­te mit Hil­fe des Ein­woh­ner­mel­de­am­tes auf die Su­che nach Batz­ke ge­hen. Aber das war es ja ge­ra­de, wo­vor Batz­ke ge­warnt hat­te: Es war zu spät. Nun war das Geld alle, man hat­te kein Be­triebs­ka­pi­tal mehr, um ein rech­tes Ding aus­zu­bal­do­wern, zu si­chern, zu fi­nan­zie­ren, man muss­te et­was Über­stürz­tes ma­chen, das im­mer miss­lang. Und das Geld, hier sei­ne Zel­te ab­zu­bre­chen und zu Bruhn zu fah­ren, das hat­te man eben auch nicht mehr, mit all den Sa­chen – und sich jetzt be­reits von ih­nen zu tren­nen, stand es denn wirk­lich schon so schlimm?

Die­se Ok­t­ober­son­ne mein­te es noch recht gut, in ih­rem Schein, in ih­rer Wär­me sah die Welt wirk­lich nicht so ver­zwei­felt aus, es wür­de sich schon et­was fin­den, nur ein Ent­schluss muss­te erst ein­mal kom­men.

Nur ein Ent­schluss.

Ei­nen Ent­schluss, der hier ge­wöhn­lich um die­se Stun­de an re­gen­frei­en Ta­gen ent­lang­stö­ckel­te, den kann­te Ku­falt schon. Es war ein Par­al­lel­ent­schluss zu Batz­ke, die­ser Ent­schluss hieß Emil Mon­te.

Ja, die bei­den Pro­spekt­pa­cker aus der se­li­gen Cito-Pre­sto hat­ten sich hier wie­der­ge­trof­fen. Aber in letz­ter Zeit kann­ten sie sich nicht mehr, sie zo­gen den Hut nicht mehr vor­ein­an­der, sie ver­ach­te­ten ei­ner den an­de­ren.

Zu­erst, das ers­te Mal, war es ja ein freu­di­ges Wie­der­se­hen zwi­schen den bei­den ge­we­sen, sie hat­ten so viel zu er­zäh­len, Ku­falt von sei­nen Er­leb­nis­sen in der Po­li­zei­haft und dem end­li­chen Tri­umph der Un­schuld, Mon­te von der Auf­lö­sung der Schreib­stu­be, wie sie ge­jam­mert, wie sie ge­fleht hat­ten vor Mar­ce­tus, vor Sei­den­zopf, vor Jauch – man möch­te sie wie­der in Gna­den auf­neh­men nach Pre­sto, ins Frie­dens­heim, zum hal­b­en Lohn ih­ret­hal­ben – was in al­ler Welt soll­ten sie in die­ser Welt an­fan­gen, die­se ar­men, von Ku­falt und Maack ver­führ­ten Her­ren Deutsch­mann, Öser, Fas­se oder wie sie alle hie­ßen …?!

Und nach lan­gem Zö­gern, nach stren­gen Zu­rück­wei­sun­gen, nach fürch­ter­li­chen An­schnau­zern hat­te sich der Herr Pas­tor Mar­ce­tus schließ­lich doch wie­der ih­rer er­barmt – konn­te man sie denn so ver­kom­men las­sen, im Pfuh­le der Groß­stadt? Und schon seufz­ten sie, tra­fen sie sich ein­mal mit Mon­te, von Neu­em un­ter dem har­ten Joch Jauchs, der nicht mit Sti­chel­re­den, Ta­deln, Stra­fen spar­te –: »Noch ein Wort, und Sie sit­zen auf der Stra­ße! Sie wis­sen doch, nicht wahr …«

Was aber wie­der die Her­ren Jäns­ch und Maack an­ging, so sa­ßen sie im­mer noch in Un­ter­su­chungs­haft. Die­ser Dieb­stahl, der kein Ein­bruchs­dieb­stahl ge­we­sen war, hat­te sich als eine recht kom­pli­zier­te Ge­schich­te er­wie­sen – denn hat­te nicht je­der von den bei­den einen An­teil an die­sen von ih­nen zu­sam­men­ge­pack­ten Schreib­ma­schi­nen be­zahlt? Kühn­lich be­haup­te­ten sie, die Ab­sicht ge­habt zu ha­ben, die Ra­ten wei­ter ab­zu­tra­gen, und da sie im Be­sitz nicht un­er­heb­li­cher Geld­mit­tel wa­ren, konn­te man ih­nen nicht ein­mal die Un­mög­lich­keit sol­cher Ra­ten­zah­lung vor­hal­ten.

Wo­her Mon­te das wuss­te? Mon­te wuss­te al­les!

Denn Mon­te war nicht zu Kreu­ze ge­kro­chen, Mon­te hat­te, wie er schon öf­ter ge­sagt hat­te, für eine län­ge­re Zeit sei­nes Le­bens ge­nug ge­ar­bei­tet, Mon­te hat­te sei­nen al­ten Be­ruf wie­der­auf­ge­nom­men!

Und die­ser alte Be­ruf war es ja eben, der ihn an fast je­dem schö­nen Mor­gen durch die be­leb­te­ren Stra­ßen, die von Frem­den be­vor­zug­ten An­la­gen Ham­burgs führ­te: Mon­te war auf Jagd nach Kund­schaft, nach wür­di­gen äl­te­ren Her­ren, die so ver­schämt und zim­per­lich ta­ten wie jun­ge Bür­ger­mäd­chen, und nach Eng­län­dern mit Raff­zäh­nen, die nach ab­ge­wi­ckel­tem Ge­schäft mit ei­ner Bul­len­bei­ßer­wut um jede Mark feilsch­ten.

Da­rum eben war es ja ge­kom­men, dass die­se bei­den letz­ten Säu­len der glück­li­chen Cito-Pre­sto sich ent­zwei­en konn­ten, so­dass sie sich heu­te nicht ein­mal mehr grüß­ten: Mon­te hat­te je­man­den, also Ku­falt, ha­ben wol­len, der für ihn die Ma­rie ziep­te.

Oder ge­nau­er ge­sagt: Ei­gent­lich kam die Dif­fe­renz aus ei­nem Streit her, um das Rauch­ba­re, die­se Quel­le al­ler Dif­fe­ren­zen, im Kitt­chen und drau­ßen. Über al­les an­de­re hät­te sich eine Ei­ni­gung er­zie­len las­sen, aber in der Ta­bak­fra­ge hat­te Mon­te eine ge­wis­se Eng­her­zig­keit, eine große Klein­zü­gig­keit be­wie­sen: da­her die Ver­stim­mung.

Beim ers­ten Wie­der­se­hen war na­tür­lich al­les in schöns­ter But­ter ge­we­sen. Die bei­den hat­ten an­ge­regt mit­ein­an­der ge­plau­dert, Mon­te hat­te häu­fig Ku­falt sein dickes sil­ber­nes Zi­ga­ret­te­ne­tui hin­ge­reicht, und da­bei hat­te er na­tür­lich ge­merkt, dass Ku­falt klamm war. Denn ers­tens hat­te der nur Juno zu drei­ein­drit­tel bei sich ge­habt, wäh­rend Mon­te Ari­ston zu sechs rauch­te, und zwei­tens hat­te Ku­falt von die­ser Juno nur drei Stück ge­habt, wäh­rend Mon­te gleich­gül­tig sa­gen konn­te: »Wenn die alle sind, gib­t’s im nächs­ten La­den mehr.«

Nun gut, al­les war in den an­ge­nehms­ten For­men ver­lau­fen, Ku­falt hat­te sich was zu­gu­te ge­tan mit Rau­chen, und für den nächs­ten Tag hat­ten sie sich wie­der ver­ab­re­det, an die­sel­be Stel­le.

Aber am nächs­ten Tag fing nun eben Mon­te an zu er­zäh­len, was für Ma­le­sche er mit sei­nen Kun­den we­gen der Ma­rie hat­te. Er brauch­te ge­ra­de einen, der für ihn das Geld ziep­te, wie er es nann­te, das heißt, sein Kom­pa­gnon soll­te ge­gen fünf­und­zwan­zig Pro­zent der Ein­künf­te sich in der Nähe auf­hal­ten und, hat­ten die Her­ren sich erst ih­rer Ober­klei­der ent­le­digt, eine klei­ne Brief­ta­schen­re­vi­si­on vor­neh­men.

O Gott, nein, bei­lei­be nein, etwa die Brief­ta­sche klau­en? Nicht in die Hand, nicht in die la main, nein, nur zur Er­leich­te­rung des Zah­lungs­ver­kehrs, nicht wahr, etwa einen Zehn­mark­schein? Na­tür­lich auch mal einen Fünf­zig­mark­schein, war die Ta­sche sehr ge­spickt.

Bis hier­her war al­les recht gut ge­gan­gen, Ku­falt hat­te sich im Be­wusst­sein des groß­mü­ti­gen Mon­te gar nicht erst mit Rauch­wa­re ver­se­hen, flei­ßig hat­te er aus der Sil­ber­do­se mit­ge­schmökt. Aber hier war nun der Punkt ge­kom­men, der ent­schei­den­de, die Vor­schlä­ge wa­ren ge­macht, die Ant­wort wur­de er­war­tet – und da hat­te Mon­te ein ge­wis­ses Zö­gern, den Vor­bo­ten ei­ner Ab­wei­sung ge­wis­ser­ma­ßen, auf Ku­falts Zü­gen zu be­mer­ken ge­glaubt.

So hat­te er denn aus­ein­an­der­ge­setzt, dass man bei sol­cher Zie­pe­rei über­haupt nichts ris­kier­te, es gab einen Pa­ra­gra­fen hun­dert­fünf­und­sieb­zig, und Mon­tes Kun­den hat­ten einen groß­mäch­ti­gen Re­spekt vor die­sem Pa­ra­gra­fen. Au­ßer­dem wür­de er sei­nen Ku­falt schon an­ler­nen, der wür­de bald wis­sen, wo es zu ris­kie­ren war und wo nicht.

Und wäh­rend er dies al­les aus­ein­an­der­setz­te, hat­te er träu­me­risch in sei­ne Zi­ga­ret­ten­do­se ge­blickt, sich eine ge­nom­men, Ku­falt an­ge­blickt, die sich an­ge­steckt, Ku­falt wie­der an­ge­blickt, wei­ter­ge­spro­chen, ge­pafft, wei­ter­ge­spro­chen …

Ku­falt aber ge­hör­te zu den Men­schen, die an­de­re nur dann rau­chen se­hen kön­nen, wenn sie selbst eine zwi­schen den Lip­pen ha­ben. Er hat­te den lieb­li­chen Duft der Ari­ston ge­ro­chen, er hat­te gut ver­stan­den, warum ihn Mon­te so an­ge­blickt hat­te.

Ja­wohl, das An­ge­bot war viel­leicht nicht ein­mal so schlecht ge­we­sen, trotz­dem es Ku­falt nicht ganz lag, je­den­falls hät­te man es sich gründ­lich über­le­gen kön­nen – aber wenn die­ser Ben­gel, die­ser Pupe, da so saß und ei­nem was vor­rauch­te und dach­te, da­mit hät­te er ihn, so hat­te er sich ge­schnit­ten!

Eine kur­ze Aus­ein­an­der­set­zung war ge­folgt, Ku­falt hat­te Mon­tes Le­bens­wan­del ge­mein, Mon­te Ku­falts Ver­hal­ten dus­se­lig ge­fun­den, schließ­lich gin­gen sie aus­ein­an­der, der eine hier­hin, der an­de­re dort­hin – und kann­ten sich für­der nicht mehr.

Das war im Au­gust ge­we­sen, und jetzt war es Ok­to­ber, zwei Mo­na­te glei­chen viel aus. Wenn Ku­falt jetzt über sei­nen Le­ber­wurst-Rund­stücken die Vor­über­ge­hen­den mus­ter­te, so viel­leicht dar­um, weil Mon­te ihm nicht un­ge­le­gen ge­kom­men wäre. Hät­te Mon­te da­mals nur ein biss­chen mehr Ver­stand in sei­nem Lo­cken­schä­del ge­habt und be­grif­fen, dass es mit Rauch­wa­re­ner­pres­sung nicht zu ma­chen war, so hät­te man ein Ge­schäft tä­ti­gen, eine Kum­pe­la­ge be­grün­den kön­nen.

 

Aber kein Mon­te ließ sich se­hen, kein Mon­te kam.

Wer statt­des­sen kam, war ein großer, dun­kel­haa­ri­ger Mann, mit ei­ner le­der­ar­ti­gen grau­en Haut, mit sehr ein­dring­li­chen, star­ken, schwar­zen Au­gen, in ei­nem äu­ßerst auf­fal­len­den groß­ka­rier­ten An­zug.

»Mein Gott, Batz­ke!« rief Ku­falt fas­sungs­los aus.

»Hal­lo, Wil­li!« sag­te Batz­ke und setz­te sich ne­ben ihn auf die Bank.