War es Erlösung gewesen? Hatte es auch nur Erleichterung gebracht?
In den Nächten, in denen er sich um Liese gequält hatte, hatte er sich alles leicht und erlöst gedacht, wenn sie nur einmal zu ihm gekommen wäre. Nun war sie gekommen – und wo waren Leichtigkeit und Glück? Wieder saß er an seiner Schreibmaschine – diese Nacht war nun zwei Wochen vorbei – oder gar drei? –, und alles war genauso schwer. Oder noch schwerer …?
Da sitzt er nun also und tippt. Ein paar Tage lang, direkt danach, war es besser gegangen, ja, es war sogar so gut gegangen, dass Jauch es aufgegeben hatte, hinter seinem Stuhl zu stehen – nichts mehr zu machen. Dann sackte er langsam wieder ab. Er riss sich zusammen, er wollte nicht wieder der Prügelknabe werden. Zwei- oder dreimal war Maack schon in die Diktatstube geholt worden – sollte er ewig über diesen Adressen sitzenbleiben?
Aber es war, als sei seine Kraft von innen gelähmt: Eben noch war er wach gewesen und mitten in der Arbeit und eigentlich fröhlich; plötzlich war es, als versagte sein Gehirn, es war nur noch eine Leere da, als gäbe es einen Kufalt nicht mehr. Kann in einem Hirn eine Gefängniszelle stehen, enger Raum mit Gitter und Schloss, und etwas Gestaltloses darin, auf und ab, auf und ab, etwas Eingesperrtes, das nie heraus kann?
»Pass Achtung, Mensch!« flüstert Maack. Schon ist Jauch da.
»Ich habe hier fünf Originalzeugnisse, Herr Kufalt. Abschrift mit vier Durchschlägen, normalzeilig, in einer Stunde werden sie abgeholt. Aber fehlerlos, wenn ich bitten darf, kein Übertippen, keine schwebenden S!«
»Nein«, sagt Kufalt.
»Sie sagen nein, natürlich sagen Sie nein, nun, ich werde ja sehen. Es ist jedenfalls mein letzter Versuch.«
Kufalt ging groß daran, es war seine erste qualifizierte Arbeit, er würde zeigen, die würden sehen, Jauch würde staunen …! Aber seltsam, es waren zwei Worte oder drei von diesem Jauch: fehlerlos, kein Übertippen, keine schwebenden S – jedes Wort wurde zum Hindernis.
Waren es nur zwei oder drei Hindernisse? Alles war Hindernis!
Vier Durchschläge – wie leicht konnte man sich verzählen! Lag das Kohlepapier richtig? Originalzeugnisse – nur keinen Fleck darauf machen, der Daumen hat etwas Schwärze vom Kohlepapier abbekommen, zur Wasserleitung, drei Minuten Schreibzeit verloren – ans Werk!
Lehrzeugnis
Elmshorn, den 1. Oktober 1925
Herr Walter Puckereit, geboren den 21. Juli 1908 als Sohn des Bäckermeisters Walter Puckereit, hierselbst, hat vom 1. Oktober 1922 bis heute in meinem altrenommierten Eisenwarengeschäft seine Lehrzeit als …
Und so weiter, und so weiter.
»Bald fertig, Herr Kufalt?«
»Ja, bald.«
»Sieht nicht so aus. Sagen Sie lieber gleich, wenn Sie’s nicht können. Sie können’s ja doch nicht.«
»Doch, ich kann.«
»Wir werden es ja sehen. Jedenfalls müssen Sie bei vier Durchschlägen viel kräftiger anschlagen – lassen Sie mal sehen, na ja, wie ich gedacht habe, blass, grau. Noch einmal von vorne …«
Während Kufalt seine Bogen neu zurechtlegt, flüstert Maack: »Immer Ruhe! Immer die Nerven behalten! Der will dich nur einschüchtern!«
Kufalt lächelt ängstlich und dankbar, beginnt zu tippen: »Lehrzeugnis« – schreibt man Zeugnis nicht eigentlich mit ß? Egal, wie’s hier steht, ist’s richtig. – Puckereit, nicht Packereit – o Gott! Übertippen? Darf ich nicht. Fünfmal radieren? Neu anfangen? Also noch einmal neu anfangen! Aber diesmal muss es werden!
Maack sieht nicht mehr hoch, Jauch ist in sein Zimmer gegangen, keiner sieht hin zu ihm. Oder sehen sie doch verstohlen hin zu ihm?
Diesmal kommt er bis zur dritten Zeile des ersten Zeugnisses, das schwebende S (diesmal ist es ein schwebendes G) bricht ihm den Hals. Während er das Durchschlagpapier mit dem Kohlepapier neu zurechtlegt, schielt er nach Maack hinüber, aber Maack sieht nichts, tippt wie wild.
Ach, er reißt sich zusammen, es gelingt, Zeile auf Zeile, fehlerlos, gleichmäßig, nun ist sofort die erste Seite fertig – und eine Ahnung überkommt ihn, er sieht nach: Also doch! Er hat das Kohlepapier falsch herum eingelegt, Spiegelschrift auf vier Blättern, das fünfte, letzte Blatt ist weiß!
Er sitzt da, es ist zwecklos, dagegen anzugehen, es ist ein Teufel in ihm, der gegen ihn kämpft. Sie haben den in ihm großgezogen fünf Jahre durch, sie haben ihn unfähig gemacht. »Geh dorthin!« haben sie gesagt, »tu das und jenes!« haben sie befohlen – und nun draußen hat es geschnappt, die Feder ist schlaff geworden –: zwecklos!
Es war am dritten Abend danach, er war auf den Gang hinausgelaufen, als die Flurtür ging, er hatte atemlos gesagt: »O meine Süße, ich habe mich so nach dir gesehnt!« Er hatte sie um den Hals gefasst … »Was bilden Sie sich denn eigentlich ein?!« hatte sie gefragt, hatte sich freigemacht, war schon fort gewesen in der Küche bei ihrer Mutter … Zwecklos …
»Gib’s schnell rüber, Kufalt«, flüstert Maack. »Ich tipp’s dir. Rasch! Vorsichtig, dass es keiner sieht, die machen ja alle Lampen, die Brüder! Danke! Tipp du weiter Adressen.«
Wie die Maschine drüben schmetterte, hämmerte, klingling, weiter, neue Zeile, klingling, weiter, neue Zeile, klingling …
Ging die verhasste Tür dahinten nicht? Noch elf Minuten. Maack hat gleich die dritte Seite fertig, nein, die Tür ging nicht, höchstens noch eine halbe Seite …
»Also geben Sie her, Kufalt!« Und – höchstes Erstaunen: »Wieso …? Wieso schreibt Herr Maack das? Habe ich ihm die Arbeit gegeben oder Ihnen?«
»Ich …«, stammelt Kufalt. »Ich habe ihn gebeten, ich war so nervös, ich habe mich ein paarmal vertippt …«
»Sooo«, sagt Herr Jauch. »So! Und warum wenden Sie sich da nicht an mich? Bin ich Schreibstubenleiter, oder sind Sie es? Jedenfalls werde ich den Vorfall Herrn Pastor Doktor Marcetus melden. Durchstechereien dulde ich nicht. Hier einen falschen Eindruck erwecken … Geben Sie her, Herr Maack.«
Weiterschreiben, weiterschreiben, immer tüchtig weiter, es bringt nur fünfzehn Mark die Woche, diesmal nur zwölf vielleicht, aber heute ist Dienstag, und am Freitag erst hält Marcetus seinen allwöchentlichen Gerichtstag ab in der Schreibstube Presto: Man kann nicht tatenlos warten, man muss weitertippen – Quälerin!
»Mach dir nichts draus, Kufalt. Mit dem Pfaffen werde ich schon reden. Und wenn wir wirklich hops gehen, ich hab ’ne ausgezeichnete Idee. Nicht, was du denkst, keine Spur, was ganz Reelles. Nun, wir werden ja sehen …«
»Und, Herr Pastor«, sagt Maack zu dem weißhaarigen Doktor honoris causa, »ich bin überhaupt der Ansicht, mit Einschüchtern ist es nicht zu schaffen. Sehen Sie hier, mein Freund, der Kufalt …«
»Einen Augenblick«, unterbricht Pastor Marcetus und hebt seine weiße volle Hand. »Einen Augenblick, bitte! Sie wissen, meine Herren, sehr genau, dass ich diese Freundschaften unter Bestraften nicht wünsche. Ihnen beiden ist grade darum erlaubt worden, außerhalb des Heims zu wohnen, damit Sie wieder Anschluss an die rechtsbewusste bürgerliche Welt finden. Und Sie sagen: mein Freund, der Kufalt!« Er sieht die beiden streng an. »Überhaupt ist, wie Sie wohl wissen, das Sprechen der in den Schreibstuben Beschäftigten untereinander verboten. Woher kennen Sie sich da …?«
Er betrachtet sie, die stumm sind.
»Einschüchtern«, grollt der Pastor. »Ich kenne Herrn Jauch seit zehn Jahren, ich habe ihn nie anders als freundlich, pflichteifrig, seiner Aufgabe hingegeben gefunden. Aber vielleicht ist es gerade das, was Sie Einschüchtern nennen, dass er pflichteifrige Arbeit von Ihnen verlangt …?«
»Aber …«, setzt Maack ein.
»Einen Augenblick, bitte. Als Herr Kufalt zu uns kam, war er alles andere als ein guter Arbeiter, aber – ich habe das verfolgt – er hat achtzehn, zwanzig, auch ein- oder zweimal zweiundzwanzig Mark die Woche verdient. Von einem gewissen Zeitpunkt ab sank seine Arbeitsleistung ständig. Wie mir Herr Jauch mitteilt, wird er diese Woche kaum zehn Mark verdienen. Also, Herr Kufalt …«
Kufalt setzt an. Es ist ja gar nicht so lange her, dass er groß dastand vor Pastor Marcetus, er hatte ihn gewissermaßen in der Tasche, aber auch vorher hatte er mit ihm reden können. Wo war das hin?
Zögernd sagt er: »Herr Pastor, Sie denken, es ist, weil ich aus dem Heim rausgegangen bin, dass ich jetzt etwas anderes im Kopf habe. Aber glauben Sie mir, Herr Pastor, ich geb mir Mühe, ich geb mir alle Mühe von der Welt. Aber es ist plötzlich wie Schluss, ich geb mir alle Mühe von der Welt, und dann ist es, als wenn ich krank wäre, nicht richtig krank, verstehen Sie, aber so von dem langen Sitzen, als könnte man nichts mehr …«
»So«, sagt der Pastor. »So. Sie behaupten also, Sie haben jetzt noch nachträglich so etwas wie eine Haftpsychose gekriegt – es klingt nicht sehr wahrscheinlich. Wir haben nun wieder durch Herrn Petersen ermittelt, dass Ihre Zimmerwirtin eine besonders hübsche Tochter hat, eine Tochter von nicht übermäßig gutem Ruf. Ja, Herr Kufalt …?«
Kufalt steht da. Wenn doch Maack ein Wort sagte! Aber Maack steht da und schweigt, rückt an seiner Brille und schweigt. Natürlich ist er wütend, weil Kufalt ihm nie etwas von dieser Tochter gesagt hat, ihn hat Angebote machen lassen – und es ist doch alles ganz anders!
»Also«, sagt Marcetus nach langem Schweigen. »Wir versuchen es noch eine Woche mit Ihnen; wenn da Ihre Arbeit nicht klappt – mindestens achtzehn Mark die Woche –, müssen wir von einer weiteren Beschäftigung absehen, Herr Kufalt. Ich werde auch Herrn Jauch sagen, dass er Sie völlig in Ruhe lässt, damit nicht wieder von Einschüchtern die Rede ist. Guten Morgen, meine Herren. – Ach, einen Augenblick, Herr Maack. – Nein, Sie können immer gehen, Herr Kufalt.«
Erst nach Feierabend kann Kufalt wieder mit Maack sprechen: Es sitzen zu viel Aufpasser und Zwischenträger in der Schreibstube. Sie gehen langsam im hellen Sonnenschein den Alsterdamm hinunter, überqueren den Glockengießerwall und sind nun an der Außenalster, die schön sommerlich von weißen Segeln und kleinen Dampfern belegt ist.
»Was wollte er eigentlich noch von dir?« fragt Kufalt.
»Ach«, sagt Maack, »so das Übliche, was die alle machen, die Antreiber: uns gegeneinander aufhetzen, Neid …«
»Erzähl schon«, sagt Kufalt etwas betroffen, ihm wird plötzlich klar, was die Schreibstube ohne Maack sein würde.
»Ich soll morgen ’ne Aushilfe kriegen in einem Exportgeschäft. Wenn ich mich da mache, werden die mich für immer behalten. Sagt er.«
»So«, sagt Kufalt wieder. »Und du?«
»Dreh dich rasch um!« flüstert Maack. »Rasch, rasch.«
Er fasst Kufalt unter dem Arm und zieht ihn hin zu einem Herrn, der, einen Strohhut in der Hand, halb hinter einem Baum versteckt, gedankenvoll das hamburgische Wasserleben betrachtet.
»Guten Abend, Herr Patzig.«
Der lange schlenkrige Jüngling sieht verlegen auf, er grüßt mit der Kreissäge1 in der Hand, er sagt: »Ach, guten Abend …«
»Das war nämlich die Hauptbedingung, Kufalt, für die Aushilfsstellung im Export: dass ich den Umgang mit dir aufgebe, Kufalt. Schickt sich nicht, dass Verbrecher mit Verbrechern umgehen, lernen nichts Gutes voneinander, weißt du.«
Die beiden betrachten ernst den Jüngling, der immer röter geworden ist.
»Ich bin wirklich hier nur spazierengegangen«, sagt Patzig von der Portokasse.
»Ja, nun wird der Herr Patzig wohl die Aushilfsstellung im Export bekommen.«
Maack schiebt mit einem Stoß des Zeigefingers die Brille auf dem Nasenrücken zurecht und reibt dann gedankenvoll das Kinn. Wenn Maack auch alte Sachen anhat, er sieht immer tadellos aus, gut rasiert und mit gepflegten Händen und die Hosen in tadellosen Brüchen.
»Wird ihm vielleicht doch noch mal sauer aufstoßen, dem Jungen, die Arschkriecherei, was meinst du?« sagt Maack.
Kufalt sagt nichts, er betrachtet Patzig, der nicht mehr rot, sondern sehr weiß ist.
»Ich bin wirklich nur spazierengegangen«, beteuert der noch einmal, »wirklich und wahrhaftig!«
»Natürlich«, höhnt Maack. »Immer fein hinter uns her, von der Schreibstube an …«
»Pass auf!« schreit Kufalt.
Aber Maack hat seinen Hieb schon weg, von unten her gegen das Kinn, gar nicht so schlecht für so ein mickriges Geschöpf, wie es der Patzig ist.
»Ihr könnt mir doch alle …!« sagt er und sieht befriedigt Maack an, der sich energisch sein Kinn reibt. Dann setzt er energisch den Strohhut auf, sagt nun seinerseits »Guten Abend« und will gehen.
»Augenblick mal«, sagt Maack. »Augenblick, Patzig – sind Sie wirklich nur spazierengegangen?«
»Wenn du noch eine haben willst?«
»Hat dich nicht der Jauch uns nachgeschickt oder der Pfaffe, dass du uns in die Pfanne haust?«
»Ich will euch mal was sagen«, erklärt der Patzig und gibt gewaltig an, »ich will euch mal was erzählen! Ihr denkt immer, ihr seid was, ihr alten Ganoven. Ihr spuckt Bogen, noch und noch, weil ihr fünf Jahre Knast geschoben habt oder zehn – und weil ich nur ein halbes Jahr abgerissen habe …«
»Halt mal«, sagt Maack.
»Nee, nich halt mal. Aber ein halbes Jahr oder zehn Jahr: Ich hab’s genauso schwer wie ihr, wieder reinzukommen, nee, ich hab’s noch viel schwerer, denn ihr habt einen Zusammenhalt, und ich hab gar nichts …«
»Halt, halt, du! Und wie ist es mit dem Verpfeifen?«
»Hab ich dich schon verpfiffen oder den anderen, deinen Freund, den Pflaumenweichen? Pass man Achtung, dass der dich nicht mal verpfeift, der sieht viel eher so aus …«
»Wenn du wieder kess wirst, Patzig …«
»Krieg ich noch eine wie eben?« fragt Patzig und grinst. »Natürlich muss ich katzbuckeln und kriechen vor dem Jauch und dem Pfaffen – aber deswegen Lampen machen – noch lange nicht! Ich habe noch keine gemacht, im Kittchen nicht und hier draußen auch nicht. Aber ihr, ihr denkt immer gleich, das ist ein Linker, ihr denkt, ihr habt die Solidarität gepachtet. Ihr seid ja bloß ’ne Clique, ihr Brüder, du denkst, du bist der Bulle und kannst alle – aber du kannst nur die paar von deiner Clique, und Solidarität – davon hast du überhaupt keine Ahnung, weißt du das!«
Im Eifer seines Redens hat er sich wieder den Strohhut vom Kopf gerissen und fuchtelt damit dem Maack vorm Gesicht rum.
»Säg mir bloß nicht die Glotzer aus der Kohlrübe«, sagt Maack freundschaftlich. »Aber ich versteh schon: Du willst sie alle beglücken und bist für Gerechtigkeit und so ’nen Quatsch. Ich geb mich nicht mit Politik ab, ich denk an mich und meine Olle, und vielleicht brauch ich den Kufalt mal und ein paar Jungen, die stiekum sind – danach lins ich …«
»Ach, was du schon linst! Große Sache im Gang – und hast noch nichts gerochen, was?«
Er sieht erwartungsvoll die beiden an und fängt an zu lachen, als er den Maack richtig verlegen gemacht hat.
»Große Sache?« murrt der. »Ich fass kein Ding mehr an, dass du’s nur weißt, kannst du ruhig deinem Jauch bestellen.«
»Komm doch nicht wieder auf die Tour. Ganz reelle Geschichte, großer Auftrag unterwegs, hast du noch nicht gemerkt, dass der Jauch jeden Morgen telefoniert und läuft?«
»Na und?« fragen die beiden und verstehen noch immer nichts.
»Zweihundertfünfzigtausend Adressen unterwegs, vielleicht sogar dreihunderttausend. Textilversandfirma. Zur Herbst- und Wintersaison ein bisschen Propaganda, nicht?«
»Wäre fein, wenn das die Schreibstube kriegte. Mindestens ein Monat Arbeit«, stimmt Maack zu.
Aber Patzig lacht. »Wenn die ihn kriegte! Jauch verlangt zwölf fürs Tausend einschließlich Kuvertieren und Markenkleben, und die Schreibstube Cito im Großen Burstah macht’s vielleicht für elf. Aber die schludern. Wenn da einer käme und täte es für zehn oder vielleicht gar für neun …«
Er macht eine lange träumerische Pause. »Dreihunderttausend Adressen«, sagt er dann.
»Dreitausend Mark Arbeitsverdienst«, sagt Kufalt hingerissen. »O Junge, Junge …«
»Für zehn Mann einen Monat Arbeit – macht auf die Nase dreihundert Mark«, rechnet Maack. »O Mensch, Patzig!« bricht er plötzlich aus. »Wenn wir’s kriegen, ich nehm dich mit, du kannst mitmachen. Du sollst nicht mehr auf Solidarität schimpfen, Geld verdienen sollst du.«
»Nee, nee«, sagt Patzig. »Ich hab’s euch erzählt, damit ihr seht, ich bin gar nicht so. Damit ihr kapiert, was für flaue Köppe ihr seid, nichts merkt ihr. Aber ich geh weiter zum Jauch, ich denk immer, mit den Pfaffen fährt man am sichersten.«
»Na schön«, sagt Maack. »Jeder muss wissen, wie dumm er verträgt. Wir geben dir dann was ab, wenn es soweit ist, kannst dich mal satt futtern auf unsere Kosten.«
»Ach nee?« fragt Patzig. »Darf ich das? Und wisst noch nicht mal den Namen der Firma? Und habt keine Schreibmaschinen? Und den Auftrag auch nicht? Will ich erst mal nach Hause gehen futtern, wenn ich auf euch wartete …!«
Und will wirklich gehen.
Nun, sie kriegen ihn herum, ach, wie anders stehen sie nun vor dem Portokassenjüngling. Sie bitten und beschwören ihn: »Nur die Adresse, bist auch ein feiner Kerl, bloß Namen und Adresse. Hundert Mark geben wir dir.«
»Behaltet man eure hundert Mark, könnte ich schön lange darauf warten. Klemmzig und Lange, Hamburger Straße in Barmbeck. Nummer 128.«
So – endlich, uff! Schwein, miserables, uns so zu quälen! Der kann seinen hundert Mark auch lange nachgucken, Stubben, der dämliche, uns so hochzunehmen!
1 gemeint ist natürlich ein Strohhut <<<
Sie müssen schnell handeln, und sie müssen ganz im Geheimen handeln, soviel ist sicher. Sie müssen weiter brav auf die Schreibstube gehen, denn vielleicht kriegen sie den Auftrag doch nicht, und dann bleibt die Schreibstube einzige Existenzmöglichkeit. Sie müssen sich erkundigen, unter welchen Bedingungen Schreibmaschinen zu kaufen sind, natürlich auf Raten, sie müssen sich nach einem Geschäftslokal umsehen – aber den ganzen Tag müssen sie bei Presto an der Maschine sitzen!
Kufalt und Maack haben sich die Lunge aus dem Hals gerannt: Es ist ihnen gelungen, noch an diesem denkwürdigen Abend fünf Leute von der Schreibstube zusammenzutrommeln, die stiekum sind: den wilden Jänsch, Sager, Deutschmann, Fasse, Öser.
Sie sitzen in Maacks Dachkammer auf Bett, Fensterbrett, Waschkommode, dem einen Stuhl. Maacks Mädchen haben sie hinausgeschmissen. »Geh ein bisschen auf die Straße, Lieschen. Tu auch mal was für deinen Süßen«, haben sie gesagt.
»Grade schön!« hat sie geantwortet und mit ihren blanken Kirschenaugen durch ihre gedrehten Pferdelocken gelacht.
»Hier! Jeder gibt ’nen Groschen. Kannst ins Café gehen, Lieschen.«
»So dumm! Wenn ich endlich mal Ausgang habe! Wann soll ich denn wiederkommen?«
»Hau bloß ab. Du brauchst überhaupt nicht wiederzukommen. – Na, sagen wir, um zwölf«, sagt Maack.
Zuerst sind sie alle geblendet von der Aussicht auf selbstständige Arbeit und so viel Geld! Alle reden sie durcheinander, sie beweisen sich, dass es geht, dass sie vollkommen genug sind zu sieben, man wird eben ganz anders reinhauen in die Maschinen, neun Stunden Arbeit ist nicht, zwölf, vierzehn, Sonntag ist nicht, siehst mal dein Lieschen vier Wochen gar nicht an, du reißt dich zusammen, Kufalt, geht alles auf Kippe, oder bezahlen wir wie bei Presto nach dem Tausend?
»Aber wir haben den Auftrag noch nicht!«
»Ja, wer holt den Auftrag rein?«
»Du musst in der Schreibstube Schluss machen, Kufalt, du fliegst ja doch!«
»Wieso fliege ich? Ich schaff ’s schon. Ich hab’s mindestens so nötig wie ihr.«
Es zeigte sich, dass keiner von den sieben gesonnen ist, den Spatzen in der Hand fliegen zu lassen für die Taube auf dem Dach.
»Dann müssen wir eben jemanden nehmen, der sich von uns schicken lässt.«
»Aber er muss anständig aussehen.«
»Natürlich kein Ganove, das wissen wir selbst.«
»Und reden muss er können.«
»Und fein in Schale muss er sein.«
»Ja, wer weiß da einen?«
Keiner keinen.
»Die müssen doch auch Auskünfte einholen können über den!«
»Ja – ha?«
Sehr gedehnt, sehr gedehnt.
Es war doch verrückt, hier saßen sie, sieben Mann, sie brauchten nur jemanden, der einen oder zwei Wege für sie machte, jemanden mit reiner Weste aus der anderen, der bürgerlichen Welt.
Nein, keinen.
Arbeitslose genug, Vorbestrafte genug – aber schickt man so einen zu so was?
»Wenn man es ganz telefonisch machte?«
»Ausgeschlossen! Die müssen uns doch die Briefmarken anvertrauen und die Drucksachen und die Umschläge – da müssen sie doch jemand Knorken zu sehen kriegen, was?«
Ja, Vorschläge kamen schon, einer verdrehter als der andere.
»Unsinn! Ich kenn doch deinen Schwager! Der stottert ja schon, wenn ihn ein Hund anbellt!«
»Der Otsche? Der hat doch noch nie ’ne heile Hose auf dem Arsch gehabt, den bringen sie doch gleich auf die Wache!«
Sie saßen da und sahen sich stumm an. Schließlich stand Jänsch langsam auf.
»Also gehen wir nach Hause, Jungens. Mit uns wird es doch nie nichts. Schreiben wir eben die Adressen für Jauch und den fetten Pfaffen für fünf Mark. Die beiden fünf Mark, die ganze Schreibstube die anderen fünf Mark – ist doch sauber Kippe gemacht, nicht?«
Sie stehen alle da, noch etwas zögernd, es ist so schwer, aus diesem Traum fortzugehen. Eigene Arbeit, eigene Unternehmer, eigenes Geld, eigenes Geschäftslokal, eigene Maschinen – und die Aussicht auf Vorwärtskommen, vielleicht einmal eine eigene große Schreibstube …
»Also, adjüs …«, sagt Jänsch.
»Wisst ihr«, sagt Kufalt langsam, »ich hab’s ja nicht sagen wollen, aber vielleicht weiß ich doch einen. Er ist zwar ein ganz versoffenes Huhn …«
»Kommt gar nicht in Frage.«
»Aber er ist ein richtiger, gebildeter Herr, hat mal studiert, der würde es vielleicht fertigbringen …«
»Wie heißt er denn?«
»Woher kennst du ihn denn?«
»Kannst du ihn gleich holen?«
Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, Beerboom allein weiß die Adresse vom Berthold, und, abgesehen davon, dass sich Kufalt geschworen hat, nie wieder mit Beerboom zusammenzukommen –: Jetzt ist es gleich neun, er müsste nach Friedensheim zu Beerboom, ob der da ist, ob dann Berthold zu Hause ist, ob er mitkommen will, ob er gerade einigermaßen nüchtern ist …
»Also lassen wir es«, sagt Kufalt, entmutigt von so viel Hindernissen.
»Wieso! Lassen wir es? Hau ab, Mensch, und in einer Stunde zitterst du hier an mit deinem Berthold …!«
»Wir schmeißen dich die Treppe runter!«
»Los, angefasst! Läufst du freiwillig, oder sollen wir dich koppheistern …?«
Kufalt läuft schon, es ist verrückt, aber er läuft, es ist aussichtslos, aber er läuft schon …
Friedensheim, altes gutes Friedensheim, altes sorgenloses Friedensheim in der Apfelstraße …!
»’n Abend, Minna! Wolle-Teddy zu Hause? Nee, will ihn gar nicht sehen. Petersen da? Im Gesellschaftszimmer? Nee, will ihn gar nicht sehen. Beerboom da? Nee, nee, ich hol Sie nicht durch den Kakao, hab ich nie gemacht. – Beerboom da? Oben im Schlafsaal? Heult? Na schön, lassen Sie mich mal rauf. Dürfen Sie nicht? Ach, Minna, Goldminna, süßes Ekel, lassen Sie mich einmal rauf, mich, Ihren alten Heimbruder! Ich frag ihn nur was, Minna, ich geh gleich wieder weg, Sie kriegen auch einen …«
»Mit wem sprechen Sie denn da unter der Tür, Minna?« ertönt klagend Frau Seidenzopfs Stimme. »Fangen Sie mir bloß das nicht an in meinem Hause, mit fremden Herren!«
»Ist bloß der Kufalt, Frau Seidenzopf. Will den Beerboom besuchen, ich lass ihn schon nicht rein, Frau Seidenzopf …«
Und Minna schrammt die Tür zu.
Kufalt steht draußen.
O Gott, o Gott, was mach ich? Lauf ich zu denen zurück ohne Berthold, schimpfen die bloß … Und noch mal klingeln? Nachher erzählt es Seidenzopf dem Marcetus, und ich fliege gleich …
Er steht unschlüssig. Schließlich schleicht er durch den Vorgarten, denselben Vorgarten, in dem einmal der heute sehnsüchtig gesuchte Berthold – den Hut im Munde – kroch. Kufalt lugt durch das Fenstergitter, klopft kräftig gegen die Scheibe des Gesellschaftszimmers.
Es ist richtig Petersen, der herausschaut, zwei oder drei Köpfe hinter ihm.
»Guten Abend, Herr Petersen. Würden Sie wohl so freundlich sein, Herrn Beerboom ans Fenster zu rufen? Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges …«
Nun ist es doch so, dass Kufalt und Petersen sich nie wieder ganz richtig ausgesöhnt haben, seit jenem Abend mit dem missglückten Ausflug. Also legt Petersen sein Gesicht in bedenkliche Falten. »Sie wissen, Kufalt, Herr Kufalt, die Hausordnung, ich müsste erst mal Herrn Seidenzopf fragen.«
»Ach, seien Sie doch nicht so, Herr Petersen. Sie wissen doch, wie Vater Seidenzopf ist, der macht doch gleich wieder um das bisschen einen Haufen Kokolores. Ich verspreche Ihnen, es dauert keine zwei Minuten. Sie können alles mit anhören …« Und als er das Gesicht des anderen sieht: »Es ist wirklich sehr wichtig für mich und mein Fortkommen …«
Petersen, Student Petersen, Berater und Freund der Strafentlassenen, wiegt den Kopf. »Nein, lieber Herr Kufalt, die Hausordnung … natürlich gehe ich gerne zu Herrn Seidenzopf, wenn Sie es wünschen …«
»Also lässt du es, du Dussel!« brüllt Kufalt plötzlich wütend, am meisten wütend, weil er umsonst gebettelt hat – und geht los.
Der hinter ihm ruft plötzlich mit ganz anderer Stimme: »Kufalt! Herr Kufalt!! Hören Sie mal …«
Ach was, denkt Kufalt erbittert, »Hören Sie mal« ist genauso ein Arschloch wie ich. Erst große Töne und nachher schlapp. Geh ich nun wieder zu denen, schmeißen sie mich die Treppe runter, Topf voll Brei und kein Löffel zu kriegen. Geh ich nach Hause, denk ich an die Liese, Topf voll Brei und so weiter – geh – ich – aber …
Er hat plötzlich eine Idee, macht kehrt, rennt am Friedensheim vorbei (das Fenster zum Gesellschaftsraum steht noch offen), erwischt eine Elektrische und fährt hinunter zur Langen Reihe.
Die Lange Reihe ist zwar nicht sehr lang, aber auch nicht übermäßig kurz, von Haus zu Haus zu fragen wäre ein wenig schwierig. Aber wozu gibt es Kneipen, in denen Berthold sicher guter Gast ist, zumal ein Berthold, dem es, wie Beerboom gesagt hat, gut geht?
»Berthold?« fragt der Mann hinter der Tonbank gleich in der zweiten Kneipe, »Sie meinen wohl Herrn Doktor Berthold? Was wollen Sie denn von dem? Geld?«
»Ich bin doch auch Doktor der Nationalökonomie«, sagt Kufalt vorwurfsvoll.
»Ach so, ach so, entschuldigen Sie man, Herr Doktor! Herr Doktor Berthold sitzt im Hinterzimmer. Da durch!«
»Berthold! Herr Berthold!« beschwört Kufalt den langnasigen, bleichen Mann. »Seien Sie doch einen Augenblick nüchtern! Sie können doch Geld verdienen! Viel Geld. Es handelt sich um dreitausend Mark.«
»Spatzen«, sagt der Betrunkene. »Gar kein Geld. Oder willst du Geld von mir? Dann schmeißt dich der Adi an der Tonbank gleich raus.«
»Hören Sie einmal zu, Herr Berthold …«, fängt Kufalt nochmals an. »Es handelt sich darum …«
Er erzählt es noch einmal, langsam, Wort für Wort, der andere scheint zuzuhören, nickt, sagt einmal Prost –: »Richtig mit Kuvertieren und Markenlecken, ja, pfui Deubel! Magst du ’nen Rumgrog?«
»Und Sie sehen doch ein, Herr Berthold, so was darf man sich nicht entgehen lassen, wo so viel Geld zu verdienen ist.«
»Gar kein Geld«, beharrt Berthold und trinkt.
»Aber ich habe Ihnen doch alles erklärt, dreihunderttausend Adressen, vielleicht zehn Mark das Tausend, macht dreitausend Mark. Sie sollen auch gut abhaben, Herr Berthold.«
»Angeschissene Hühner«, grinst Berthold. »Hamburger 128 gibt’s gar nicht in Barmbeck.«
»Aber wenn ich es Ihnen doch sage! Jetzt brauchen Sie auch gar nicht dahin, jetzt sollen Sie nur mit mir zu meinen Freunden, um die Sache zu besprechen.«
»Adi«, ruft Berthold. »Bring ’nen Stadtplan. Der glaubt hier noch an Gedrucktes.« Und zu Kufalt: »Du Strohkopf, ihr Strohköpfe, euch nimmt ja jeder Bauernfänger hoch. Ganoven seid ihr? Trottel seid ihr, Idioten seid ihr, Flachköpfe seid ihr …«