Hans Fallada – Gesammelte Werke

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

12. Enno und Emil nach dem Schock

Der klei­ne Enno Klu­ge hat es viel schlech­ter ge­trof­fen als sein »Kum­pel« Emil Bark­hau­sen, den nach den Er­leb­nis­sen die­ser Nacht eine Frau, sie moch­te sein, wie sie woll­te, doch im­mer­hin in ein Bett ge­packt hat­te, wenn sie ihn auch so­fort da­nach be­stahl. Der schwäch­li­che Renn­wet­ter hat auch viel mehr Schlä­ge be­kom­men als der lan­ge, kno­chi­ge Ge­le­gen­heits­s­pit­zel. Nein, dem Enno ist be­son­ders übel mit­ge­spielt wor­den.

Und wäh­rend er durch die Stra­ßen läuft und angst­voll nach sei­ner Tut­ti sucht, ist der Bark­hau­sen aus sei­nem Bett auf­ge­stan­den, hat sich in der Kü­che was zu es­sen ge­sucht und isst sich fins­ter und nach­denk­lich satt. Dann fin­det Bark­hau­sen im Klei­der­spind eine Schach­tel Zi­ga­ret­ten, er brennt sich eine an, steckt die Schach­tel in sei­ne Ta­sche und sitzt wie­der fins­ter grü­belnd am Tisch, den Kopf in der Hand.

So fin­det ihn sei­ne Otti, als sie von ih­ren Be­sor­gun­gen wie­der zu­rück­kommt. Na­tür­lich sieht sie gleich, dass er sich Es­sen ge­nom­men hat, sie weiß auch, er hat nichts zu rau­chen in der Ta­sche ge­habt, als sie ging, und sie ent­deckt so­fort den Dieb­stahl aus ih­rem Klei­der­spind. So­fort bricht sie einen Streit vom Zaun, so ver­ängs­tigt sie auch ist. »Ja­wohl, so was lie­be ich, einen Kerl, der mir mein Es­sen frisst und mir mei­ne Zi­ga­ret­ten klaut! Gleich gibst du sie mir wie­der, auf der Stel­le gibst du sie mir wie­der! Oder du be­zahlst sie mir! Gib Geld her, Emil!«

Sie war­tet ge­spannt, was er sa­gen wird, aber sie ist ih­rer Sa­che ziem­lich si­cher. Die achtund­vier­zig Mark hat sie schon fast ganz aus­ge­ge­ben, da kann er wirk­lich nicht mehr viel ma­chen.

Und sie sieht aus sei­ner Ant­wort, so böse sie auch klingt, dass er von dem Gel­de wirk­lich nichts weiß. Sie fühlt sich die­sem doofen Kerl von ei­nem Man­ne weit über­le­gen, sie hat ihn aus­ge­nom­men, und der Affe merkt es nicht mal!

»Halt die Schnau­ze!«, grunzt Bark­hau­sen nur, ohne den Kopf zu er­he­ben. »Und mach, dass du aus der Stu­be kommst, oder ich schla­ge dir alle Kno­chen im Lei­be ent­zwei!«

Sie ruft von der Kü­chen­tür her, ein­fach, weil sie im­mer das letz­te Wort ha­ben muss und weil sie sich ihm so über­le­gen fühlt (ob­wohl sie jetzt Angst vor ihm hat): »Sieh du lie­ber selbst, dass dir die SS dei­ne Kno­chen nicht ganz zer­schlägt! Weit bis­te nicht mehr da­von ab!«

Da­mit geht sie in die Kü­che und lässt ih­ren Är­ger über die­se Ver­ban­nung an den Gö­ren aus.

Der Mann aber sitzt im­mer wei­ter in der Stu­be und grü­belt. Er weiß nur we­nig von dem, was in der Nacht ge­sch­ah, aber das We­ni­ge, das er weiß, das reicht ihm. Und er denkt dar­an, dass da oben die Woh­nung der Ro­sen­thal liegt, die jetzt wohl von den Per­sickes aus­ge­räumt ist, und er hät­te sich neh­men kön­nen, noch und noch! Durch sei­ne ei­ge­ne Duss­lig­keit hat er das ver­bockt!

Nein, der Enno ist dar­an schuld ge­we­sen, der Enno hat mit dem Schnaps an­ge­fan­gen, der Enno ist von al­lem An­fang an be­sof­fen ge­we­sen. Ohne den Enno hät­te er jetzt einen Hau­fen Zeugs, Wä­sche und Klei­der; dun­kel er­in­nert er sich auch an einen Ra­dio­ap­pa­rat. Wenn er den Enno jetzt hier hät­te, wür­de er ihm alle Kno­chen im Lei­be zer­schla­gen, die­sem fei­gen Schwäch­ling, der ihm die gan­ze Sa­che ver­mas­selt hat!

Aber einen Au­gen­blick spä­ter zuckt Bark­hau­sen schon wie­der die Ach­seln. Wer ist denn schließ­lich die­ser Enno? ’ne fei­ge Wan­ze, die da­von lebt, dass sie den Wei­bern Blut ab­zapft! Nein, wer rich­tig schuld ist, das ist die­ser Bal­dur Per­si­cke! Die­ser Ben­gel, die­ser Schul­jun­ge von ei­nem HJ-Füh­rer hat von An­fang an vor­ge­habt, ihn rein­zu­le­gen! Das war al­les vor­be­rei­tet, um einen Schul­di­gen zu ha­ben und sich selbst die Beu­te un­ge­straft an­eig­nen zu kön­nen! Das hat sich die­se Gift­schlan­ge mit den fun­keln­den Bril­lenglä­sern fein aus­ge­dacht! Ihn so rein­zu­le­gen, die­ser ver­damm­te Rotz­jun­ge!

Bark­hau­sen ver­steht es nicht so ganz, warum er nun ei­gent­lich doch nicht in ei­ner Zel­le auf dem Alex, son­dern in sei­ner Stu­be sitzt. Da muss de­nen was da­zwi­schen­ge­kom­men sein. Ganz dun­kel er­in­nert er sich an zwei Ge­stal­ten, aber wer das war und wie­so, das hat er da­mals schon in sei­ner hal­b­en Be­täu­bung nicht er­fasst, und jetzt weiß er es erst recht nicht.

Aber das eine weiß er: dies ver­zeiht er dem Bal­dur Per­si­cke nie. Der mag noch so sehr hoch­krie­chen auf der Lei­ter der Par­tei­gunst, der Bark­hau­sen passt auf. Der Bark­hau­sen kann war­ten. Der Bark­hau­sen ver­gisst nichts. So ’n Ben­gel – ei­nes Ta­ges wird er ihn doch ran­krie­gen, und dann liegt der im Dreck! Aber er soll schlim­mer drin­lie­gen als der Bark­hau­sen, und er soll nie wie­der dar­aus auf­ste­hen. Ei­nen Kum­pel ver­ra­ten? Nein, das wird nie ver­zie­hen und ver­ges­sen! Die schö­nen Sa­chen in der Ro­sent­hal’­schen Woh­nung, Kof­fer und Kis­ten und Ra­dio, das hät­te er al­les ha­ben kön­nen!

Und wei­ter grü­belt Bark­hau­sen, im­mer das­sel­be, und da­zwi­schen holt er sich heim­lich den sil­ber­nen Hand­spie­gel der Otti, letz­te Erin­ne­rung an einen groß­zü­gi­gen Frei­er aus ih­rer Nut­ten­zeit, und be­trach­tet und be­fühlt sein Ge­sicht.

Auch der klei­ne Enno Klu­ge hat un­ter­des in dem Spie­gel ei­nes Mo­de­wa­ren­ge­schäf­tes ent­deckt, wie sein Ge­sicht aus­sieht. Das hat ihn nur noch mehr ver­ängs­tigt und ganz kopf­los ge­macht. Er wagt kei­nen Men­schen an­zu­se­hen, aber er hat das Ge­fühl, alle se­hen ihn an. Er drückt sich in den Ne­ben­stra­ßen her­um, sei­ne Su­che nach Tut­ti wird im­mer hirn­ver­brann­ter, er weiß nicht mehr, wo sie etwa ge­wohnt hat, er weiß aber auch nicht mehr, wo er jetzt gra­de ist. Aber er geht in je­den dunklen Tor­gang und sieht in den Hinter­hö­fen an den Fens­tern hoch. Tut­ti … Tut­ti …

Es wird jetzt rasch im­mer dunk­ler, vor der Nacht muss er noch rasch Quar­tier ge­fun­den ha­ben, sonst nimmt ihn die Po­li­zei fest, und wenn die se­hen, in wel­chem Zu­stand er ist, dann ma­chen sie Hack­fleisch aus ihm, bis er al­les ein­ge­stan­den hat. Und wenn er das von den Per­sickes ge­steht, und er quatscht es ja doch aus in sei­ner Angst, dann schla­gen ihn die Per­sickes tot.

Er läuft ziel­los im­mer wei­ter, im­mer wei­ter …

Schließ­lich kann er nicht mehr. Er setzt sich auf eine Bank und hockt da nun, ein­fach nicht im­stan­de, wei­ter­zu­ge­hen und sich et­was aus­zu­den­ken. Schließ­lich fängt er ganz me­cha­nisch an, sei­ne Ta­schen nach et­was Rauch­ba­rem ab­zu­su­chen – eine Zi­ga­ret­te wür­de ihn wie­der ein biss­chen in Gang brin­gen.

Er fin­det in sei­nen Ta­schen kei­ne Zi­ga­ret­te, aber er fin­det et­was, das er be­stimmt nicht er­war­tet hat, näm­lich Geld. Sechs­und­vier­zig Mark fin­det er. Die Frau Gesch hät­te es ihm schon vor Stun­den sa­gen kön­nen, dass er Geld in der Ta­sche hat, sie hät­te den klei­nen, ver­ängs­tig­ten Mann auf sei­ner Su­che nach ei­ner Blei­be ein we­nig si­che­rer ge­macht. Aber die Gesch hat na­tür­lich nicht ver­ra­ten wol­len, dass sie sei­ne Ta­schen, wäh­rend er schlief, durch­sucht hat. Die Gesch ist eine an­stän­di­ge Frau, sie hat das Geld – wenn auch erst nach kur­z­em Kampf – wie­der zu­rück­ge­steckt. Hät­te sie es bei ih­rem Gu­stav ge­fun­den – sie hät­te es ohne Wei­te­res an sich ge­nom­men, aber bei ei­nem frem­den Mann, nein, so eine war sie nun doch nicht! Na­tür­lich hat sich die Gesch von den neun­und­vier­zig Mark, die sie ge­fun­den hat, drei Mark ab­ge­nom­men. Aber das war nicht ge­klaut, das war ihr gu­tes Recht, für das Es­sen, das sie dem Klu­ge ge­ge­ben hat. Sie hät­te ihm das Es­sen auch ohne Geld ge­ge­ben, aber wie kommt sie dazu, ei­nem frem­den Mann, der Geld hat, um­sonst Es­sen zu ge­ben? So ist sie nun auch wie­der nicht.

Je­den­falls stär­ken die sechs­und­vier­zig Mark den ver­schüch­ter­ten Enno Klu­ge un­ge­mein, er weiß doch nun, er kann sich im­mer ein Lo­gis für die Nacht neh­men. Auch sein Ge­dächt­nis fängt wie­der an zu funk­tio­nie­ren. Zwar an die Woh­nung der Tut­ti er­in­nert er sich noch im­mer nicht, aber ihm ist plötz­lich ein­ge­fal­len, dass er sie in ei­nem klei­nen Café ken­nen­ge­lernt hat, wo sie oft ver­kehrt. Vi­el­leicht wis­sen die dort ihre Woh­nung.

Er steht auf, er läuft wie­der los. Er ori­en­tiert sich, wo er ei­gent­lich ist, und als er eine Elek­tri­sche sieht, die ihn nahe an sein Ziel brin­gen kann, wagt er sich so­gar auf die dunkle Vor­der­platt­form des ers­ten Wa­gens. Dort ist es so dun­kel und voll, dass kei­ner groß auf sein Ge­sicht ach­ten wird. Dann geht er in das Café. Nein, er will nichts ver­zeh­ren, er geht so­fort an das Bü­fett und fragt das Fräu­lein dort, ob sie wohl weiß, wo die Tut­ti ist, ob die Tut­ti hier wohl noch ver­kehrt?

Das Fräu­lein fragt mit schar­fer, schril­ler Stim­me, die im gan­zen Lo­kal zu hö­ren ist, wel­che Tut­ti er wohl meint. Es gäb ’ne Men­ge Tut­tis in Ber­lin!

Der schüch­ter­ne klei­ne Mann ant­wor­tet ver­le­gen: »Ach, nur die Tut­ti, die hier im­mer ver­kehrt hat! So eine dun­kel­haa­ri­ge, ein biss­chen dick …«

Ach, die Tut­ti mei­ne er! Nee, von der Tut­ti woll­ten sie hier nichts mehr wis­sen! Die soll­te nicht wa­gen und sich hier noch mal se­hen las­sen! Von der woll­ten sie kein Wort mehr hö­ren!

Und da­mit wen­det sich das Fräu­lein em­pört von Enno ab. Klu­ge mur­melt ein paar Wor­te der Ent­schul­di­gung und macht, dass er wie­der aus dem Café her­aus­kommt. Er steht noch rat­los, was er nun tun soll, auf der nächt­li­chen Stra­ße, als ein an­de­rer Herr aus dem Café kommt, ein äl­te­rer Mann, ziem­lich ab­ge­ris­sen, kommt es Enno vor. Die­ser Mann geht zö­gernd auf Enno zu, dann gibt er sich einen Ruck, zieht den Hut und fragt, ob er nicht der Herr sei, der eben im Café nach ei­ner ge­wis­sen Tut­ti ge­fragt hat.

 

»Vi­el­leicht«, ant­wor­tet Enno Klu­ge vor­sich­tig. Wa­rum er denn fra­ge?

»Ach, nur so. Ich kann Ih­nen even­tu­ell sa­gen, wo sie wohnt. Ich kann Sie auch bis an ihre Woh­nung brin­gen, nur müss­ten Sie mir auch einen klei­nen Ge­fal­len tun!«

»Was denn für einen Ge­fal­len?«, fragt Enno noch vor­sich­ti­ger. »Ich weiß nicht, was für einen Ge­fal­len ich Ih­nen tun kann. Ich kenn Sie ja gar nicht.«

»Ach, ge­hen wir doch schon ein Ende!«, ruft der ält­li­che Herr. »Nein, es ist kein Um­weg, wenn wir hier lang ge­hen. Die Sa­che ist näm­lich die und der Um­stand der, dass die Tut­ti noch einen Kof­fer mit Sa­chen von mir hat. Vi­el­leicht kön­nen Sie mir den Kof­fer mor­gen früh schnell mal raus­rei­chen, wenn die Tut­ti schläft oder auf Be­sor­gun­gen aus ist?«

(Der ält­li­che Mann scheint für si­cher an­zu­neh­men, dass Enno bei der Tut­ti über Nacht blei­ben wird.)

»Nein«, sagt Enno. »Das tu ich nicht. Auf sol­che Sa­chen las­se ich mich nicht ein. Tut mir leid.«

»Aber ich kann Ih­nen ge­nau sa­gen, was in dem Kof­fer ist. Es ist wirk­lich mein Kof­fer!«

»Wa­rum fra­gen Sie dann die Tut­ti nicht selbst dar­um?«

»Na, wenn Sie so re­den«, sagt der ält­li­che Herr ge­kränkt, »dann ken­nen Sie die Tut­ti nicht. Das ist doch ein Weib, das müss­ten Sie doch wis­sen! Die hat Haa­re auf den Zäh­nen, i wo, kei­ne Haa­re, Igel­bors­ten hat sie drauf! Die beißt und spuckt wie ein Pa­vi­an – und dar­um wird sie ja auch so ge­nannt!«

Und wäh­rend der ält­li­che Herr die­se lie­bens­wür­di­ge Schil­de­rung von Tut­ti ent­wirft, fällt dem Enno Klu­ge mit Schre­cken ein, dass die Tut­ti wirk­lich so ist und dass er das letz­te Mal mit ih­rem Por­te­mon­naie und mit ih­ren Le­bens­mit­tel­kar­ten ver­schwun­den ist. Die beißt und spuckt wirk­lich wie ein Pa­vi­an, wenn sie in Wut ist, und wahr­schein­lich wird sie die­se Wut so­fort an Enno aus­las­sen, wenn er jetzt an­kommt. Al­les, was er sich von ei­nem Nacht­quar­tier bei ihr ein­ge­bil­det hat, ist eben nur Ein­bil­dung …

Und plötz­lich be­schließt Enno Klu­ge ganz aus dem Hand­ge­lenk her­aus, von die­ser Mi­nu­te an an­ders zu le­ben, kei­ne Wei­ber­ge­schich­ten mehr, kei­ne klei­nen Sti­bit­ze­rei­en mehr, auch kei­ne Renn­wet­ten mehr. Er hat sechs­und­vier­zig Mark in der Ta­sche, da­von kann er bis zum nächs­ten Lohn­tag le­ben. Mor­gen gönnt er sich noch einen Schon­tag, so zer­schla­gen wie er ist, und über­mor­gen fängt er rich­tig wie­der mit der Ar­beit an. Die wer­den schon mer­ken, was sie an ihm ha­ben, die wer­den ihn nicht wie­der an die Front schi­cken. Er kann wirk­lich nicht nach al­le­dem, was er in den letz­ten vier­und­zwan­zig Stun­den er­lebt hat, solch einen Pa­vians­emp­fang bei der Tut­ti ris­kie­ren.

»Ja«, sagt Enno Klu­ge nach­denk­lich zu dem ält­li­chen Herrn. »Das stimmt: so ist die Tut­ti. Und weil sie so ist, habe ich mich eben ent­schlos­sen, nicht zu der Tut­ti zu ge­hen. Ich wer­de drü­ben in dem klei­nen Ho­tel da über­nach­ten. Gute Nacht, Herr … Tut mir leid, aber …«

Und da­mit geht er vor­sich­tig mit sei­nen zer­schun­de­nen Kno­chen und er­bet­telt sich doch wirk­lich trotz sei­nes zer­schun­de­nen Aus­se­hens und sei­nes völ­li­gen Man­gels an Ge­päck von dem ab­ge­ris­se­nen Haus­die­ner ein Bett zu drei Mark. Er kriecht in dem en­gen, übel­rie­chen­den Loch in das Bett, des­sen Wä­sche schon vie­len vor ihm ge­dient hat; er streckt sich aus, er sagt zu sich: Von jetzt an will ich ganz an­ders le­ben. Ich bin ein ge­mei­nes Aas ge­we­sen, be­son­ders zu Eva, aber von die­ser Mi­nu­te an wer­de ich an­ders. Ich habe die Dre­sche zu Recht be­zo­gen, aber von nun an will ich auch an­ders sein …

Er liegt ganz still in dem schma­len Bett, die Hän­de ge­wis­ser­ma­ßen an der Ho­sen­naht, und starrt ge­gen die De­cke. Er zit­tert vor Käl­te, vor Er­schöp­fung, vor Schmer­zen. Aber er spürt das gar nicht. Er denkt dar­an, was für ein ge­ach­te­ter und be­lieb­ter Ar­bei­ter er frü­her mal war, und jetzt ist er nur ein schä­bi­ger klei­ner Kerl, vor dem alle aus­spu­cken. Nein, bei ihm ha­ben die Schlä­ge ge­hol­fen, nun wird al­les an­ders. Und wäh­rend er sich die­ses An­ders­s­ein aus­malt, schläft er ein.

Um die­se Zeit schla­fen auch alle Per­sickes, es schla­fen Frau Gesch und Frau Klu­ge, es schläft das Ehe­paar Bark­hau­sen – er hat der Otti wort­los er­laubt, zu ihm ins Bett zu krie­chen.

Es schläft ge­ängs­tigt, schwer at­mend, Frau Ro­sen­thal. Auch die klei­ne Tru­del Bau­mann schläft. Sie hat am Nach­mit­tag ei­nem ih­rer Ver­schwo­re­nen zu­flüs­tern kön­nen, dass sie un­be­dingt et­was mit­tei­len müs­se und dass sie sich alle am nächs­ten Abend im Ely­si­um tref­fen müs­sen, mög­lichst un­auf­fäl­lig. Sie hat ein we­nig Angst, weil sie nun ihre Schwatz­haf­tig­keit ge­ste­hen muss, aber jetzt ist sie doch ein­ge­schla­fen.

Frau Anna Quan­gel liegt im Dun­keln im Bett, wäh­rend ihr Mann wie im­mer um die­se Nacht­zeit in sei­ner Werk­statt steht und auf­merk­sam je­den Ar­beits­gang ver­folgt. Sie ha­ben ihn nicht zur tech­ni­schen Lei­tung we­gen Ver­bes­se­rung der Fa­bri­ka­ti­on ge­ru­fen, auch dort hal­ten sie ihn für einen vollen­de­ten Trot­tel. Umso bes­ser!

Anna Quan­gel, die im Bett liegt, aber noch nicht schla­fen kann, hält noch im­mer ih­ren Mann für völ­lig kalt und herz­los. Wie er die Nach­richt von Ot­to­chens Tode auf­nahm, wie er die arme Tru­del und die Frau Ro­sen­thal aus der Woh­nung ge­setzt hat: kalt, herz­los, im­mer nur an sich den­kend. Sie wird ihm nie wie­der so gut sein kön­nen wie frü­her, als sie dach­te, er hät­te we­nigs­tens für sie was über. Das hat sie nun ge­se­hen. Nur be­lei­digt über das vor­schnell her­aus­ge­fah­re­ne Wort ›Du und dein Füh­rer‹, nur ge­kränkt. Nun wird sie ihn nicht so leicht noch ein­mal so krän­ken, nicht so leicht wird sie wie­der mit ihm zu re­den an­fan­gen. Heu­te ha­ben sie nicht ein Wort mit­ein­an­der ge­wech­selt, nicht ein­mal gu­ten Tag ha­ben sie sich ge­sagt.

Der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm wacht noch, wie im­mer ist er in der Nacht wach. Er schreibt mit sei­ner klei­nen ge­sto­che­nen Schrift einen Brief, in dem die An­re­de lau­tet: »Hoch­ver­ehr­ter Herr Reichs­an­walt …«

Un­ter der Le­se­lam­pe er­war­tet ihn auf­ge­schla­gen sein Plut­arch.

13. Siegestanz im Elysium

Der Tanz­saal im Ely­si­um, dem großen Tanz­lo­kal im Nor­den Ber­lins, bot an die­sem Frei­tag­abend ein Bild, das die Au­gen je­des Normal­deut­schen er­freu­en muss­te: Uni­for­men über Uni­for­men. Es war nicht so sehr die Wehr­macht, de­ren Grau oder Grün den kräf­ti­gen Un­ter­grund zu die­sem far­ben­fro­hen Bil­de ab­gab, es wa­ren in viel stär­ke­rem Maße die Uni­for­men der Par­tei und ih­rer Glie­de­run­gen, die mit Braun, Hell­braun, Gold­braun, Dun­kel­braun und mit Schwarz das Bild so bunt mach­ten. Da sah man ne­ben den Braun­hem­den der SA1 die viel hel­le­ren Hem­den der HJ, die Or­ga­ni­sa­ti­on Todt2 war eben­so ver­tre­ten wie der Reichs­ar­beits­dienst,3 man sah die mehr gel­ben Uni­for­men der Son­der­füh­rer, die Gold­fa­sa­nen ge­nannt wur­den, man sah Po­li­ti­sche Lei­ter ne­ben Luft­schutz­war­ten. Und nicht etwa nur die Män­ner wa­ren so herz­er­freu­end ko­stü­miert, auch vie­le jun­ge Mäd­chen tru­gen Uni­form; der BDM,4 der Ar­beits­dienst, die Or­ga­ni­sa­ti­on Todt, sie alle schie­nen ihre Füh­re­rin­nen, Un­ter­füh­re­rin­nen und Ge­führ­ten hier­her­ge­sandt zu ha­ben.

Die we­ni­gen Zi­vi­lis­ten ver­lo­ren sich voll­stän­dig in die­sem Ge­wim­mel, sie wa­ren be­deu­tungs­los, lang­wei­lig un­ter die­sen Uni­for­men, wie ja auch das zi­vi­le Volk drau­ßen auf den Stra­ßen und in den Fa­bri­ken nie eine Be­deu­tung der Par­tei ge­gen­über er­langt hat­te. Die Par­tei war al­les und das Volk nichts.

So wur­de auch ein Tisch am Ran­de des Saa­l­es fast gar nicht be­ach­tet, an dem ein Mäd­chen und drei jun­ge Män­ner sa­ßen. Kei­ne von den vier Per­so­nen trug eine Uni­form, nicht ein­mal ein Par­tei­ab­zei­chen war zu se­hen.

Ein Paar, das jun­ge Mäd­chen und ein jun­ger Mann, war zu­erst ge­kom­men; spä­ter hat­te ein an­de­rer jun­ger Mann um die Er­laub­nis ge­be­ten, sich her­an­set­zen zu dür­fen, und schließ­lich hat­te noch ein vier­ter Zi­vi­list um die glei­che Er­laub­nis nach­ge­sucht. Das jun­ge Paar hat­te auch ein­mal den Ver­such ge­macht, in dem Ge­wühl zu tan­zen. In die­ser Zeit wa­ren die bei­den an­de­ren Män­ner in ein Ge­spräch mit­ein­an­der ge­kom­men, in ein Ge­spräch, an dem sich das zer­drückt und er­hitzt zu­rück­kom­men­de Paar auch ge­le­gent­lich be­tei­lig­te.

Ei­ner der Män­ner, an­fangs der Drei­ßi­ger, mit ho­her Stirn und schon zu­rück­wei­chen­dem Haar­wuchs, hat­te sich weit mit sei­nem Stuhl zu­rück­ge­lehnt und eine Wei­le schwei­gend das Ge­wühl auf der Tanz­flä­che und die Ne­ben­ti­sche ge­mus­tert. Nun sag­te er, wo­bei er die an­de­ren kaum an­sah: »Ein schlecht ge­wähl­ter Ver­samm­lungs­ort. Wir sind fast der ein­zi­ge nur mit Zi­vil be­setz­te Tisch hier im Saal. Wir fal­len auf.«

Der Ka­va­lier des jun­gen Mäd­chens sag­te lä­chelnd zu die­sem, sei­ne Wor­te wa­ren aber für den Mann mit der ho­hen Stirn be­stimmt: »Im Ge­gen­teil, Gri­go­leit, wir wer­den über­haupt nicht be­ach­tet, höchs­tens ver­ach­tet. Die Herr­schaf­ten den­ken nur dar­an, dass ih­nen die­ser so­ge­nann­te Sieg über Frank­reich für ein paar Wo­chen Tan­zer­laub­nis ge­bracht hat.«

»Kei­ne Na­men! Un­ter kei­nen Um­stän­den!«, sag­te der Mann mit der ho­hen Stir­ne scharf.

Ei­nen Au­gen­blick schwie­gen alle. Das Mäd­chen mal­te mit dem Zei­ge­fin­ger et­was auf den Tisch, es sah nicht auf, ob­wohl es fühl­te, dass alle es an­sa­hen.

»Je­den­falls, Tru­del«, sag­te der drit­te Mann mit dem Un­schulds­ge­sicht ei­nes groß­ge­wor­de­nen Säug­lings, »ist jetzt der rich­ti­ge Au­gen­blick für dei­ne Mit­tei­lung. Was gib­t’s? Die Ne­ben­ti­sche sind fast un­be­setzt, al­les tanzt. Los!«

Das Schwei­gen der bei­den an­de­ren Män­ner konn­te nur Zu­stim­mung be­deu­ten. Tru­del Bau­mann sag­te sto­ckend, ohne hoch­zu­se­hen: »Ich habe, glau­be ich, einen Feh­ler be­gan­gen. Je­den­falls habe ich mein Wort nicht ge­hal­ten. In mei­nen Au­gen ist es frei­lich kein Feh­ler …«

»Oh, höre auf!«, rief der Mann mit der ho­hen Stir­ne ver­ächt­lich. »Willst du jetzt auch in die Ge­wohn­hei­ten der Gän­se ver­fal­len? Schnat­te­re nicht, sage ge­ra­de­her­aus, was ist!«

Das Mäd­chen sah hoch. Es sah lang­sam einen nach dem an­de­ren die drei Män­ner an, die sie, wie es ihr schi­en, mit grau­sa­mer Käl­te an­blick­ten. In ih­ren Au­gen stan­den zwei Trä­nen. Sie woll­te spre­chen, sie konn­te es nicht. Sie such­te nach ih­rem Ta­schen­tuch …

Der mit der ho­hen Stirn lehn­te sich zu­rück. Er ließ einen lei­sen, ge­dehn­ten Pfiff er­tö­nen. »Sie soll nicht schnat­tern? Sie hat ja schon ge­schnat­tert! Seht sie bloß an!«

Der Ka­va­lier an Tru­dels Sei­te wi­der­sprach rasch: »Un­mög­lich! Die Tru­del ist gol­decht. Sage ih­nen, dass du nicht ge­schwatzt hast, Tru­del!« Und er drück­te ihr auf­mun­ternd die Hand.

Der Säug­ling rich­te­te sei­ne run­den, sehr blau­en Au­gen ab­war­tend, fast aus­drucks­los auf das Mäd­chen. Der Lan­ge mit der ho­hen Stirn lä­chel­te ver­ächt­lich. Er drück­te sei­ne Zi­ga­ret­te im Aschen­be­cher aus und sag­te höh­nisch: »Nun, mein Fräu­lein?«

Tru­del hat­te sich ge­fasst, sie flüs­ter­te mu­tig: »Doch, er hat recht. Ich habe ge­schwatzt. Mein Schwie­ger­va­ter brach­te mir die Nach­richt vom Tode mei­nes Otto. Das hat mich ir­gend­wie um­ge­wor­fen. Ich habe ihm ge­sagt, dass ich in ei­ner kom­mu­nis­ti­schen Zel­le ar­bei­te.«

»Na­men ge­nannt?« Nie­mand hät­te ge­ahnt, dass der harm­lo­se Säug­ling so scharf fra­gen könn­te.

»Na­tür­lich nicht. Ich habe über­haupt nichts wei­ter ge­sagt. Und mein Schwie­ger­va­ter ist ein al­ter Ar­bei­ter, der wird nie ein Wort sa­gen.«

»Dein Schwie­ger­va­ter ist ein an­de­res Ka­pi­tel, du bist das ers­te! Du sagst, du hast kei­ne Na­men ge­nannt …«

»Und du wirst mir das glau­ben, Gri­go­leit! Ich lüge nicht. Ich habe frei­wil­lig ge­stan­den.«

»Sie ha­ben eben schon wie­der einen Na­men ge­nannt, Fräu­lein Bau­mann!«

Der Säug­ling sag­te: »Aber seht ihr denn nicht ein, dass es ganz egal ist, ob sie jetzt Na­men ge­nannt hat oder nicht? Sie hat ge­sagt, dass sie in ei­ner Zel­le ar­bei­tet, sie hat ein­mal ge­schnat­tert, sie wird wie­der schnat­tern. Le­gen die be­wuss­ten Her­ren ihre Hand auf sie, quä­len sie ein biss­chen, so wird sie re­den, gleich­gül­tig, wie viel sie bis­her ver­ra­ten hat.«

 

»Ich wer­de nie zu de­nen re­den, und wenn ich ster­ben müss­te!«, rief Tru­del mit flam­men­den Wan­gen.

»Oh!«, sag­te der Hochstir­ni­ge, »Ster­ben ist sehr ein­fach, Fräu­lein Bau­mann, aber manch­mal kom­men vor dem Ster­ben noch recht un­an­ge­neh­me Din­ge!«

»Ihr seid un­barm­her­zig«, sag­te das jun­ge Mäd­chen. »Ich habe einen Feh­ler be­gan­gen, aber …«

»Ich fin­de auch«, ließ sich der auf dem Sofa ne­ben ihr ver­neh­men. »Wir wer­den uns Ihren Schwie­ger­va­ter an­se­hen, und wenn er ver­läss­lich ist …«

»Un­ter den Hän­den von de­nen gib­t’s kei­ne Ver­läss­lich­keit«, sag­te Gri­go­leit.

»Tru­del«, sag­te der Säug­ling sanft lä­chelnd, »Tru­del, du sag­test eben, du hät­test noch kei­ne Na­men ge­nannt?«

»Ich habe es auch nicht ge­tan!«

»Und du hast be­haup­tet, du wä­rest zum Ster­ben be­reit, ehe du so was tä­test?«

»Ja! Ja! Ja!«, rief sie lei­den­schaft­lich.

»Nun«, sag­te der Säug­ling und lä­chel­te ge­win­nend, »nun, Tru­del, wie wäre es, wenn du heu­te Abend noch stür­best, ehe du wei­ter­ge­plap­pert hast? Das wür­de uns eine ge­wis­se Si­cher­heit ge­ben und eine Mas­se Ar­beit er­spa­ren …«

Eine To­ten­stil­le ent­stand zwi­schen den vie­ren. Das Ge­sicht des Mäd­chens war kal­kig weiß. Ihr Ka­va­lier sag­te ein­mal »Nein« und leg­te sei­ne Hand leicht auf die ihre. Aber er nahm sie gleich wie­der fort.

Dann ka­men die Tan­zen­den zu­rück an ihre Ti­sche und mach­ten für den Au­gen­blick eine Fort­set­zung die­ser Un­ter­hal­tung un­mög­lich.

Der mit der ho­hen Stirn brann­te sich wie­der eine Zi­ga­ret­te an, der Säug­ling lä­chel­te un­merk­lich, als er sah, wie dem an­de­ren die Hand zit­ter­te. Dann sag­te er zu dem Dunklen ne­ben dem schwei­gen­den, blei­chen Mäd­chen: »Sie sa­gen nein. Aber warum ei­gent­lich? Es ist eine fast be­frie­di­gen­de Lö­sung der Auf­ga­be und eine Lö­sung, die, so­viel ich ver­stan­den habe, von Ih­rer Nach­ba­rin selbst vor­ge­schla­gen wur­de.«

»Die Lö­sung ist un­be­frie­di­gend«, sag­te der Dunkle lang­sam. »Es wird schon zu viel ge­stor­ben. Wir sind nicht da­für da, dass die Zahl der To­ten sich er­höht.«

»Ich hof­fe«, sag­te der Hochstir­ni­ge, »Sie den­ken an die­sen Satz, wenn der Volks­ge­richts­hof Sie und mich und die­se da …«

»Still!«, sag­te der Säug­ling. »Ge­hen Sie doch einen Au­gen­blick tan­zen. Das scheint ein sehr net­ter Tanz. Sie kön­nen sich un­ter­des be­spre­chen, und wir bei­de be­spre­chen uns hier …«

Wi­der­stre­bend war der jun­ge Dunkle auf­ge­stan­den und hat­te sei­ner Dame eine leich­te Ver­beu­gung ge­macht. Wi­der­stre­bend hat­te sie die Hand auf sei­nen Arm ge­legt, bleich gin­gen sie bei­de im Strom der an­de­ren zur Tanz­flä­che. Sie tanz­ten ernst, schwei­gend, ihm war es, als tan­ze er mit ei­ner To­ten. Ihn schau­der­te es. Die Uni­for­men um ihn, die Ha­ken­kreuz­bin­den, die blut­ro­ten Fah­nen an den Wän­den mit dem ver­hass­ten Zei­chen, das mit Grün ge­schmück­te Führ­er­bild, die rhyth­mi­schen Geräusche des Swings: »Du wirst es nicht tun, Tru­del«, sag­te er. »Er ist wahn­sin­nig, so et­was zu ver­lan­gen. Ver­sprich mir …«

Sie be­weg­ten sich fast auf der Stel­le in dem im­mer dich­ter wer­den­den Ge­wühl. Vi­el­leicht, weil sie in stän­di­ger Berüh­rung mit an­de­ren Paa­ren wa­ren, viel­leicht sprach sie dar­um nicht.

»Tru­del!«, bat er noch ein­mal. »Ver­sprich es mir! Du kannst ja in einen an­de­ren Be­trieb ge­hen, dort ar­bei­ten, da­mit du de­nen aus den Au­gen bist. Ver­sprich mir …«

Er ver­such­te sie dazu zu brin­gen, dass sie ihn an­sah, aber ihre Au­gen sa­hen hart­nä­ckig über sei­ne Schul­ter fort.

»Du bist die Bes­te von uns«, sag­te er plötz­lich. »Du bist die Men­sch­lich­keit, er ist bloß das Dog­ma. Du musst wei­ter­le­ben, gib ihm nicht nach!«

Sie schüt­tel­te den Kopf, moch­te es nun ein Ja oder ein Nein be­deu­ten. »Ich möch­te zu­rück«, sag­te sie. »Ich mag nicht mehr tan­zen.«

»Tru­del«, sag­te Karl Her­ge­sell has­tig, als sie sich aus den Tan­zen­den ge­löst hat­ten, »dein Otto ist erst ges­tern ge­stor­ben, erst ges­tern hast du die Nach­richt be­kom­men. Es ist zu früh. Aber du weißt es ja auch so, ich habe dich im­mer ge­liebt. Ich habe nie et­was von dir er­war­tet, aber nun er­war­te ich, dass du we­nigs­tens lebst. Nicht für mich, nein, dass du lebst!«

Aber wie­der be­weg­te sie nur den Kopf, wie­der blieb es un­ge­wiss, was sie zu sei­ner Lie­be, was sie zu sei­nem Wun­sche, sie am Le­ben zu se­hen, mein­te. Sie wa­ren am Tisch der an­de­ren an­ge­langt. »Nun?«, frag­te Gri­go­leit mit der ho­hen Stir­ne. »Wie tanzt es sich? Ein biss­chen voll, wie?«

Das Mäd­chen hat­te sich nicht wie­der ge­setzt. Es sag­te: »Ich gehe dann jetzt. Macht’s gut. Ich hät­te ger­ne mit euch ge­ar­bei­tet …«

Sie wand­te sich zum Ge­hen.

Jetzt aber war die­ser di­cke, harm­lo­se Säug­ling der Ers­te hin­ter ihr, er fass­te sie am Hand­ge­lenk, er sag­te: »Ei­nen Au­gen­blick noch, bit­te!« Er sag­te es voll­kom­men höf­lich, aber sein Blick droh­te.

Sie kehr­ten an den Tisch zu­rück. Sie setz­ten sich wie­der. Der Säug­ling frag­te: »Ich ver­ste­he doch recht, Tru­del, was dein Ab­schied eben be­deu­te­te?«

»Du hast voll­kom­men recht ver­stan­den«, sag­te das Mäd­chen und sah ihn mit har­ten Au­gen an.

»So bit­te ich dich, dass du mir er­laubst, dich für den Rest des Abends zu be­glei­ten.«

Sie mach­te eine Be­we­gung ent­setz­ter Ab­wehr.

Er sag­te sehr höf­lich: »Ich will mich nicht auf­drän­gen, aber ich gebe zu be­den­ken, dass bei der Aus­füh­rung ei­nes sol­chen Vor­ha­bens wie­der­um Feh­ler be­gan­gen wer­den kön­nen.« Er flüs­ter­te dro­hend: »Es liegt mir nichts dar­an, dass ir­gend­ein Idi­ot dich wie­der aus dem Was­ser fischt oder dass du mor­gen als ge­ret­te­te Gift­selbst­mör­de­rin in ei­nem Kran­ken­haus liegst. Ich will da­bei sein!«

»Rich­tig!«, sag­te der Hochstir­ni­ge. »Ich stim­me zu. Das gibt die ein­zi­ge Ge­währ …«

»Ich wer­de«, sag­te nach­drück­lich der Dunkle, »heu­te und mor­gen und je­den fol­gen­den Tag an ih­rer Sei­te sein. Ich wer­de al­les tun, um die Aus­füh­rung die­ses Vor­ha­bens zu ver­ei­teln. Ich wer­de Hil­fe her­beiho­len, wenn ihr mich zwingt, selbst von der Po­li­zei!«

Der Hochstir­ni­ge pfiff wie­der, lang, ge­dehnt, lei­se und böse.

Der Säug­ling sag­te: »Aha, jetzt ha­ben wir schon den zwei­ten Plap­pe­rer am Tisch. Ver­liebt, was? Ich dach­te mir so was schon im­mer. Kom­men Sie, Gri­go­leit, die Zel­le ist auf­ge­löst. Es gibt kei­ne Zel­le mehr. Und das nennt ihr Dis­zi­plin, ihr Wei­ber­her­zen!«

»Nein, nein!«, rief das Mäd­chen. »Hö­ren Sie nicht auf ihn! Es ist wahr, er liebt mich. Aber ich lie­be ihn nicht. Ich will heu­te Abend mit euch ge­hen …«

»Nichts!«, sag­te der Säug­ling jetzt wirk­lich zor­nig. »Seht ihr denn nicht, dass ihr gar nichts mehr tun könnt, da er …« Er mach­te eine Kopf­be­we­gung zu dem Dunklen hin. »Ach was!«, sag­te er dann kurz. »Es ist aus­ge­spielt! Komm, Gri­go­leit!«

Der Hochstir­ni­ge stand schon. Ge­mein­sam wand­ten sie sich dem Aus­gang zu. Plötz­lich aber lag eine Hand auf dem Arm des Säug­lings. Er sah in das glat­te, ein we­nig ge­dun­se­ne Ge­sicht ei­nes braun Uni­for­mier­ten.

»Ei­nen Au­gen­blick, bit­te! Was ha­ben Sie da eben ge­sagt von der Auf­lö­sung der Zel­le? Es wür­de mich doch sehr in­ter­es­sie­ren …«