Nein, Kufalt bekam es nicht übermäßig gut. Von dem Tage an, da er aus dem Kittchen gekommen war, war es immer aufwärtsgegangen, er hatte dies erreicht und jenes, er hatte gelernt, die Menschen wieder anzuschauen auf der Straße, die Arbeitsleistung war gestiegen, langsam, aber stetig, Kittchen dahinten mit deinen toten Zotengesprächen – vorbei, vorbei! Im Leben hatte er sich eingerichtet mit Zimmer und Sachen und bürgerlichem Auskommen und nun …
Nun stand da einer hinter seinem Stuhl, ein dicker, pickliger Knubben, stand, redete, ächzte: »O Gott, o Gott, womit habe ich das verdient! Gleichmäßig sollen Sie anschlagen, Sie Mensch, Sie! Sehen Sie denn nicht, dass das R einen Schatten dunkler ist als das E? Und so was lebt – ausgerechnet in meiner Schreibstube.«
Kufalt sitzt da, mit einem weißen, verschlossenen Gesicht, die Lippen fest aufeinander, und tippt.
Und während er sitzt und weitertippt, denkt er viele Dinge …: Zum Beispiel könnte ich aufstehen und weggehen für immer, ich brauche die hier nicht, eine Weile habe ich noch zu leben, es gibt viele Wege, und Batzke wird sich schon finden lassen. Hinten links in der Ecke sitzt Jänsch, der hat zu mir gesagt: Wenn er’s zu schlimm treibt, lauern wir ihm mal auf und vertrimmen ihn gründlich. Jänsch hat mir auch erzählt, dass Jauch genauso einer ist wie wir, der hat auch mal gesessen, immer sind das die Schlimmsten. – Ach, halt den Sabbel, dämliches Aas, sieben Uhr fünfzehn bin ich zu Hause, und vielleicht sehe ich die Liese Behn, Donnerstagabend stand die Küchentür offen, wie sie sich wusch, der helle, nackte Rücken und die weißen, raschen Arme …
Er hört wirklich nichts mehr, es wird ihm jetzt immer schwindlig, wenn er an eine bestimmte Frau denkt, das Herz geht dann ganz zögernd, als wolle es nicht mehr, alles Blut drängt zum Schoß …
Müsste zu einer Hure gehen, denkt er. Den Dreck mal loswerden, macht mich noch verrückt, die Liese kriege ich doch nie … Und wacht auf über dem Geschrei: »Verrückt sind Sie geworden, ich schmeiß Sie raus, stehen Sie auf, packen Sie Ihre Sachen zusammen! Schreibt man Doktor mit c …?«
Ja, richtig – Kufalt starrt auf den Briefbogen, säuberliche Schreiben eines Laboratoriums an Ärzte, eine Patentmedizin anzupreisen, Kufalt hat nur Adresse und Anrede einzusetzen …
»Sehr geehrter Herr Doctor Matthies!« steht da.
Sieht nicht ganz richtig aus. Während er träumte, weg war, weiterschrieb, war das bisschen erste Schuljahre hochgekommen mit Latein, docere, ja so – oder war es, weil er unter dem Geprassel von Nörgeleien alle Fähigkeiten verlor, ein zweiter Beerboom, alle Fähigkeiten verlor, von siebenhundert Adressen in die dreihundert rutschte …?
Kufalt steht etwas verloren neben seiner Schreibmaschine, es ist ja jetzt Sommer, neun Stunden an der Maschine, die Abende durch Straßen, in denen er niemand kennt, und die Nächte bei offenem Fenster, man kann nicht schlafen, was fünf Jahre half, hilft nun nicht mehr, er ist unfähig …
Er steht da mit einem verlorenen Lächeln, er ist sich nur noch nicht klar, wie er den Abgang zu bewerkstelligen hat, er kriegt doch noch Papiere und etwas Geld, an sich ginge er schon …
»Steht noch da und feixt, Doktor mit c! In meinem ganzen Leben habe ich das noch nicht gehört! Ich soll Ihnen wohl Beine machen!«
In diesem Augenblick geschieht etwas.
In der großen Schreibstube, in der an die zwanzig Leute sitzen, erklingt aus einer Ecke eine Stimme: »Gemeinheit!«
Jauch fährt herum, in einem Augenblick ist er graubleich, er starrt in die Ecke, er murmelt fassungslos: »Wie?! Was?!«
Als in seinem Rücken, kaum zwei Meter ab, einer halblaut sagt: »Vertrimmen, den Schinder!«
Jauch sieht Maack an, aber Maack ist viel zu beschäftigt, einen neuen Bogen in die Maschine zu spannen, Maack merkt überhaupt nichts.
Und ehe Herr Jauch sich noch entschließen kann, klingt es wieder von einer anderen Seite, nein, von zwei, drei Stellen: »Schnauze, du Aas!« – »Dich kochen wir ab.« – »Hast lange dein eigenes Geschrei nicht gehört, was?«
Ach, es sind wohl nur vier oder fünf unter den zwanzig, die so was riskieren, die sich nicht ewig schinden lassen, bei denen’s mal platzt …
Kufalt ist wach geworden, er begreift plötzlich, was er eben beinahe kampflos preisgegeben hätte, er gibt sich einen Ruck, sitzt schon wieder an der Schreibmaschine, schmettert los: »Sehr geehrter Herr Doktor Matthies …«
Während Jauch, jetzt dunkelrot, mit zitternden Lippen, sich umsieht. Aber die schreiben ja alle, kein Laut außer dem Getrommel der Maschinen – und dann geht Jauch plötzlich hastig mit ganz kleinen, trippelnden Schritten in sein Zimmer. Auf der Schwelle aber ruft er: »Herr Patzig, bitte!«
Patzig, ein langer, schlenkriger Jüngling, mit einer Brille (todsicher Portokasse), steht auf, sieht sich ängstlich um, geht zum Büro von Herrn Jauch – und Jänsch sagt: »Wenn du Lampen machst …! Jungchen …!«
Patzig murmelt etwas, ganz hilflos, und ist weg. Wird er die Namen der Zwischenrufer ausquatschen?
Nein, er tut es nicht. Es erfolgt nichts. Die haben alle Angst, Jauch genauso wie seine Musterknaben. Weiter darf Kufalt an seiner Maschine sitzen, aber – hilft das was …?
Es hilft nicht einmal etwas, dass Jauch nun nicht mehr schimpft und nörgelt. Jauch kennt ja seine Leute, mit ziemlicher Sicherheit würde er die Richtigen treffen, wenn er fünf oder sechs auf die Straße setzte, aber mit ziemlicher Sicherheit würde es ihn dann auch treffen, harte Abreibung.
Jauch nimmt sich in acht. Wortlos steht er nun halbstundenlang hinter Kufalts Stuhl, und – alle zwei Minuten etwa – fährt sein Zeigefinger nach dem Getippten, wortlos zeigt Jauch einen Tippfehler. Und weiter – und wieder der Zeigefinger mit den hässlichen Reißnägeln, dem dicken, eingedrückten Nagel, gelb von Nikotin …
»Kannst du dich denn nicht ein bisschen zusammenreißen, Kufalt?« fragt Maack. »Im Grunde hat er ja recht: Du vertippst dich viel zu viel.«
»Es wird immer schlimmer«, sagt Kufalt. »Ich will und ich will, aber je mehr ich will, um so schlimmer wird es. Und plötzlich bin ich weg, alles leer in mir, als wäre ich gar nicht mehr …«
»Richtig«, sagt Maack und nickt. »Alles richtig. Haben wir alle gehabt, wir Langstrafigen. Kittchenkrankheit. Sieh, dass du schnell davon loskommst. Hast du noch immer kein Mädchen? Ein bisschen hilft das doch.«
Nein, Kufalt hat noch immer keines, und es sieht auch nicht aus, als käme von dieser Seite bald die Erlösung. Am Steindamm gab’s zwar genug Mädchen, die billig zu haben gewesen wären. Aber war man dafür fünf Jahre im Kittchen gewesen, um so wieder anzufangen? Es ließ sich doch wirklich ein bisschen an wie ein ganz neues Leben – sollte es so anfangen? Nein, nein, ganz abgesehen von Fräulein Behn …
Trotzdem Fräulein Behn – von jenem Abend im Hammer Park an, über eine falsch gemietete Wohnung, die dann zur richtigen wurde, von dem Gespräch mit der Mutter über die Tochter – bis hin zum Blick in die nächtliche Küche auf die, die sich wusch – eine gab es nur für ihn: Fräulein Behn.
Es war hoffnungslos, aussichtslos, sie hatte andere, sie war ein kaltes Luder, er wagte nicht, sie anzureden – aber lag er denn nicht nachts im Bett und beschwor sie: »Komm! Komm! Du musst kommen! Ich verrecke nach dir! Komm doch ein einziges Mal! O du!«
Man hätte das alles vielleicht besser ertragen, wenn man’s für sich allein zu ertragen gehabt hätte. Aber – und das war das Schlimmste – man wusste genau: Sie fühlte es. Man spürte es durch drei Wände, zwei Zimmer: Sie lag da und fühlte es. Es war in ihr, sie genoss es vielleicht, das war ihr Glück, aber sie kam nie.
Das Fenster stand offen, guter Sommerwind, leise schleiften die Gardinen, die Stadtbahnzüge kamen, klirrten hell unter dem Fenster und waren schon ferner – lieber Kufalt, es war eine große, grausige Sache, dass man so lag und war verrückt vor Sehnsucht und Begehren. Fünf Jahre hatte man gelegen, die kleine Zelle mit dem schräggestellten Milchglasfenster –: Heraus, oh, lasst mich doch heraus, ihr Schurken, nur eine Nacht, nur eine Stunde draußen sein, ich werde ja verrückt hier …!
Wer hatte ihm, Kufalt, gesagt: »Wenn man erst wieder draußen ist, wird es erst richtig schlimm!«?
Egal wer, es war richtig schlimmer geworden.
Abends kam manchmal Beerboom zu Besuch. Beerboom war nun doch nicht der einzige Heiminsasse in der Apfelstraße geblieben, neue Strafentlassene waren gekommen, er hatte Gesellschaft genug. Aber er kam doch immer wieder zum alten Kufalt, aus Anhänglichkeit vielleicht, in Erinnerung an jene Zeit, da sie beide allein im Friedensheim gehaust hatten.
Beerboom ging es auch nicht besser, sah man ihn an, merkte man, es ging ihm schlechter, noch viel schlechter. Gelb und zerknittert; dicke, graublaue, körnige Tränensäcke; ein huschender, feiger, schwarzer Blick, der stach, sah er einen an; törichtes haltloses Geschwätz ohne Sinn und Verstand …
»Ach die, der Seidenzopf und der Mergenthal und ihr schöner Pfaffe, der Marcetus, den Buckel können sie mir runterrutschen, alle! Ich mache überhaupt nichts mehr, gestern hab ich vierzig Adressen getippt – was die getobt haben!«
Er grinst.
»Da wird Ihr Geld aber rasch alle werden«, sagt Kufalt.
»Mein Geld? Ist schon beinahe alle. Ist mir ja so egal. Ich brauch bald überhaupt kein Geld mehr.«
Kufalt betrachtet aufmerksam das grüblerische gelbe Gesicht. »Denken Sie bloß nicht an so was, Beerboom. Sie gehen todsicher gleich beim ersten Mal hoch.«
»Das macht nichts«, grinst Beerboom wieder. »Egal, wenn ich hochgehe. Was ich haben will, hab ich dann gehabt.«
Kufalt überlegt, dann fragt er weiter, aber in diesem Punkt hält der schwatzhafte, ewig klagende Beerboom dicht: »Sie werden’s ja sehen. Und übrigens mach ich es vielleicht überhaupt nicht.«
Kufalt überlegt immer weiter: »Haben Sie den Berthold mal wieder gesehen?«
Beerboom macht eine wegwerfende Handbewegung. »Berthold? Ja, der wohnt jetzt in der Langen Reihe. Feine Bude, scheint ihm gut zu gehen.«
»Lassen Sie sich bloß nicht mit dem Berthold ein!« warnt Kufalt.
»Ich mit dem? So blau! Meine drei Mark wollte ich wieder, aber dann hat er mir noch fünf Mark abgeknöpft. Er hat mir ehrenwörtlich versprochen, am Ersten kann ich mir dafür zwanzig Mark abholen von ihm.« Und ganz im alten Tonfall, ganz der alte Beerboom: »Glauben Sie, dass ich sie kriege? Glauben Sie, dass er sie mir gibt? Er muss sie mir doch geben, nicht wahr? Ich kann ihn doch darauf verklagen, was?«
»Ich denke, Sie brauchen bald kein Geld mehr?« fragt Kufalt.
»Ach was«, sagt Beerboom plötzlich wieder mürrisch. »Geld braucht man immer. Denken Sie, ich schenk dem Berthold Geld? So doof!«
Nein, die richtige Gesellschaft ist Beerboom nicht, aber Kufalt findet ihn noch immer besser als das Warten allein, bis die Flurtür klappt, der leichte, rasche Schritt über den Vorplatz geht, er die halblaute Stimme dann hört mit zwei gleichgültigen Sätzen zu Mutter Behn.
»Seien Sie doch einen Augenblick still!« ruft Kufalt aufgeregt und verbietet Beerboom das Wort. »Herein, bitte!«
Ja, sie hatte geklopft, ausgerechnet, da Beerboom da war, kam sie.
Sie blieb auf der Türschwelle, Beerboom stand zögernd auf, sah nach ihr hin.
»Darf ich Ihrem Freund und Ihnen noch etwas Tee bringen?« Oh, sie war gnädig heute, irgendwas saß ihr im Kopf, vielleicht war ihr etwas schiefgegangen am Tage, sie besann sich auf den Mieter ihrer Mutter, sie bot ihm und seinem Freunde Tee an.
Beerboom sagte rasch: »Für mich bitte nicht. Ich muss gleich weg. Ich muss um zehn im Heim sein.«
Und Kufalt wütend: »Beerboom, ich habe Ihnen doch gesagt, wenn Sie je wieder …«
Liese Behn stand auf der Schwelle, sie sah von einem zum anderen.
Beerboom wollte hastig wiedergutmachen: »Ich bin übrigens gar nicht sein Freund. Herr Kufalt nimmt mich hier nur manchmal so auf.« Beteuernd: »Er hat gar nichts mit mir zu tun.«
Sie trug ein bläuliches, sehr helles Kleid, ohne Ärmel, mit einem kleinen viereckigen Ausschnitt. Wohl wegen der Hitze hing ihr Haar lose und leicht um ihr Gesicht, ihr Mund, halb geöffnet, sah kindlich aus.
»Also ich mache Ihnen dann Tee«, sagte sie. »Das Wasser kocht gleich.«
Aber sie ging nicht. Sie zog vielmehr die Tür hinter sich zu und sagte: »Wollen Sie mir nicht Ihren Freund vorstellen?«
»Beerboom«, sagte Kufalt. »Fräulein Behn.«
»In was für einem Heim leben Sie denn, Herr Beerboom?« fragte sie.
Sie sah Kufalt nicht an.
»Ja, wie soll ich sagen?« sagte Beerboom verwirrt. »Ich weiß nicht …« Und als habe er plötzlich eine Erleuchtung: »’ne richtige Klapsmühle ist es nicht, aber ein bisschen meschugge bin ich schon.« Er war sehr stolz auf diesen Ausweg, er setzte erklärend hinzu: »Darum darf ich ja auch manchmal zu Herrn Kufalt kommen.«
Kufalt spürte – vor lauter Verzweiflung – einen fast unwiderstehlichen Lachreiz, aber Liese lachte nicht. Sie hatte sich auf den Rand eines Plüschsessels gesetzt und sah Beerboom freundlich an. »Wieso sind Sie denn meschugge? Ein bisschen, meine ich.«
»Ach, wissen Sie«, sagte Beerboom. »Das ist eine lange Geschichte, und ich muss wirklich gleich weg.« Er dachte nach, er gab sich Mühe, Kufalt nicht zu schaden. »Wissen Sie, Fräulein, es ist was mit Frauen. So was kann ich Ihnen nicht erzählen, nicht wahr?«
»So«, sagte Liese. »Ich glaube, ich weiß mehr davon, als Sie denken.«
Nachdenklich betrachtet sie Beerboom, dann Kufalt. Kufalt zitterte, es war ja so leicht, alles zu kapieren, wenn man sie beide so vor sich hatte. Sie hatte es in den Nächten gespürt, wie er sie begehrte und sich verkroch, begehrte und verkroch. Gelähmte Männer, beschädigte Männer, Männer mit einem Wurm im Hirn – leicht zu kapieren.
Sie sagte plötzlich lächelnd: »Also erzählen Sie schon, ein ganz klein bisschen. Ich sage bestimmt halt, wenn es zu schlimm wird.«
Quälerin, denkt Kufalt. Und dann laut: »Übrigens kocht das Teewasser sicher längst, Fräulein Behn. Ich meine nur … Sie wollten doch Tee …«
Er verwirrt sich unter ihrem Blick, hält inne.
»Ja, was ich noch sagen wollte, Herr Kufalt«, sagt sie. »Mutter erzählt, neulich war einer da, einer in Zivil mit der Marke, verstehen Sie, und hat sich nach Ihnen erkundigt. Ob Sie abends lange ausgehen, ob Sie viel Geld haben, mit wem Sie verkehren und all so was.«
Sie macht eine Pause, sie sieht nicht mehr Kufalt, sie sieht Beerboom an.
»Ich versteh nicht, wieso …« Kufalt ist wie vor den Kopf geschlagen.
»Nur, dass Sie Bescheid wissen«, sagt Liese. »Mutter und mich stört’s nicht. – Also, was ist das mit Ihnen, Herr Beerboom?«
Kufalt steht da. Er ist zerschmettert und glücklich, er darf wohnen bleiben und schämt sich, sie hat alles verstanden, vielleicht lange schon – und was nun?
Er sieht auf sie, aber sie ist längst nicht mehr bei ihm, sie spricht mit Beerboom, sieh doch, ihre Wangen sind ganz rosig, ihre Augen glänzen, so eifrig ist sie. Nun steht sie auf von ihrem Sessel, sie geht zu Beerboom, sie setzt sich zu ihm auf das Sofa, die beiden flüstern – wie alt ist sie? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig? Mehr sicher nicht.
»Es ist«, sagt Beerboom, »ich kann keine einzige Frau ansehen, ich muss immer daran denken. Verstehen Sie. Immer nur daran. Und wenn ich mit einer sprechen möchte, mit einer ausgehen, muss ich immer an alle anderen denken. Ich entschließe mich nicht. Es ist so lange her …«
»Wie lange her?«
»Elf Jahre. Alle elf Jahre ist es immer nur das eine gewesen, und nun ist es so vieles, so vielerlei, verstehen Sie …«
Er betrachtet sie hilflos.
»Und nun ist es immer noch so wie … wie im Gefängnis?«
Sie hat die Unterlippe vorgeschoben, sie sieht ihn unverwandt an. Wie der sachte Flügel eines Vogels steht weiches loses Haar über ihrer Stirn.
»Gefängnis, nein«, verbessert Beerboom eifrig. »Ich bin Zet, Zuchthaus, Kufalt ist Kittchen …« Er sieht schuldbewusst auf. »Es macht Ihnen doch nichts, Kufalt? Fräulein weiß doch alles.«
Kufalt sieht zu, antwortet nicht.
»Nein«, sagt Beerboom. »Oder doch. Bis ganz vor kurzem. Aber jetzt ist alles anders geworden …«
Er hält inne. Sie sitzen, warten lautlos, alle zwei, ob er es sagen wird. Es ist wie ein schwüler Dunst im Zimmer, eine heiße, trockene Luft … Sie sehen vor sich hin, keines sieht das andere an.
»Wissen Sie …«, fängt Beerboom wieder an und stockt von Neuem.
Kufalt wagt einen Blick. Das verkniffene gelbe Gesicht ist hell geworden, sieht glatt aus, es glänzt, strahlt. Wie eine Landschaft ist es, Berge und Täler und weite Flächen … Ist es Glück, kann so etwas das Glück sein?
»Ich hab ’ne Schwester«, sagt Beerboom langsam. »Wie ich weg kam von Haus – dahin, war sie noch ganz klein, zehn Jahre, zwölf Jahre?«
Er schweigt, fängt neu an: »Ich weiß alles von den Kindern, wissen Sie, von den kleinen Mädchen, ich hab doch die Schwester. Ich hab im Zet schon damit angefangen, dass ich immer an die denke. – Und nun …«
Wieder Pause, Schweigen.
Der Beerboom steht auf, geht hin und her, schnell, setzt sich wieder, sagt: »Die Kinder, die kleinen Mädchen, in den Anlagen, verstehen Sie …«
Pause, Vor-sich-hin-Sehen.
Wenn man sich rühren könnte, das Fenster weiter aufstoßen, Luft, Nachtwind, dass der Spuk verblasen wird. Es ist Spuk, Hexerei, aber sie, sie sitzt da, sie ist eine Hexe, Quälerin …
»Ich steh da so und sehe zu, immer, wenn ich fortkommen kann aus dem Heim, sehe ich zu. Es ist schrecklich, was man da denken kann. Im Zet war es nicht so schrecklich, man dachte, das ist nur hier hinter den Gittern so, nachher wird alles anders.«
Wieder lange Stille. Kufalt regt sich, zwingt sich dazu, setzt an, räuspert sich: »Also …«
»Mit den Frauen und Mädchen«, sagt Beerboom. »Die wissen doch alles. Oder ich weiß alles, wie es mit denen ist. Mit diesen … Sie verstehen, jede kann meine Schwester sein, es ist so neu …«
Er grübelt. Seine lange gelbe Hand, schwarz behaart, mit den bläulichen dicken Adern, kommt auf den Tisch gekrochen, streckt sich, und plötzlich schließt sie sich mit einem Ruck, als zerdrücke sie etwas, zerstöre sie etwas …
»Ich hab gedacht«, flüstert er, »sie haben mich fertiggemacht drin, für das ganze Leben, und nun fängt doch alles von Neuem an … «
Er schluchzt beinahe vor Glück. »Die Kinder«, flüstert er. »Die kleinen Mädels mit den nackten Beinen … Es ist schlimm für mich, man sieht so wenig, aber vielleicht, vielleicht …«
Er hält inne, sieht die beiden an. Sein Mund zittert.
»Gehen Sie!« schreit Fräulein Behn. »Gehen Sie sofort!«
Sie steht da, sie zittert am ganzen Leib. Sie hält sich am Stuhl fest, sie murmelt: »Sie Mörder, Sie, gehen Sie …«
Weg alles bei Beerboom, weg aller Glanz, alles Glück, alles Redenkönnen. »Ich«, stammelt er. »Sie hatten doch selbst …«
»Geh los, Mensch!« schreit Kufalt und schiebt ihn gegen die Tür. »Verfluchte Quatscherei, perverse! Hier hast du meinen Hausschlüssel, mach, dass du wegkommst. Ich hol ihn mir morgen wieder.«
»Aber ich … Fräulein, Sie haben doch selbst gewollt …«
»Gehen sollst du!« Kufalt schiebt ihn hinaus.
Die Entreetür fällt hinter ihm zu, Kufalt geht zurück in sein Zimmer, zögert an der Schwelle …
Ach, sie ist vielleicht doch nur eine Hure, kalt, etwas Unnatürliches, verpfuscht von der Natur, vielleicht braucht sie Kitzel und Dunst und Blutgeruch …
Sie hat sich über sein Bett geworfen, sie weint – und da er eintritt, hebt sie, mit verweintem Gesicht, die nackten Arme ihm entgegen. »Ach, komm doch, komm doch nur schnell! Er ist schrecklich, dein Freund. Komm nur schnell zu mir, du!«