Hans Fallada – Gesammelte Werke

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9

An die­sem Abend, es ist Sonn­abend, sagt beim Es­sen der Stu­dent plötz­lich: »Ich geh noch ein biss­chen spa­zie­ren. Wenn ei­ner von den Her­ren Lust hat …?«

So weit sind sie doch schon, dass sie erst ein­mal un­schlüs­sig zu Sei­den­zopf hin­se­hen, der aber sehr fried­lich sagt: »Aber ge­wiss doch. So ein schö­ner, lieb­li­cher Abend …«

Und Frau Sei­den­zopf: »Aber Punkt zehn wird das Haus ge­schlos­sen und nicht wie­der auf­ge­macht.«

»Dann wol­len wir also die Uhren ver­glei­chen«, sagt Pe­ter­sen.

»Es ist sie­ben Uhr zwan­zig …«

Und Beer­boom: »Ich gehe nur mit, wenn Herr Sei­den­zopf mir Geld gibt. Ohne Geld gehe ich nicht auf die Stra­ße, da kommt man ja an kei­nem Hund vor­bei.«

»Ich rech­ne also mit den Her­ren noch rasch ab, Herr Pe­ter­sen.«

Aber es geht dann nicht so rasch. Ku­falt steht am Gang­fens­ter und sieht in den lang­sam däm­me­rig wer­den­den Gar­ten, wäh­rend drü­ben im Büro die Stim­men ge­gen­ein­an­der an­schwel­len und wie­der lei­se wer­den. Die Bü­sche ver­schwim­men sach­te ge­gen die dunklen Gar­ten­mau­ern, die äu­ßers­ten Spit­zen der Baum­kro­nen rei­chen noch in die Son­ne, Beer­boom drin­nen jam­mert fle­hend, Sei­den­zopfs Bass grollt – und schließ­lich geht die Tür auf, und Sei­den­zopf schreit: »Ge­hen Sie raus, Sie Mensch, Sie! Ein Är­ger­nis sind Sie! Kei­nen Pfen­nig mehr gebe ich. – Kom­men Sie rein, mein lie­ber Ku­falt.«

Ku­falt kommt rein.

»Na, Sie ha­ben ja erst drei Ar­beits­ta­ge. Für den Don­ners­tag Ma­schi­ne­rei­ni­gen – na, sa­gen wir, fünf­zig Pfen­nig …«

»Eine Mark ist aus­ge­macht.«

Lan­ger Blick. »Mei­net­hal­ben eine Mark. Frei­tag und Sonn­abend je sie­ben­hun­dert Adres­sen – sehr we­nig, Herr Ku­falt, und recht lie­der­lich ge­schrie­ben –, fürs Tau­send sechs Mark, macht acht vier­zig, al­les in al­lem Ar­beits­ver­dienst neun Mark vier­zig. Sie ha­ben zu zah­len fünf Tage Kost und Lo­gis je zwei Mark fünf­zig, macht zwölf Mark fünf­zig, blei­ben Sie uns schul­dig drei Mark zehn, die von Ihrem De­pot ge­kürzt wer­den. Al­les klar?«

»Ach nee«, sagt Ku­falt und holt tief Atem, »das ging ja furcht­bar ein­fach. Wie­so erst mal fünf Tage Kost?«

»Der An­kunfts­tag rech­net voll.«

»Ich habe nur das Abendes­sen ge­habt.«

»Das macht nichts, das sind un­se­re Be­stim­mun­gen so, die ha­ben Sie un­ter­schrie­ben.«

»Und der fünf­te Tag?«

»Ist mor­gen der Sonn­tag.«

»Den be­zah­le ich im Voraus? Auch nach Ihren Be­stim­mun­gen?«

»Dann geht er bei der nächs­ten Abrech­nung nicht ab. Das ist doch nur Ihr Vor­teil.«

»Ich ver­die­ne hier also nicht so viel, wie ich aus­ge­be?«

»Das kommt noch, mein jun­ger Freund, das kommt al­les noch.«

»Viel mehr kann ich nicht schaf­fen auf der Ma­schi­ne.«

»O doch, das kann man schon. Ma­chen Sie das nur erst ein hal­b­es Jahr.«

»Ich brau­che auch noch Geld für die nächs­te Wo­che.«

Sei­den­zopfs Stirn ver­dun­kelt sich. »Ich habe Ih­nen am Mitt­woch erst drei Mark ge­ge­ben. Wie viel wol­len Sie schon wie­der?«

»Zehn Mark.«

»Das ist ganz aus­ge­schlos­sen. Das ge­stat­tet Pas­tor Mar­ce­tus nie. Zehn Mark Ta­schen­geld in der Wo­che! Da er­zö­gen wir Sie ja zum Ver­schwen­der!«

Ku­falt sagt fins­ter: »Ich will Ih­nen mal was sa­gen, Herr Sei­den­zopf. Das ist mein Geld, um das ich Sie bit­te. Das ekelt mich hier. Sie ha­ben mir ge­sagt, am Mitt­woch, ich kann je­der­zeit Geld ha­ben. Sie lü­gen doch nicht, Herr Sei­den­zopf?«

»Wozu brau­chen Sie denn das Geld? Sa­gen Sie mir einen ver­nünf­ti­gen Zweck!«

»Erst mal brau­che ich Por­to.«

»Por­to? Wozu denn Por­to? Ihre Ver­wand­ten wol­len doch nichts mehr von Ih­nen wis­sen – wem wol­len Sie denn schrei­ben?«

»Stel­len­be­wer­bun­gen.«

»Das ist nur raus­ge­wor­fe­nes Geld, das las­sen Sie lie­ber. Wer nimmt Sie denn? Da war­ten Sie, bis wir Sie ken­nen und emp­feh­len kön­nen. – Wozu brau­chen Sie noch Geld?«

»Ich muss mei­ne Wä­sche wa­schen las­sen.«

»Für zehn Mark? Was müs­sen Sie denn wa­schen las­sen? Ein Hemd und einen Kra­gen! Die Un­ter­wä­sche kön­nen Sie ru­hig vier­zehn Tage tra­gen, ich wechs­le mei­ne auch nicht öf­ter. Macht acht­zig Pfen­nig. Wozu brau­chen Sie noch Geld?«

Die Stim­men schwel­len an und sin­ken dann wie­der. Nach ei­ner Vier­tel­stun­de ist Ku­falt be­siegt, trotz­dem er zwei­mal ge­brüllt und auf den Tisch ge­schla­gen hat. Er ver­lässt mit fünf Mark Aus­zah­lung das Büro.

»Auf die­se Wei­se wer­den Sie mit Ih­rer Rück­la­ge ja schnell alle wer­den, mein lie­ber Ku­falt«, schilt Sei­den­zopf hin­ter ihm her.

Aber dann hängt in den Stra­ßen eine fast leuch­ten­de Däm­me­rung.

Am tie­fen Nacht­him­mel glüht die Schnur der Bo­gen­lam­pen sanft und hell. Vie­le Men­schen sind un­ter­wegs. Sie schlen­dern. Man hört sie spre­chen, lei­se oder lau­ter, dann lacht ein­mal ein Mäd­chen.

Ne­ben­her die bei­den re­den eif­rig, Pe­ter­sen und Beer­boom. Beer­boom ist voll Gift und Gal­le, neun Mark drei­ßig hat er drauf­zah­len müs­sen. Pe­ter­sen ver­sucht ihn zu be­sänf­ti­gen.

Ku­falt bum­melt lang­sam da­ne­ben her. In den Lau­ben vor den Cafés sit­zen die Leu­te, trin­ken und es­sen. Man hört Mu­sik. Löf­fel­chen klap­pern ge­gen Tel­ler. Die bei­den an­de­ren über­le­gen, ob man sich in ein Café set­zen soll. Aber es wird zu teu­er. Bes­ser, man geht in den Ham­mer Park, wo gra­tis Mu­sik zu hö­ren ist.

Beer­boom be­weist jetzt dem Pe­ter­sen, dass sein Le­ben völ­lig ver­pfuscht ist, dass es eben­so gut wäre, gleich heu­te Schluss zu ma­chen, Pe­ter­sen be­weist dem Beer­boom das Ge­gen­teil.

Nun taucht es dun­kel und mas­sig vor ih­nen auf, die Luft wird küh­ler und feuch­ter, Bäu­me, vie­le hohe Bäu­me, der Ham­mer Park.

Erst ge­hen sie ein­mal rund­um durch die schwach­be­leuch­te­ten Wege vol­ler Pär­chen. Dann lan­den sie in der Mit­te bei ei­nem strah­lend be­leuch­te­ten Kaf­fee­haus. Dort mu­si­ziert in ei­nem mu­schel­för­mi­gen Pa­vil­lon eine Ka­pel­le, Ti­sche sind auf­ge­stellt, und vie­le Men­schen sit­zen dar­an. Die nichts ver­zeh­ren, sind ab­ge­sperrt durch Sei­le.

Auch die drei blei­ben eine Wei­le un­ter dem Volk ste­hen und lau­schen. Das Hö­ren hat man nicht ab­sper­ren kön­nen, so ger­ne man es wohl ge­tan hät­te. Es geht fröh­lich zu bei den Zaungäs­ten, gan­ze Bü­schel jun­ger Mäd­chen hän­gen dort her­um. Jun­gens ja­gen sich mit Mä­deln, vie­le la­chen. Ku­falt wird von ei­ner Ket­te jun­ger Leu­te bei­na­he um­ge­lau­fen. Er drängt in die dunklen Wege zu­rück, die an­de­ren wol­len im Licht blei­ben. So zeigt er auf einen Weg. »Da sit­ze ich ir­gend­wo. Ho­len Sie mich dann.«

Er fin­det im Dun­keln eine Bank, auf der nur ein Paar sitzt.

Hockt sich auf eine Ecke, dreht sich eine Zi­ga­ret­te, lehnt sich be­quem zu­rück und sieht vor sich hin.

Manch­mal be­wegt der Nacht­wind ein we­nig die Zwei­ge, das rauscht fer­ne an, kommt nä­her mit tau­send ein­zel­nen Geräuschen und ver­liert sich wie­der fern mit ei­nem all­ge­mei­nen Rau­schen.

Der Mann und die Frau auf der Bank re­den mit­ein­an­der. Ku­falt hört halb hin. Es wird von ei­nem Gar­ten ge­re­det, von ei­ner al­ten Mut­ter, die im­mer schwie­ri­ger wird … Ver­lieb­te sind es nicht, denkt Ku­falt. Er hät­te ger­ne ein Mäd­chen, mit dem er sit­zen und schwat­zen könn­te. Über was aber könn­te er mit ihr schwat­zen …?

Es ge­hen vie­le Men­schen vor­über, man­che hal­ten sich an den Hän­den. Nein, nicht ein­mal im Ge­fäng­nis hat Wil­li Ku­falt das Ge­fühl ge­habt, wie sehr er sich au­ßer­halb von all dem ge­stellt hat. Er ist drau­ßen aus all die­sem Le­ben – kommt er je wie­der hin­ein? Von all dem, was ihm in den letz­ten fünf Jah­ren ge­sche­hen ist, wird er nie re­den dür­fen.

Das Mäd­chen ist auf­ge­stan­den und macht ein paar Schrit­te auf und ab. »Es ist doch kühl. Mir wird frös­te­lig«, sagt sie. Der Mann ant­wor­tet nicht. Sie spricht das spit­ze »S« der Ham­bur­ger, nun kommt sie in den Licht­schein der La­ter­ne – eine zier­li­che, ra­sche Fi­gur, ein Herz­ge­sicht, blon­des Haar. Wie­der im Schat­ten.

»Ge­hen wir«, sagt das Mäd­chen.

Der Mann steht auf.

Pe­ter­sen und Beer­boom kom­men. »Ge­hen wir dort ent­lang«, sagt Ku­falt und folgt dem Paar. »War die Mu­sik noch nett?«

Die bei­den er­zäh­len, Ku­falt be­hält sein Paar im Auge. »Nein, wir wol­len hier ent­lang­ge­hen. Sie ha­ben ja kei­ne Ah­nung, was ich für einen Orts­sinn habe. Ich füh­re Sie glatt nach Haus.«

»Aber wir ge­hen in der falschen Rich­tung!«

»Gar nicht. Wir ge­hen nach­her rum. Wet­ten, dass ich Sie rich­tig füh­re?«

»Um was?«

»Zehn Zi­ga­ret­ten.«

»Ab­ge­macht. Hau­en Sie durch, Beer­boom!«

Es ist nicht ganz leicht, ohne Auf­fal­len dem Paar zu fol­gen. Ku­falt hält sich auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te und macht manch­mal Be­mer­kun­gen, die sei­nen su­chen­den Orts­sinn be­wei­sen sol­len: »Nein, nun ge­hen wir bes­ser hier um die Ecke. – Jetzt wie­der ge­ra­de­aus – nein, doch bes­ser links.«

»Ihr Orts­sinn, Ku­falt«, sagt Beer­boom.

Hin­ter ei­ner Bahn­un­ter­füh­rung biegt das Paar über­ra­schend nach links ab, und im Au­gen­blick, da Ku­falt sei­ne bei­den Beglei­ter mit Mühe und Not in die­se un­er­war­te­te Kur­ve ge­bracht hat, ist es in ir­gend­ei­nem Haus­ein­gang ver­schwun­den.

Ku­falt bleibt auf­at­mend ste­hen. »Nun bin ich doch ganz wirr ge­wor­den. Wo sind wir ei­gent­lich? Wie heißt denn die Stra­ße?«

»Sie sind gut«, sagt der Stu­dent Pe­ter­sen. »Jetzt, wo Sie end­lich die rech­te Rich­tung ge­fasst ha­ben … Das ist die Ma­ri­entha­ler Stra­ße, in ei­ner Vier­tel­stun­de sind wir im Heim.«

 

Und nach ei­nem Blick auf die Uhr: »O Gott, wir ha­ben nur noch neun Mi­nu­ten. Nun aber Trab, so schnell es geht!«

»So ge­fähr­lich wird es doch nicht sein«, sagt Ku­falt im Lau­fen. »Fünf Mi­nu­ten wer­den die schon auf uns war­ten.«

»Der wirft je­den raus, der nur drei Mi­nu­ten zu spät kommt. Lässt ihn gar nicht erst ins Haus, die Tür bleibt zu, und am nächs­ten Mor­gen Sa­chen pa­cken, weg!«

»Wir sol­len eben durch­aus nicht an die Mäd­chen«, keucht Beer­boom. »O Gott, ich kann nicht mehr, lasst uns einen Au­gen­blick Schritt ge­hen.«

»Öder Quatsch«, schilt Ku­falt. »Wenn Sie da­bei sind, gilt es doch nicht, Herr Pe­ter­sen.«

»Ich än­dere auch nichts«, keucht Pe­ter­sen. »Ich bin nach au­ßen gut, als Aus­hän­ge­schild. Los, Beer­boom, wie­der tra­ben! Nur noch vier Mi­nu­ten!«

In der Haus­tür ent­spinnt sich eine hef­ti­ge De­bat­te mit Min­na, ob es eine Mi­nu­te nach oder Punkt zehn ist. Je­den­falls wird sie es Herrn Sei­den­zopf mel­den.

10

Am Vor­mit­tag – es ist nun Sonn­tag ge­wor­den – ha­ben sie zur Kir­che ge­musst, denn nach der Haus­ord­nung hat je­der Hei­min­sas­se den Got­tes­dienst sei­ner Kon­fes­si­on zu be­su­chen. Dann spiel­ten Ku­falt und Pe­ter­sen bis zum Mit­ta­ges­sen Schach, wäh­rend Beer­boom sei­ne Ho­sen über ei­ner Stuhl­leh­ne mit ei­nem fla­chen Brett »bü­gel­te«. Als sie dann am Nach­mit­tag los­gin­gen, hat­te er zwei Bü­gel­fal­ten ne­ben­ein­an­der und wur­de wei­ner­lich. Al­les ging ihm quer.

Der Ha­fen er­mun­ter­te sie, und eine Wei­le stol­per­ten sie an den Boll­wer­ken ent­lang. Aber dann wur­den sie müde. Beer­boom klag­te über Hun­ger und Durst. Das Es­sen hielt rein nichts vor, was das für Por­tio­nen sei­en, im Zet

Sie ge­rie­ten in die An­la­gen beim Bis­marck und setz­ten sich dort un­ter Bäu­me. Eine Sel­ters­bu­de war dicht da­bei, Beer­boom trank Zitro­nen­li­mo­na­de, Him­beer­li­mo­na­de, aß die Stul­len, die fürs Abendes­sen be­stimmt wa­ren, klag­te eine Wei­le und schlief ein.

Die bei­den an­de­ren, müde und zu­frie­den, sa­hen schläf­rig auf den Strom der Vor­bei­zie­hen­den und flüs­ter­ten ab und zu ein paar Be­mer­kun­gen über Beer­boom, mit dem es nicht gut ab­lau­fen kön­ne. »Aber Sei­den­zopf hört nicht, und Mar­ce­tus weiß al­les über Ent­las­se­nen­für­sor­ge. Dem kann man nichts er­zäh­len.«

Sie se­hen sich wei­ter die Vor­über­ge­hen­den an. Von Zeit zu Zeit set­zen sie Beer­boom zu­recht, der von der Bank rutscht.

Als der auf­wacht, ist es schon ge­gen sechs. Er ist wü­tend, dass sie ihn so lan­ge ha­ben schla­fen las­sen, um zehn müs­sen sie schon wie­der im Frie­dens­heim sein, da kann er schla­fen, aber doch nicht hier!

Dann kauft er sich eine Bock­wurst mit Kar­tof­fel­sa­lat und zum Ab­schluss einen kal­ten Kuss.1 Er steht auf und sagt: »Ge­hen wir.«

Die Ree­per­bahn, die Klei­ne und die Gro­ße Frei­heit hel­fen über eine Stun­de weg. Aber sie sind Leu­te ohne Geld, au­ßer­dem er­klärt Pe­ter­sen, dass er un­mög­lich mit ih­nen hier in ein Lo­kal ge­hen kön­ne, dann sei er sei­nen Pos­ten los. Zur Not kön­ne man in der Nähe des Haupt­bahn­hofs in ein Kon­zert­café. Sie müss­ten aber den Mund hal­ten.

Schließ­lich sit­zen sie dort in ei­nem halb­lee­ren Café. Es ist die un­glück­li­che Stun­de zwi­schen sie­ben und acht, in der die Ka­pel­le pau­siert. Beer­boom schimpft und trinkt Bier, Ku­falt grü­belt und trinkt ein Känn­chen Kaf­fee, Pe­ter­sen sieht sich mit sei­nen schnel­len Au­gen un­ter den jun­gen Mäd­chen um. Er trinkt Tee.

Als Ku­falt sich eine Zi­ga­ret­te dreht, flüs­tert er: »Ich weiß nicht, ob das hier üb­lich ist. Vi­el­leicht kau­fen Sie sich wel­che. Wir fal­len sonst auf. Ich wür­de Ih­nen die fünf­zig Pfen­nig un­se­rer Wet­te er­las­sen.«

»Na schön«, sagt Ku­falt und steht auf. »Ich hole sie mir dann drü­ben im Haupt­bahn­hof. Hier de­ren Apo­the­ker­prei­se be­zah­le ich nicht.«

Ku­falt geht. Sei­nen Hut lässt er hän­gen. Es ist kurz vor acht. Un­ten fragt er, wo der Rat­haus­markt ist. – Dort die Ecke, die Mön­cke­berg­stra­ße hin­un­ter, kaum fünf Mi­nu­ten.

Ku­falt läuft.

Da ist schon der Rat­haus­markt, die Uhr schlägt eben acht, er sieht sich nach dem Denk­mal, nach dem Pfer­de­schweif um.

Nichts.

Er fragt. »Ja, das war mal hier. Aber jetzt nicht mehr. Wie lan­ge wa­ren Sie denn nicht hier?«

Ku­falt um­run­det den Rat­haus­markt. Er geht kreuz und quer. Im­mer glaubt er, zwan­zig Me­ter wei­ter Batz­ke zu se­hen. Manch­mal er­reicht er ihn, dann ist es je­mand an­ders, manch­mal ent­schwin­det der an­de­re, dann war er es viel­leicht doch. Au­ßer­dem kann er sich nicht recht vor­stel­len, wie Batz­ke ei­gent­lich aus­sieht, im­mer wie­der stellt er sich einen Men­schen in blau­er Kitt­chenkluft mit Le­der­pan­tof­feln vor.

Die Uhr am Rat­haus zeigt Vier­tel, zeigt halb. Ku­falt sucht ver­bis­sen wei­ter. Er muss kom­men, Batz­ke muss kom­men. Er will nicht ins Heim zu­rück. Die­ses klei­ne, mick­ri­ge Le­ben, die­ses Kämp­fen um den Gro­schen, die­ses Strei­ten mit Sei­den­zopf, die­ses Quä­len an der Ma­schi­ne, die­ser Beer­boom, die­ser Pe­ter­sen, die­ser Mar­ce­tus – soll das die Frei­heit sein, auf die er fünf Jah­re ge­war­tet hat?

O Gott! Die Frei­heit! Tun und las­sen, was er mag …

Es ist nach neun, als er wie­der ins Café kommt. Es soll also wohl so sein, Frie­dens­heim heißt die Lo­sung. Nun gut, auch das wird er er­tra­gen, er muss eben noch ein we­nig län­ger war­ten … Aber wenn Pe­ter­sen ihm jetzt ein Wort sagt …! Doch Pe­ter­sen tanzt mit Be­geis­te­rung, er hat wohl kei­ne Ah­nung, wie lan­ge Ku­falt fort war. Als er mal an den Tisch kommt, schwärmt er von ei­ner Blau­en, die si­cher was Bes­se­res ist.

Beer­boom trinkt sein zwei­tes Glas Bier und er­ör­tert die Fra­ge, ob er Sei­den­zopf mor­gen schon wie­der um Geld an­ge­hen kann. Ei­ner­seits – an­de­rer­seits.

Zehn Mi­nu­ten nach halb zehn. »Jetzt müs­sen wir aber un­be­dingt los, sonst schaf­fen wir es nicht.«

Un­ten sagt Pe­ter­sen sor­gen­voll: »Wir müs­sen eine Elek­tri­sche neh­men.«

Und Beer­boom: »Die be­zah­len Sie aber! Bloß we­gen Ih­rer blö­den Tan­ze­rei.«

Im Wa­gen wird Beer­boom plötz­lich gelb und weiß. »Mir wird so schlecht.«

Er wankt auf die Platt­form. Und muss sich schon er­bre­chen.

Der Schaff­ner tobt: »Nein, mei­ne Her­ren, das geht nicht! So­fort stei­gen Sie ab!«

Pe­ter­sen ist ver­zwei­felt. »Es hilft al­les nichts. Wir müs­sen ein Auto neh­men. Herr Beer­boom, neh­men Sie sich ein biss­chen zu­sam­men, dass Sie das Auto nicht dre­ckig ma­chen.«

Beer­boom rö­chelt.

Und im Auto, in kur­z­en Ab­stän­den: »Ein Ta­schen­tuch, schnell, ganz schnell – Ihr Ta­schen­tuch, doch nur schnell! Da! Wi­schen Sie’s ab!«

Und plötz­lich lauthals wei­nend: »Was ist das mit mir?! Ich habe doch gar nichts ge­trun­ken! Was habe ich frü­her ver­tra­gen! O Gott, o Gott, was ha­ben die aus mir ge­macht, die Schuf­te, die elen­den … An nichts kann man sich mehr freu­en …«

Sie kom­men zwei Mi­nu­ten nach zehn an. Va­ter Sei­den­zopf schließt mit ei­nem Be­gräb­nis­ge­sicht auf, be­ant­wor­tet ih­ren Gruß nicht, be­trach­tet scharf den Beer­boom.

»Herr Pe­ter­sen, kom­men Sie noch mal auf mein Zim­mer. Wenn Sie Ihren Schutz­be­foh­le­nen ins Bett ge­bracht ha­ben. Ich habe mit Ih­nen zu spre­chen.«

1 Ge­bäck, auch: »Kal­ter Hund« <<<

11

Es ver­ge­hen zwei und drei Wo­chen. Ku­falt sitzt in der Schreib­stu­be und schreibt. Es geht nicht so schnell vor­wärts, wie er ge­glaubt hat, tau­send Adres­sen er­reicht er nie. Mal ist das Adres­sen­ma­te­ri­al schlimm, und mal ist ihm schlimm.

Er wacht trü­be auf. Dann ir­ri­tiert ihn je­des Geräusch, das Ge­brumm und Ge­grei­ne von Beer­boom in sei­nem Rücken macht ihn wahn­sin­nig. Er sitzt an der Ma­schi­ne, aber er schreibt nicht, er über­legt: Soll ich auf­ste­hen und dem Beer­boom eins in die Fres­se hau­en? Das wird eine fixe Idee: Er sitzt und horcht nur nach Beer­boom. Soll ich …? Und er müss­te doch schrei­ben!

Aber es scheint so zweck­los, ohne Atem­ho­len Adres­sen zu klap­pern, nur das bei je­der Wo­chen­ab­rech­nung mit Sei­den­zopf die Rück­la­ge um fünf oder zehn Mark klei­ner wird. Soll es ewig so wei­ter­ge­hen? Es gibt Leu­te, die kom­men schon Jah­re auf die Schreib­stu­be.

Bü­ro­vor­ste­her Mer­gen­thal ist nicht schlimm. Zum Bei­spiel hilft er manch­mal, wenn eine Ar­beit ei­lig ist. Dann ver­schenkt er sei­ne Adres­sen, meis­tens an Beer­boom, aber auch Ku­falt hat ein­mal hun­dert be­kom­men. Und er kann es über­hö­ren, wenn sie ein Wort spre­chen, nur darf Sei­den­zopf nicht im Lan­de sein. Mer­gen­thal geht dann vor die Tür. Vi­el­leicht horcht er, aber je­den­falls klatscht er nicht.

»Wie viel ha­ben Sie?« fragt Maack den Ku­falt.

»Vier­hun­dert. Nein, noch nicht. Drei­hun­dert­acht­zig. O Gott, ist das schwer! Es wird ei­gent­lich je­den Tag we­ni­ger statt mehr.«

»Ja«, sagt Maack und nickt mit sei­nem ener­gi­schen blas­sen Ge­sicht. »Ja. So geht es den meis­ten zu An­fang. Es wird im­mer schlech­ter.«

»Sind Sie auch …?« fragt Ku­falt und bricht wie­der ab.

»Ich auch«, nickt Maack lä­chelnd. »Wohl die meis­ten hier. Vi­el­leicht sind ein paar da­bei, die nur stel­lungs­los sind. Aber das weiß man nicht.«

»Ist Mer­gen­thal auch vor­be­straft?« flüs­tert Ku­falt.

»Mer­gen­thal?« Maack scheint nach­zu­den­ken. Aber viel­leicht ist ihm die Fra­ge auch nur un­an­ge­nehm. »Das weiß ich nicht au­then­tisch.«

Und schreibt end­gül­tig wei­ter.

Beer­boom er­regt sich wie­der ein­mal. Er hat am Abend vor­her Adres­sen mit dem Hand­wa­gen ab­ge­lie­fert und bei der Fir­ma ge­horcht, was die wohl zah­len fürs Tau­send »Zwölf Mark. Zwölf Mark! Und uns ge­ben sie fünf und sechs! Ver­bre­cher sind das, Räu­ber, Aus­beu­ter …«

Aber nun öff­net sich die Tür, und Mer­gen­thal kommt wie­der. »Beer­boom, Sie müs­sen schrei­ben. Sie dür­fen nicht spre­chen! Sie wis­sen, wenn Frau Sei­den­zopf das hört oder Fräu­lein Min­na …«

»Fräu­lein Min­na!« höhnt Beer­boom. »Wenn ich das schon höre: Fräu­lein Min­na! Die Für­sor­ge­gö­re! Krie­chen müs­sen wir, Pa­pier be­krit­zeln, da­mit die Wei­ber sich dicke­tun kön­nen! Zwölf Mark krie­gen sie, und uns ge­ben sie sechs – wenn das Ge­rech­tig­keit ist …!«

»Herr Beer­boom, sei­en Sie jetzt still. Ich darf das nicht hö­ren, ich müss­te es Herrn Sei­den­zopf mel­den …«

Nun, schließ­lich be­ru­higt sich Beer­boom wie­der, und Mer­gen­thal mel­det es nicht. Aber Min­na hat mal wie­der ge­lauscht, und von Min­na er­fährt es Sei­den­zopf.

»Ich über­ge­be Sie der Po­li­zei, Beer­boom. Ihre Be­wäh­rungs­frist ver­fällt. Ent­we­der – oder. Es ist mein letz­tes Wort!«

Und am nächs­ten Tag folgt dann das Straf­ge­richt beim Pas­tor. Beer­boom wird zer­malmt, zer­quetscht, sei­ne jam­mern­den Pro­tes­te wer­den nie­der­ge­don­nert. Beer­boom wird zu straf­fer Ar­beit an­ge­hal­ten.

An die­sem Tage lie­fert er als Ta­ges­leis­tung achtund­sech­zig Adres­sen ab.

Aber auch Ku­falt wird wie­der ein­mal zu Pas­tor Mar­ce­tus ge­ru­fen. »Wie ich höre, sind Sie noch im­mer hier.«

»Herr Pas­tor Zum­pe hat doch si­cher we­gen des Gel­des ge­schrie­ben?«

»Pas­tor Zum­pe?« Ab­leh­nen­de Hand­be­we­gung. »Ich bin der Sa­che nicht nach­ge­gan­gen. – Sie ha­ben an Ihren Schwa­ger ge­schrie­ben?«

»Ja«.

»Ihr Schwa­ger will wis­sen, wie wir mit Ih­nen zu­frie­den sind.«

»Und wie sind Sie mit mir zu­frie­den?«

»Sie kom­men oft zu spät nach Haus.«

»Im­mer un­ter der Ob­hut von Herrn Pe­ter­sen.«

Der Pas­tor über­legt. »Ihr Schwa­ger ist be­gü­tert?«

»Er hat eine Fa­brik.«

»So. Eine Fa­brik. – Sie ha­ben ge­be­ten, dass Ihre sämt­li­chen Sa­chen hier­her ge­schickt wer­den. Das geht na­tür­lich nicht, wir wä­ren ver­ant­wort­lich, wenn et­was ab­han­den­kommt.«

»Wer­den Sie dar­um nicht mit mir zu­frie­den sein?«

Der Pas­tor sieht wirk­lich nicht zu­frie­den aus. Er äu­ßert sich aber mehr all­ge­mein: »Ei­nen Ton ha­ben die jun­gen Leu­te heut­zu­ta­ge. Wir sind Ih­nen doch be­hilf­lich.«

 

»Sie wer­den also mit mir zu­frie­den sein?«

»Ihre Ar­beits­leis­tung ist ganz un­ge­nü­gend.«

»Las­sen Sie mich raus­zie­hen, Herr Pas­tor, aus dem Heim und täg­lich auf die Schreib­stu­be kom­men wie die an­de­ren.«

Der Pas­tor schüt­telt miss­bil­li­gend den Kopf. »Zu früh. Viel zu früh. Der Über­gang soll sach­te sein.«

»In der Haus­ord­nung steht, der Auf­ent­halt im Heim soll vier Wo­chen nicht über­stei­gen.«

»Im All­ge­mei­nen, heißt es dort, im All­ge­mei­nen.«

»Bin ich ein be­son­de­rer Fall?«

»Wo­von wol­len Sie denn drau­ßen le­ben?«

»Von mei­nem Ar­beits­lohn hier.«

»Sie ver­die­nen ja kei­ne vier Mark den Tag. – Nein, nein, Sie ha­ben an­de­re Din­ge im Kopf.«

»Was für an­de­re Din­ge?«

Aber der Pas­tor will nicht mehr. Er ist müde oder ver­är­gert, oder er lang­weilt sich auch. »Hier habe ich zu fra­gen, Herr Ku­falt. Nein, ich wer­de Ihrem Herrn Schwa­ger schrei­ben, dass Sie für die nächs­te Zeit noch bei uns blei­ben. Vi­el­leicht im Juli. Nein, ge­hen Sie jetzt. Gu­ten Mor­gen üb­ri­gens.«