Hans Fallada – Gesammelte Werke

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11

Es ist nicht dun­kel in der Zel­le. Durch das Fens­ter kommt Mond­licht. Ku­falt stellt sich auf sein Bett und zieht sich an der Blech­blen­de hoch. Nun kann er mit ei­nem Knie auf dem schma­len Fens­ter­sims ru­hen und sieht oben, un­ter der De­cke, in die Nacht.

Ja, es ist still. Wenn sich auch ein­mal ein Hund rührt und ein Schritt laut wird auf dem Hof von der Nacht­wa­che, dar­um ist die Nacht nur noch stil­ler.

Nein, kei­ne Ster­ne. Auch den Mond kann er nicht se­hen, nur sei­ne Hel­lig­keit ist in der Luft. Die dunklen, schwe­ren, lan­gen Schat­ten da, das sind die Mau­ern, und was sich kug­lig über ih­nen wölbt, das sind die Kas­ta­ni­en. Die blü­hen jetzt, aber man kann sie nicht rie­chen. Kas­ta­ni­en rie­chen nur von ganz nah, und dann rie­chen sie un­an­ge­nehm, wie Sa­men.

Aber sie wer­den noch blü­hen, wenn er drau­ßen ist. Er kann un­ter ih­nen ge­hen, wenn sie blü­hen, er kann hin­ge­hen, wenn sie vol­ler wer­den im Grün, wenn die ers­ten gel­ben Blät­ter kom­men, wenn die Früch­te plat­zen, wenn sie kahl sind, wenn sie wie­der blü­hen – im­mer kann er zu ih­nen ge­hen, über­all­hin kann er ge­hen, wie er will, wann er will.

Es ist nicht aus­zu­den­ken. Fünf Jah­re lang hat er vie­le hun­dert Male hier un­ter der De­cke ge­han­gen, im­mer in Ge­fahr, mit der Blen­de her­un­ter­zu­ras­seln oder vom Wacht­meis­ter er­wi­scht zu wer­den, nun braucht er das al­les nicht mehr.

Der Thies­sen hat gut quas­seln, denkt er. Der ver­steht von nichts mehr was, so ein Wacht­meis­ter hat ja le­bens­läng­lich. Und das mit sei­nen zwei Söh­nen. Ich weiß ganz gut, der Jüngs­te hat lan­ge Fin­ger ge­macht und säße auch hier, wenn der Va­ter nicht al­les ab­be­zahl­te. Viel Ge­halt hat er auch nicht.

Er hat Lust auf eine Zi­ga­ret­te und klet­tert hin­un­ter. Wäh­rend er im Dun­kel der Zel­le nach den Ho­sen und dem Ta­bak in ih­nen tas­tet, über­kommt ihn plötz­lich ein Ge­fühl … er bleibt ste­hen …

Ich will nicht mehr, denkt es in ihm. Ich will ge­wiss nicht mehr. Ein gu­ter al­ter Mann, er ist im­mer nett ge­we­sen zu al­len. Es ist auch so wie drau­ßen die Nacht, es wird dun­kel, der Mond scheint, dann wird es wie­der hell, es ist al­les ganz ein­fach …

Er be­müht sich, klar­zu­wer­den. Alle die­se Schuf­tig­kei­ten, es macht es nur schwe­rer, es war vor­her al­les viel leich­ter, als ich noch ganz ein­fach in mei­ner Zel­le saß, nichts von Schie­ben und An­ge­ben wuss­te. Ich muss se­hen, dass es wie­der leich­ter wird. Ich kom­me sonst nicht durch, bin zu schwach, recht hat er. Es wird mir im­mer gleich al­les zu viel. Man müss­te ir­gend­ei­nen sau­be­ren An­fang ha­ben, ganz gleich wie. Vi­el­leicht gehe ich mor­gen doch zum Pas­tor.

Er dreht sich die Zi­ga­ret­te und zün­det sie an. Ich muss se­hen, dass es geht. Ich will gleich mor­gen früh da­mit an­fan­gen, nicht um fünf am Fens­ter nach Batz­kes Trul­le zu se­hen.

Er sitzt im Hemd auf der Bett­kan­te und starrt vor sich hin, sehr hilf­los. Die Asche fällt un­be­ach­tet auf den herr­li­chen Fuß­bo­den. Sei­ner hat ein Stern­mus­ter, mit Mond und Son­ne.

ZWEITES KAPITEL – Die Entlassung

1

Ob Ku­falt, am Mor­gen um fünf er­wacht, sich den Rei­zen ei­nes nack­ten Mäd­chen­kör­pers ver­wei­gert hät­te, bleibt zwei­fel­haft. Denn er wacht erst um drei Vier­tel sechs auf, als die Glo­cke mit zwei schar­fen Schlä­gen Si­gnal zum Auf­ste­hen und Wa­schen gibt.

Er fährt hoch, in die Ho­sen, be­son­ders gut wird das Bett ge­macht, denn heu­te ist die große Zel­len­ab­schieds­re­vi­si­on. Dann das Wa­schen im Email­le-Ess­napf statt in der blin­ken­den Ni­ckel­wasch­schüs­sel, die nun zu put­zen kei­ne Zeit mehr ist.

Als die Kal­fak­to­ren um sechs nach Kü­beln und Was­ser lau­fen, die Zel­len­rie­gel zu­rück­don­nern und die Sch­lös­ser knacken, ist Ku­falt schon längst beim Rei­ni­gen des Ze­ment­fuß­bo­dens. Noch ein­mal muss das Mus­ter drauf ge­wichst wer­den, al­les ist von der Nacht ver­dor­ben. Dann baut er das In­ven­tar nach ei­nem hei­li­gen Sys­tem auf, da­mit der Haupt­wacht­meis­ter auf einen Blick über­schaue: sie­he! al­les ist da.

Und bei all die­ser Tä­tig­keit denkt er doch nur un­un­ter­bro­chen an den Traum, den er ge­habt hat in der Nacht. Der Traum aus den ers­ten Wo­chen sei­ner Un­ter­su­chungs­haft ist wie­der­ge­kom­men, jetzt in die­ser Nacht.

Er läuft auf einen dunklen, tief­ver­schnei­ten Wald zu. Er muss sehr rasch lau­fen, die Po­len­te ist auf sei­ner Spur. Es ist Nacht, es ist bit­te­rer Win­ter, der Wald vor ihm ist sehr groß, auf ei­ner Kar­te hat er ge­se­hen, acht­zehn Ki­lo­me­ter läuft die Chaus­see durch Wald. Aber er muss hin­über nach der an­de­ren Sei­te, dort geht eine an­de­re Bahn­li­nie, dort ver­mu­ten sie ihn nicht, dort kann er viel­leicht noch ent­kom­men.

Ehe er in die un­ge­heu­re Wal­dung ein­taucht, die ihn für vier Nacht­stun­den um­schlie­ßen wird, muss er durch ein Dorf. Und im Gast­hof des Dor­fes sind die Fens­ter noch hell. Er geht hin­ein und lässt sich einen Schnaps ge­ben. Und noch einen. Und noch einen. Es scheint, er kann nicht mehr warm wer­den. Er kauft sich eine Fla­sche Ko­gnak. Er ver­staut sie in sei­ne Ak­ten­ta­sche und zahlt.

Da­bei merkt er, dass ihn zwei Män­ner auf­merk­sam be­trach­ten, ein blas­ser, fuchs­ge­sich­ti­ger, jun­ger und ein al­ter, ge­dun­se­ner, mit nur noch ein paar Haa­ren auf der schor­fi­gen Plat­te. Zwei Penn­brü­der.

»Viel Schnee auf den We­gen«, krächzt der Alte.

»Ja«, ant­wor­tet Ku­falt und sieht, wo das Wech­sel­geld auf sei­nen Hun­der­ter bleibt. Er hat die Geld­ta­sche da­bei in der Hand, und der Blick des jun­gen Fuch­ses liegt auf ihr, halt­los gie­rig.

»Gibt noch mehr Schnee, Nach­bar«, brummt der Alte. »Kei­ne Nacht zum Spa­zie­ren­ge­hen.«

»Nein«, sagt er kurz und steckt die Brief­ta­sche ein. Er sagt »Gu­ten Abend« ge­gen den Wirt hin und geht hin­aus. Als er an dem Tisch der bei­den vor­bei­kommt, steht der jun­ge auf und sagt bit­tend: »Ge­ben Sie einen Schnaps aus für zwei Durch­ge­fro­re­ne. Wir wol­len auch noch auf Quanz.«

Er geht rasch vor­bei, als hät­te er nichts ge­hört.

Drau­ßen emp­fängt ihn der Wind mit ei­nem schar­fen pras­seln­den Trieb Schnee di­rekt ins Ge­sicht. Er muss sich Schritt um Schritt ge­gen ihn an­kämp­fen, der Wald steht dun­kel über dem Feld, ein paar hun­dert Me­ter ab.

Ich hät­te ih­nen einen Grog ge­ben las­sen sol­len, macht er sich Vor­wür­fe. Dann wä­ren sie noch eine Vier­tel­stun­de sit­zen ge­blie­ben, und ich hät­te Vor­sprung ge­habt. Die sind scharf auf mein Geld. Wa­rum hat er ge­sagt, wir ge­hen auch auf Quanz? Wo­her weiß er, wo­hin ich will?

Er ver­sucht, den Weg zu­rück­zu­se­hen, den er kam.

Aber es ist nichts zu er­ken­nen, der Schnee treibt ja­gend schräg vor­bei.

Im Wald wird es stil­ler sein. Aber der Schnee wird hoch lie­gen. Noch acht­zehn Ki­lo­me­ter! Ich bin wahn­sin­nig, wie gut saß ich in Ber­lin! So­bald ich im Wal­de bin, neh­me ich die Tau­sen­der aus der Brief­ta­sche und ver­ste­cke sie an mir. Dann fin­den sie nur das Wech­sel­geld von dem Hun­der­ter, und das sol­len sie ger­ne ha­ben!

Er läuft ge­gen Wind und Schnee stür­mend an. Der Al­ko­hol flammt in ihm hoch, er dampft von Wär­me. Der Schnee kühlt das Ge­sicht gut.

Dann plötz­lich ist es ganz still um ihn, er ist in die »Ge­duld« ge­kom­men, in den Wind­schat­ten des Wal­des. Nur noch ein paar Schrit­te. Da steht ein Tan­nen­busch gleich am Wege, er will hin­ter ihm De­ckung neh­men, bricht in die me­ter­tie­fe Schnee­ver­we­hung des Chaus­see­gra­bens ein und kämpft, im­mer wie­der ab­rut­schend und ein­sin­kend, um fes­ten Bo­den.

Als er den hat, nimmt er sich nicht erst die Zeit, den Schnee ab­zu­klop­fen von den Klei­dern. Er setzt einen Fuß auf den Chaus­see­stein und knöpft has­tig die Schnür­sen­kel auf. Sei­ne Schu­he sind gut, mit lan­gen, was­ser­dich­ten Schäf­ten, der Fuß dar­in ist tro­cken und warm. Vor­sich­tig schiebt er das flach ge­kniff­te Pa­ket mit den Tau­sen­dern – es sind lei­der nur noch drei – zwi­schen Strumpf und Haut, fühlt, ob al­les gut und glatt sitzt, und zieht den Schuh wie­der an.

Dann rich­tet er sich auf. Er nimmt einen tüch­ti­gen Schluck aus der Fla­sche. Er ist ganz ru­hig jetzt und sei­ner Sa­che si­cher. Die krie­gen ihn nie, we­der die noch die. Er ist der Schlaus­te. Er muss nur forsch aus­schrei­ten, die ho­len ihn nie ein.

Und so be­ginnt sei­ne Wan­de­rung. Sie ist schwie­ri­ger, aber auch leich­ter, als er dach­te. Von den bei­den sieht und hört er nichts wie­der, doch der Schnee liegt schreck­lich hoch, bei den Schnei­sen in brei­ten We­hen, in de­nen er bis zu den Ar­men ver­sinkt. Und von der Chaus­see glei­tet er so oft ab, dass er schließ­lich dar­in Rou­ti­ne hat: So­bald er den Bo­den un­ter den Fü­ßen ver­liert und in den Gra­ben rutscht, wirft er sich mit al­ler Ge­walt in die frü­he­re Geh­rich­tung, dann lan­det er meist noch auf fes­ter Erde.

Von Zeit zu Zeit macht er einen Chaus­see­stein frei und leuch­tet die Zahl an. Er kommt lang­sam vor­wärts. Mehr als drei Ki­lo­me­ter schafft er nicht in der Stun­de. Gut ist, dass er den Ko­gnak hat, aber trotz al­le­dem: den Früh­zug be­kommt er nicht mehr in Quanz, und vor al­lem: er muss dort erst in ein Ho­tel und schla­fen und schla­fen!

Als er die ge­leer­te Fla­sche in den Schnee wirft, hat er noch vier Ki­lo­me­ter vor sich. Vor acht kann er nicht in Quanz sein. Die letz­ten Ki­lo­me­ter fällt er nur vor­wärts, von ei­nem Fuß auf den an­de­ren, trotz­dem zum Schluss die Chaus­see fast schnee­frei ist, au­ßer­halb des Wal­des rein ge­weht vom Win­de.

 

Dann sitzt er im Deut­schen Ad­ler in Quanz auf der Bett­kan­te, das Zim­mer ist ei­sig, der eben an­ge­zün­de­te Ofen qualmt. Er schläft im­mer wie­der, zur Sei­te fal­lend, ein, aber er muss sich aus­zie­hen, er kann nicht schla­fen in dem nas­sen Zeug. Sei­ne Glie­der sind starr, sei­ne Kno­chen voll Eis.

Er streift den Strumpf ab …

Er starrt, er sitzt da, ver­ständ­nis­los. Dann hel­fen die Fin­ger den Au­gen beim Su­chen. Sie fin­den – einen wei­chen zer­rie­be­nen Pa­pier­brei, fast farb­los, Pa­pier, das acht Stun­den zwi­schen feuch­tem Fuß und Strumpf zer­ar­bei­tet wur­de.

Drei­tau­send – sein letz­tes Geld, der letz­te Rest vom Un­ter­schla­ge­nen! Er wirft sich aufs Bett und bleibt lie­gen, wie er hin­fällt, ohne Den­ken. Et­was spä­ter be­stellt er sich Ko­gnak aufs Zim­mer, auch hei­ßen Rot­wein mit Nel­ken und Zu­cker.

Drei Tage bleibt er in sei­nem Bett, im­mer trin­kend, dann ist das klei­ne Geld aus der Brief­ta­sche alle. Er geht los und stellt sich der Po­li­zei, ge­nau­er dem Ober­land­jä­ger von Quanz, ei­nem Städ­tel mit drei­tau­send Ein­woh­nern. Es ist zu Ende.

Dies hat er er­lebt, es ist et­was über fünf Jah­re her. Und dies hat Ku­falt ge­träumt, vie­le, vie­le Näch­te lang, die gan­zen ers­ten Mo­na­te nach sei­ner Ver­haf­tung: den Nacht­marsch durch den Wald und den Au­gen­blick, da er aus dem Strumpf die zer­matsch­ten Tau­sen­der hol­te.

Es hat ihm einen Stoß ver­setzt, es ist das Schlimms­te, was er je er­lebt hat. Es hat sei­nen Stolz für im­mer ge­knickt, die Ein­bil­dung, er wäre wer. Nicht ein­mal zum Ga­no­ven taugt er. Nie wird er je­man­dem dies Er­leb­nis er­zäh­len, stets hat er er­klärt, er habe al­les Geld ver­lu­dert, auch die­se drei.

Spä­ter ist der Traum sel­te­ner ge­kom­men, aber im­mer ein­mal kam er wie­der. Auch heu­te Nacht. Auch die­se Nacht. Da das neue Le­ben be­ginnt, klirrt das alte Ket­ten­glied.

Aber selt­sam, der Traum hat sich ge­wan­delt, ein we­nig nur, eine ge­rin­ge Klei­nig­keit war an­ders.

Er er­in­nert sich ge­nau: Auch heu­te Nacht hat er den Fuß auf den Chaus­see­stein ge­setzt, den Sen­kel ge­löst, den Schuh ab­ge­streift. Nur … es wa­ren kei­ne drei Tau­sen­der, die er in den Strumpf schob, es war ein Hun­der­ter …

Es war der Hun­der­ter!

2

Wil­li Ku­falt sitzt in Ge­dan­ken ver­lo­ren da. Zö­gernd bückt er sich nach sei­nem Strumpf. Ei­gent­lich müss­te ich ihn dem Net­ze­meis­ter wie­der­ge­ben. Aber das kann ich nun doch nicht. Lie­ber zer­reiß ich ihn.

Er hat ein deut­li­ches Ge­fühl von dem neu­en Le­ben, das nun be­gin­nen soll. Es ist et­was wie das Mond­licht heu­te Nacht. Klar, fühlt er. Nichts mit­schlep­pen.

Er fasst in den Strumpf …

Er lässt die Hand wie­der vom Strumpf. Er steht mit ei­nem Ruck auf und stellt sich un­ter das Fens­ter, in auf­merk­sa­mer Hal­tung, denn Haupt­wacht­meis­ter Rusch kommt in die Zel­le.

Der Sta­ti­ons­wacht­meis­ter bleibt an der Tür ste­hen.

Der Haupt­wacht­meis­ter sieht den Ge­fan­ge­nen nicht an. Er be­trach­tet erst den Kü­bel, dann die In­ven­tarauf­stel­lung auf dem Tisch, dann das Ar­ran­ge­ment aus Schüs­seln, Bürs­ten, Do­sen, Putz­kas­ten auf dem Fuß­bo­den. Ir­gen­det­was miss­fällt ihm, er klap­pert erst mit den Schlüs­seln, dann stößt er mit der Fuß­spit­ze die Bürs­ten durch­ein­an­der.

»Erst Wich­se, dann Klei­der«, be­fiehlt er.

Ku­falt geht hin, bückt sich und legt die Bürs­ten in die ge­for­der­te Ord­nung.

»Was ge­lernt, was?« fragt Rusch gnä­di­ger. »Kein Schwein mehr?«

»Nein«, sagt Ku­falt und denkt dar­an, dass er hier bei­spiels­wei­se ge­lernt hat, sich in der Ess­schüs­sel zu wa­schen und mit dem Net­ze­mes­ser, ei­nem schwärz­li­chen Stum­mel, zu es­sen, bloß um den be­foh­le­nen Pa­ra­deglanz der Din­ge nicht zu zer­stö­ren.

Der Haupt­wacht­meis­ter geht ge­gen die Tür. Aber er hat noch et­was, er bleibt ste­hen und be­trach­tet nach­denk­lich den Wand­schrank. Er fasst mit dem Fin­ger hin­auf und wischt die Kan­te ent­lang.

»Herr Suhm«, sagt er, »Brief­bo­gen aus­ge­ben. Ich mach al­lein wei­ter.«

Der Sta­ti­ons­wacht­meis­ter ver­schwin­det.

»Der Se­the. Der Se­the«, sagt Rusch und be­trach­tet die De­cke. »Nimmt er an?«

Ku­falt über­legt einen Au­gen­blick. Er weiß es zwar nicht, ob der alte Kar­tof­fel­schä­ler sei­ne drei Mo­na­te Stra­fe we­gen Be­lei­di­gung des Kü­chen­wacht­meis­ters an­neh­men oder ob er Be­ru­fung ein­le­gen wird, denn der spricht ja mit ihm nicht mehr. Aber da­von er­zählt er dem Rusch lie­ber nichts.

»Glau­be nicht, Herr Haupt­wacht­meis­ter«, sagt er. »Wird wohl Be­ru­fung ein­le­gen.«

»Soll er nicht. Soll nicht dumm sein. Mit ihm re­den. Stra­fe an­neh­men, dann Be­wäh­rungs­frist, mor­gen raus. Sonst – bleibt er hier, Un­ter­su­chungs­haft – Ver­dun­ke­lungs­ge­fahr.«

Kie­ke da, denkt Ku­falt, das ha­ben die ja wie­der fein hin­ge­dreht. Acht Jah­re hat der olle Se­the ab­ge­ris­sen, da wis­sen die ganz ge­nau, dass ihm jetzt je­der Tag zu viel wird. Da­mit wol­len sie ihn krie­gen.

Und laut: »Ich kann ja heu­te Mit­tag mal mit ihm re­den. Aber ich glaub nicht, Herr Haupt­wacht­meis­ter, dass da was zu ma­chen ist. Der hat einen Ro­chus im Leib.«

»Soll nicht dumm sein, an­neh­men. Dann Be­wäh­rungs­frist. Sonst – wei­ter Knast­schie­ben!« Der Haupt­wacht­meis­ter macht eine Pau­se.

Da­rauf sagt er be­deu­tungs­voll: »Und dann …«

Er bricht ab. Sehr be­deu­tungs­voll.

Ja, und dann …, denkt Ku­falt. Ich weiß schon, was du meinst. Es ist näm­lich noch gar nicht si­cher, dass der Se­the dann in ei­nem Vier­tel­jahr raus­kommt. Erst mal wer­den ihn wohl die Kü­chen­hengs­te ein biss­chen er­le­di­gen in sei­nem dunklen Kel­ler, und ein Ge­fan­ge­ner ist kein Zeu­ge. Biss­chen in die Ma­che neh­men, dass er sein ei­ge­nes Ge­schrei mal hört. Und dann wer­den ihn die Be­am­ten ein ganz klei­nes biss­chen rei­zen – der ist ja jetzt schon wie so ein Tee­kes­sel am Über­ko­chen –, bis er wie­der was Dum­mes sagt und wie­der Be­am­ten­be­lei­di­gung. Und viel­leicht ist er gar tät­lich ge­wor­den, ganz egal, ob er’s wirk­lich ge­wor­den ist – dem kön­nen sie Knast be­sor­gen, bis er auf der Ir­ren­ab­tei­lung ist …

»Schlau­er ist, er nimmt an«, sagt also Ku­falt auch.

»Siehst du«, sagt der Haupt­wacht­meis­ter gnä­dig. »Ihm sa­gen. Soll sich vor­mel­den zum Ge­richts­schrei­ber. Kommt heu­te her. Dann mor­gen früh sie­ben raus.«

»Ja­wohl, Herr Haupt­wacht­meis­ter«, sagt Ku­falt und weiß, dass er mit Se­the nicht ein Wort spre­chen wird.

Der Haupt­wacht­meis­ter nickt. »Ver­nünf­tig. Bist im­mer ver­nünf­tig ge­we­sen – bis auf die an­de­ren Male. Fer­tig­ma­chen. Hole dich gleich zum Di­rek­tor. Maul hal­ten.«

Der Haupt­wacht­meis­ter ist weg und re­vi­diert wei­ter die Zel­len auf Ord­nung und Sau­ber­keit.

Ku­falt steht da.

Jetzt vor acht Uhr zum Di­rek­tor! Schwa­ger Wer­ner hat ge­schrie­ben! Vi­el­leicht ist die Schwes­ter selbst da, ihn ab­zu­ho­len! Aber da­für ist es doch noch einen Tag zu früh? Es ist na­tür­lich we­gen et­was an­de­rem, es ist we­gen Se­the. Wa­rum hat der Haupt­wacht­meis­ter zum Schluss ge­sagt: Maul hal­ten …?

Er wird dem Di­rek­tor sa­gen, was er will. Di­rek­tor Gre­ve ist der ein­zi­ge Mensch im Bau, dem man al­les sa­gen kann. Er kann ja nicht viel ma­chen, sei­ne Be­am­ten stim­men ihn im­mer nie­der, aber er ist an­stän­dig, er tut, was er kann. Und er will nur kön­nen, was an­stän­dig ist.

Ku­falt denkt wie­der an sei­nen Hun­der­ter. Aber er nes­telt nicht mehr an sei­nem Strumpf. Er räumt das In­ven­tar ein. Schei­be, denkt er. Ja, Schei­be! Aus­ge­rech­net hier fan­ge ich mit An­stän­dig­keit an. So blau!

Und dann: Eine schö­ne Dumm­heit hät­te ich ge­macht, hät­te ich den Hun­der­ter zer­ris­sen. Die sind doch alle so, die drau­ßen sind auch nicht an­ders. Se­the – den wer­den sie noch nach acht Jah­ren Knast er­le­di­gen. Und ich soll an­stän­dig sein? So blau!

Der Haupt­wacht­meis­ter steckt den Kopf durch die Tür. »Mit­kom­men«, sagt er.

3

Ku­falt kommt im­mer be­son­ders ger­ne aus dem Zel­len­ge­fäng­nis zu de­nen »vor­ne«.

Er geht einen hal­b­en Schritt vor dem Haupt­wacht­meis­ter her, am Glas­kas­ten der Zen­tra­le vor­bei. Hier wird es schon ganz an­ders, hier sind die großen Zel­len der Hand­wer­ker: der Schus­ter und Schnei­der, der Stein­dru­cker und des Bü­cher­warts. Hier ste­hen die Zel­len­tü­ren weit of­fen, und die Hand­wer­ker lau­fen ein und aus, zur Was­ser­lei­tung und zum Werk­meis­ter, mit Bü­ge­lei­sen und mit Le­der­ku­pons.

Dann aber kommt die große fes­te Ei­sen­tür.

Der Haupt­wacht­meis­ter schließt zwei­mal, Ku­falt tritt durch die Tür und steht auf dem Bü­roflur. Ein kah­ler Flur, weiß­ge­tünch­te Wän­de, das Lin­ole­um des Bo­dens fle­cken­los spie­gelnd, und eine end­lo­se Rei­he Tü­ren. Ku­falt kennt sie alle: Sprech­zim­mer, Leh­rer, Pas­tor, zwei­tes Sprech­zim­mer, zwei Ober­se­kre­tä­re von der Ar­beits­in­spek­ti­on, das Vor­zim­mer zum Di­rek­tor, Di­rek­tor­zim­mer, Ober­wacht­meis­ter vom Post­dienst. Und auf der an­de­ren Sei­te wie­der zu­rück: Te­le­fon­zen­tra­le, Po­li­zei­in­spek­tor, Ar­beits­in­spek­tor, Öko­no­mi­e­in­spek­tor, Kas­se, Kas­sen­in­spek­tor, Arzt, Ju­gend­für­sor­ger, Kon­fe­renz­zim­mer, Un­ter­su­chungs­rich­ter und die Auf­nah­me.

In fast al­len die­sen Zim­mern ist er ge­we­sen mit Bit­ten und Ge­su­chen, um ge­ta­delt zu wer­den, um Schrift­stücke zu un­ter­schrei­ben. Von hier aus ist sein Schick­sal ge­re­gelt wor­den, sind Hoff­nun­gen er­weckt und ent­täuscht wor­den.

Der Po­li­zei­in­spek­tor hat ihm ein­mal drei Mo­na­te lang sei­nen Be­such ver­spro­chen und ist nie ge­kom­men. Seit­dem hasst er ihn. Der Leh­rer hat ihm ein­mal zwan­zig fast neue Zeit­schrif­ten auf die Zel­le ge­ge­ben, der war über­haupt im­mer an­stän­dig. Mit dem Ar­beits­in­spek­tor hat er oft Krach ge­habt, weil die Abrech­nung nicht stimm­te. Ein­mal gab der Öko­no­mi­e­in­spek­tor acht Wo­chen zu flott Le­bens­mit­tel aus, und am Schluss des Quar­tals be­kam dann das gan­ze Kitt­chen sol­chen Fraß, dass man nichts mehr den­ken konn­te wie Kohldampf, Kohldampf, Kohldampf … Der Pas­tor, nun, über den war über­haupt nicht zu re­den. Der war nun schon über die Sech­zig und mach­te seit vier­zig Jah­ren im Bun­ker Dienst – der käl­tes­te Pha­ri­sä­er auf die­ser pha­ri­säi­schen Erde.

Der Di­rek­tor an­de­rer­seits, nun, über den ließ sich auch nicht re­den. Ein herr­li­cher Mann … zu gut viel­leicht, zu gut si­cher. Er hat schon viel Bö­ses durch sei­ne Güte er­fah­ren, dar­um hat er den rech­ten Mumm nicht mehr, et­was ge­gen sei­ne Be­am­ten durch­zu­drücken, die doch im­mer recht be­hal­ten. Aber im­mer noch gut.

Der Haupt­wacht­meis­ter klopft an die Tür. »Der Straf­ge­fan­ge­ne Ku­falt«, mel­det er.

Der Di­rek­tor hin­ter sei­nem Schreib­tisch sieht hoch. »Es ist gut, Haupt­wacht­meis­ter. Sie kön­nen ge­hen, ich schi­cke den Mann dann zu­rück.«

So eine Art Vor­füh­rung wurmt den Haupt­wacht­meis­ter, die­sen mäch­ti­gen Mann, das weiß Ku­falt. Beim vo­ri­gen Di­rek­tor ist er bei je­der Un­ter­re­dung da­bei­ge­we­sen und hat fes­te mit­ge­re­det. Aber der Haupt­wacht­meis­ter ver­zieht kei­ne Mie­ne, er macht kehrt und geht aus dem Zim­mer.

Der Di­rek­tor sitzt hin­ter sei­nem Schreib­tisch. Er hat fri­sche Far­ben, ein paar Durch­zie­her in der lin­ken Ba­cke und blaue Au­gen. Au­ßer­dem hat er eine Plat­te, die von den fri­schen Far­ben auch was ab­be­kom­men hat, ge­gen die Stirn ist sie rosa, ge­gen den Schei­tel wird sie im­mer rö­ter.

»Set­zen Sie sich«, sagt der Di­rek­tor. »Sie neh­men eine Zi­ga­ret­te, nicht wahr, Ku­falt?«

Er bie­tet ihm die Schach­tel an, es ist eine Sor­te zu sechs Pfen­nig, Ku­falt sieht es, et­was Fa­bel­haf­tes. Und nun gibt ihm der Di­rek­tor auch noch Feu­er.

Er hat sehr ge­pfleg­te Hän­de und einen ta­del­los sit­zen­den Sport­an­zug, sei­ne Man­schet­ten fal­len so sau­ber über die Hand­ge­len­ke, Ku­falt kommt sich wie ein Schwein vor.

»Mor­gen ist es nun über­stan­den«, sagt der Di­rek­tor. »Ich will Sie fra­gen, ob ich Ih­nen noch ir­gen­det­was hel­fen kann?«

Ku­falt möch­te in sei­ner jet­zi­gen Stim­mung al­les ak­zep­tie­ren, was Di­rek­tor Gre­ve ihm etwa vor­schlägt, aber er hat kei­ne ei­ge­nen Vor­schlä­ge – trotz sei­ner Hilf­lo­sig­keit. So sieht er den Di­rek­tor nur ab­war­tend an.

 

»Was ha­ben Sie für Plä­ne?« fragt der. »Sie ha­ben doch Plä­ne?«

»Ich weiß nicht recht. Ich den­ke, mei­ne Ver­wand­ten schrei­ben noch.«

»Sie ste­hen mit ih­nen in Kor­re­spon­denz?« Und er­läu­ternd: »Sie wis­sen, ich lese die Post nicht. Die Zen­sur macht der Herr Pas­tor.«

»In Kor­re­spon­denz? Nein. Ich habe ih­nen in den letz­ten drei Mo­na­ten je­des Mal einen Brief ge­schrie­ben, wenn Schreib­tag war.«

»Und sie ha­ben nicht geant­wor­tet?«

»Nein, noch nicht.«

»Ihre Ver­wand­ten ste­hen gut da?«

»Ja.«

»Möch­ten Sie, wenn kei­ne Ant­wort kommt – sie kann na­tür­lich noch kom­men, wenn aber kei­ne kommt –, möch­ten Sie ein­fach hin­fah­ren zu Ihren Ver­wand­ten?«

»Nein«, sagt Ku­falt ganz er­schro­cken. »Nein, kei­nes­falls.«

»Gut. – Und Sie wol­len ernst­lich ar­bei­ten?«

»Am liebs­ten«, sagt Ku­falt sto­ckend, »möch­te ich ir­gend­wo­hin, wo nie­mand et­was weiß. Ich habe an Ham­burg ge­dacht.«

Der Di­rek­tor wiegt den Kopf hin und her. »Ham­burg … Groß­stadt …«

»Ach Gott, Herr Di­rek­tor, ich habe die Nase wirk­lich voll. Das lockt mich nicht mehr.«

»Die Ver­su­chun­gen der Groß­stadt …? Ach nee, Ku­falt, an die glau­be ich auch nicht. Oder viel­mehr, die in der Klein­stadt sind ge­nau­so. Aber die Ar­beits­lo­sig­keit ist in Ham­burg na­tür­lich noch schlim­mer. Sie ha­ben kei­nen, der Ih­nen dort hilft? Hier könn­te ich viel­leicht …«

»Nein, bit­te nicht hier. All die Ge­sich­ter …«

»Gut. Vi­el­leicht ha­ben Sie recht. Aber was dort? Was ha­ben Sie sich so ge­dacht?«

»Ich weiß doch noch nicht. An Buch- und Kas­sen­füh­rung kom­me ich na­tür­lich nicht wie­der ran. Und eine Stel­lung krie­ge ich auch nicht so leicht, wo die fünf Jah­re in mei­nen Pa­pie­ren feh­len …«

»Nein«, be­stä­tigt der Di­rek­tor. »Kaum.«

»Aber ich kann doch Schreib­ma­schi­ne. Wenn ich mir eine Ma­schi­ne kauf­te und Adres­sen schrie­be im Ak­kord? Und spä­ter eine rich­ti­ge Schreib­stu­be ein­rich­te­te? Ich kann gut Ma­schi­ne­schrei­ben, Herr Di­rek­tor.«

»Sie be­sit­zen kei­ne Ma­schi­ne? Ha­ben Sie Geld?«

»Nur die Ar­beits­be­loh­nung.«

»Und wie viel macht die?«

»Ich den­ke, drei­hun­dert Mark. – Ach, Herr Di­rek­tor, wenn Sie ver­an­las­sen wür­den, dass die mir hier gleich ganz aus­be­zahlt wer­den? Dass ich sie mir nicht alle Wo­chen vom Wohl­fahrt­samt ho­len muss?«

Der Di­rek­tor macht ein be­denk­li­ches Ge­sicht.

»Ich will so spar­sam sein, Herr Di­rek­tor!« bit­tet Ku­falt. »Ich will kei­nen Pfen­nig ver­lu­dern. Aber nicht aufs Wohl­fahrt­samt!« Und lei­se: »Ich möch­te auch mit so was durch sein.«

Der Di­rek­tor kann Bit­ten schlecht wi­der­ste­hen. Er sagt: »Gut. Das ist er­le­digt. Ich wer­de ver­an­las­sen, dass Sie Ihre Ar­beits­be­loh­nung voll aus­be­zahlt krie­gen. Aber, Ku­falt – von den drei­hun­dert Mark müs­sen Sie le­ben, viel­leicht zwei Mo­na­te, drei Mo­na­te le­ben, da kön­nen Sie sich kei­ne Schreib­ma­schi­ne kau­fen.«

»Auf Ra­ten?«

»Nein, nicht auf Ra­ten. Sie kön­nen ja nicht mit fes­ten Ein­nah­men rech­nen, das kann al­les fehl­ge­hen mit Ihren Adres­sen. Was also …?«

»Mei­ne Ver­wand­ten …«

»Die las­sen wir erst ein­mal ganz aus dem Spiel. Was ma­chen Sie also?«

»Ich – weiß – doch – nicht.«

Des Di­rek­tors Stim­me wird im­mer fri­scher: »Und wie lan­ge ha­ben Sie nicht Schreib­ma­schi­ne ge­schrie­ben? Fünf Jah­re nicht? Über fünf Jah­re nicht? Ja, das wird dann im An­fang nur müh­sam ge­hen, viel wer­den Sie nicht schaf­fen.«

»Ich kann gut hun­dert Adres­sen in der Stun­de tip­pen.«

»Ha­ben Sie ge­konnt. Heu­te nicht mehr. Sie den­ken, Sie sind ge­sund. Sie den­ken, Sie ha­ben Ihre zwei Pen­sen ge­strickt, das geht auch drau­ßen. Aber hier hat Sie nichts ab­ge­lenkt, Ku­falt, drau­ßen kom­men all die Sor­gen und die Ver­su­chun­gen. Sie sind doch den Um­gang mit Men­schen nicht mehr ge­wohnt. Und dann die Ki­nos, in die Sie nicht dür­fen, und die Cafés, für die Sie kein Geld ha­ben. Das wird al­les sehr schwer für Sie sein, Ku­falt. Das Schwe­re fängt erst an.«

»Ja«, sagt Ku­falt. »Ja.«

»Sie wa­ren lan­ge ge­nug hier im Bau, Ku­falt. Wie vie­le ha­ben Sie wie­der­kom­men se­hen?«

»Vie­le, vie­le.«

»Sie müs­sen stär­ker sein als die alle. Sie wer­den oft den­ken, das lohnt ja gar nicht die Mühe – für was denn? Ich kom­me ja doch nicht wie­der hoch. – Man­che kom­men aber doch wie­der hoch. Nur streng müs­sen Sie es an­ge­hen las­sen, Ku­falt, ganz streng.«

»Ja, Herr Di­rek­tor«, sagt Ku­falt ge­hor­sam.

Das Zim­mer ist zart bräun­lich ge­tönt. Die Fens­ter sind kei­ne Lö­cher in der Wand, son­dern ha­ben Gar­di­nen, wei­ße Mull­gar­di­nen mit zart­grü­nen Strei­fen. Ein rich­ti­ger Tep­pich liegt auf dem Bo­den.

»Sie sind wie ein Kran­ker, der lan­ge im Bett ge­le­gen hat. Sie müs­sen erst wie­der ge­hen ler­nen, Schritt für Schritt. Wer lan­ge im Bett lag, muss einen Stock zur Stüt­ze ha­ben oder je­man­den, der ihn führt. – Noch eine Zi­ga­ret­te? Gut.«

Der Di­rek­tor war­tet einen Au­gen­blick. »Sie den­ken jetzt, lass den man re­den, ich find mich schon zu­recht. Es – ist – aber – sehr – schwer. Bis Sie sich rein­ge­fun­den ha­ben in das Le­ben drau­ßen … Sie ha­ben doch frü­her nie ge­lebt ohne fes­tes Ein­kom­men? Se­hen Sie! Bis Sie sich ein­ge­lebt ha­ben, ist Ihr Geld alle. Und was dann?«

»Man möch­te bit­ten«, sagt Ku­falt müh­sam lä­chelnd, »dass Sie einen hier­be­hal­ten, Herr Di­rek­tor. Ich bin ja doch wie ein Mann, dem man die Hän­de ab­ge­schla­gen hat.«

»Nicht ab­ge­schla­gen«, sagt der Di­rek­tor. »Aber ge­lähmt sind sie, steif sind sie. Ich will Ih­nen was vor­schla­gen. Es gibt ein Haus in Ham­burg, da kön­nen Sie hin­ge­hen, da wer­den stel­lungs­lo­se Kauf­leu­te auf­ge­nom­men, auch straf­ent­las­se­ne Kauf­leu­te. Da ist eine Schreib­stu­be da­bei, Sie ar­bei­ten dort tags­über, ge­nau wie auf ei­nem Büro, und da­für ha­ben Sie Ihr Zim­mer und Ihr Es­sen frei. Wenn Sie mehr ver­die­nen, wird Ih­nen das gut­ge­bracht. Sie brau­chen Ihre Ar­beits­be­loh­nung nicht an­zu­grei­fen, die wird so­gar mehr, wenn Sie flei­ßig sind. Und so­bald Sie sich si­cher füh­len und ir­gend­ei­ne Ar­beit wis­sen, ge­hen Sie raus aus dem Heim. Sie kön­nen je­den Tag raus­ge­hen, Ku­falt.«

»Ja«, sagt Ku­falt über­le­gend. »Es sind nicht nur Straf­ent­las­se­ne da?«

»Nein«, sagt der Di­rek­tor. »So­viel ich weiß, auch sonst Stel­lungs­lo­se.«

»Und ich kann da ohne Wei­te­res hin?«

»Ganz rich­tig. Sie ler­nen ge­hen, Ku­falt, wei­ter nichts. Es wird na­tür­lich da so eine Art Haus­ord­nung ge­ben, und sehr lu­xu­ri­ös wird es auch nicht gra­de sein, aber Sie sind ja nicht ver­wöhnt.«

»Nein«, sagt Ku­falt auf­at­mend. »Nein, das bin ich nicht. Das ist sehr gut. Das will ich tun.«

Er sieht vor sich hin. Der Hun­der­ter im Strumpf brennt wie Aus­schlag. Er kämpft mit sich. Er möch­te ihn dem Di­rek­tor ge­ben. Da, neh­men Sie, ich will kla­ren Weg ha­ben. Der Di­rek­tor wür­de schon nichts fra­gen. Aber dann tut er es doch nicht, es sähe so groß­spre­che­risch aus, als woll­te er sei­ne Dank­bar­keit ab­be­zah­len, aber oben in der Zel­le wird er ihn gleich zer­rei­ßen. Be­stimmt.

»Ja«, sagt der Di­rek­tor. »Dann ist also al­les klar. – Und wenn ir­gen­det­was nicht klappt, dann schrei­ben Sie mir.«

»Ja. Und ich dan­ke Ih­nen auch, Herr Di­rek­tor. Ich dan­ke Ih­nen für al­les.«

»Gut«, sagt der Di­rek­tor und steht auf. »Und nun brin­ge ich Sie noch zum Pas­tor. Der be­sorgt die An­mel­dung im Heim.«

»Zum Pas­tor …?« fragt Ku­falt. »Ist es ein from­mes Heim?« Er bleibt sit­zen.

»Nein, nein. Wenn auch ein Pas­tor sein Lei­ter ist. Es ist ganz in­ter­kon­fes­sio­nell. Da sind Ju­den und Chris­ten und Hei­den.« Der Di­rek­tor lacht be­ru­hi­gend.