Hans Fallada – Gesammelte Werke

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ERSTES KAPITEL – Reif zur Entlassung

1

Der Straf­ge­fan­ge­ne Wil­li Ku­falt geht in sei­ner Zel­le auf und ab. Fünf Schrit­te hin, fünf Schrit­te her. Wie­der fünf Schrit­te hin.

Ei­nen Au­gen­blick bleibt er un­ter dem Fens­ter ste­hen. Es ist schräg auf­ge­stellt, so­weit die ei­ser­nen Blen­den das zu­las­sen, und her­ein dringt das Schar­ren vie­ler Füße, auch ein­mal der Ruf ei­nes Wacht­meis­ters: »Ab­stand hal­ten! Fünf Schrit­te Ab­stand!«

Sta­ti­on C 4 hat Frei­stun­de, eine hal­be Stun­de ge­hen sie dort im Kreis, an der fri­schen Luft.

»Nichts ha­ben Sie zu re­den! Ver­stan­den?!« ruft der Wacht­meis­ter drau­ßen, und die Füße schar­ren wei­ter.

Der Ge­fan­ge­ne geht ge­gen die Tür, nun bleibt er dort ste­hen und lauscht in den Bau, der still ist.

Wenn Wer­ner heu­te nicht schreibt, denkt er, muss ich zum Pfaf­fen ge­hen und bet­teln, dass sie mich in das Heim auf­neh­men. Wo­hin soll ich sonst? Über drei­hun­dert Mark macht mein Ar­beits­ver­dienst si­cher nicht. Die sind bald alle.

Er lauscht im­mer noch. In zwan­zig Mi­nu­ten ist die Frei­stun­de vor­bei. Dann kom­men wir run­ter. Se­hen, dass ich vor­her noch was Ta­bak kramp­fe. Ich kann doch nicht die letz­ten zwei Tage ohne Ta­bak sein.

Er öff­net das Schränk­chen. Sieht hin­ein. Aber na­tür­lich ist kein Ta­bak da. Die Ess­schüs­sel muss ich auch noch wie­nern, sonst kotzt Rusch mich an. Putz­po­ma­de …? Be­sorgt mir Ernst.

Auf den Tisch legt er Ja­cke, Müt­ze, Hals­tuch. Wenn drau­ßen auch ein strah­len­der, war­mer Mai­tag ist, Hals­tuch und Müt­ze sind Vor­schrift.

In zwei Ta­gen ist es ja über­stan­den. Dann kann ich mich an­zie­hen, wie ich mag.

Er ver­sucht sich vor­zu­stel­len, wie sein Le­ben dann sein wird, aber er kann es nicht. Da gehe ich also die Stra­ße lang, und da ist eine Knei­pe, und ich ma­che ein­fach die Tür auf und sage: Ober, ein Glas Bier …

Drau­ßen, in der Zen­tra­le, der Haupt­wacht­meis­ter Rusch schlägt mit dem Schlüs­sel ge­gen das Ei­sen­git­ter. Es hallt durch den gan­zen Bau, in sechs­hun­dert­vier­zig Zel­len ist es zu hö­ren.

Schwein das, mit sei­ner ewi­gen Krach­ma­che­rei, murrt Ku­falt. Stimmt wie­der was nicht, Ru­sche­ken? Wenn ich nur wüss­te, was ich an­fan­ge, wenn ich raus­kom­me! Die wer­den mich doch fra­gen, wo­hin ich ent­las­sen wer­den will … Und wenn ich kei­ne Ar­beit weiß, wird mein Ver­dienst von hier an die Wohl­fahrt über­wie­sen, und ich darf mir alle Wo­chen ein biss­chen ho­len. Euch hust ich was! Lie­ber dreh ich noch mit Batz­ke ein großes Ding …!

Er schaut ge­dan­ken­ver­lo­ren auf sei­ne Ja­cke, de­ren blau­er Är­mel mit drei wei­ßen Strei­fen Wä­sche­band ge­ziert ist. Was be­deu­tet, dass er »drit­te Stu­fe« ist, ein Ge­fan­ge­ner also, des­sen Füh­rung auf »nach­hal­ti­ge Bes­se­rung und Wohl­ver­hal­ten in der Frei­heit« schlie­ßen lässt.

Hab ich krie­chen müs­sen, um die zu krie­gen! Und hat es ge­lohnt? Das biss­chen Ta­bak und eine hal­be Frei­stun­de mehr und Ra­dio ein­mal in der Wo­che abends und dass sie die Zel­le nicht ab­schlie­ßen tags­über …

Das ist so: Ku­falts Zel­len­tür ist nicht ab­ge­schlos­sen, die Zel­len­tü­ren der drit­ten Stu­fe wer­den nicht ab­ge­schlos­sen, son­dern nur an­ge­lehnt. Aber es ist das eine selt­sa­me Art Ver­güns­ti­gung: Bei­lei­be darf er die Tür nicht auf­sto­ßen, auf den Gang tre­ten und auch nur zwei Schritt dort ma­chen! Das ist ver­bo­ten. Wenn er das tut, wird ihm die drit­te Stu­fe wie­der ent­zo­gen. Sie ist eben of­fen, die Tür, dass er das weiß, das ist Vor­be­rei­tung auf das Le­ben drau­ßen, wo ja auch die Tü­ren nicht ab­ge­schlos­sen sind … eine all­mäh­li­che Ak­kli­ma­ti­sie­rung, er­dacht von ei­nem Ge­heim­rats­hirn.

Der Ge­fan­ge­ne steht wie­der un­ter dem Fens­ter und über­legt einen Au­gen­blick, ob er hoch­klet­tern soll und hin­aus­se­hen. Vi­el­leicht sieht er jen­seits der Mau­ern eine Frau …?

Nee, lie­ber nicht, spa­ren wir uns auf bis Mitt­woch.

Ru­he­los nimmt er das Netz in die Hand und strickt sechs, acht, zehn Ma­schen. Da­bei fällt ihm ein, dass er so­wohl Putz­po­ma­de wie Ta­bak beim Net­ze­kal­fak­tor schnor­ren kann – und er lässt die Holz­na­del wie­der fal­len und geht ge­gen die Tür.

Ei­nen Au­gen­blick steht er und über­legt, ob er es wa­gen soll. Dann fällt ihm was ein, er knöpft schnell die Ho­sen ab, geht auf den Kü­bel und legt sein Mor­ge­nei. Er kippt einen Schuss Was­ser dar­über, schließt den De­ckel, knöpft die Ho­sen wie­der an und nimmt den Kü­bel in bei­de Hän­de.

Wenn er mich schnappt, sag ich, die ha­ben heu­te früh ver­ges­sen, bei mir zu kü­beln, über­legt er und drückt mit dem Ell­bo­gen die an­ge­lehn­te Tür auf.

2

Er wirft über die Schul­ter einen Blick ge­gen den Glas­kas­ten der Zen­tra­le, wo, wie eine Spin­ne in ih­rem Netz, sonst der Haupt­wacht­meis­ter Rusch sitzt und alle Gän­ge, alle Zel­len­tü­ren über­schaut. Aber Ku­falt hat Du­sel: Der Haupt­wacht­meis­ter ist fort. Statt sei­ner sitzt ein Ober­wacht­meis­ter da, den der gan­ze Krem­pel lang­weilt: Er liest Zei­tung.

Ku­falt geht mög­lichst lei­se über den Gang zum Spül­raum. Da­bei kommt er an der Zel­le des Net­ze­kal­fak­tors vor­bei und zö­gert einen Au­gen­blick: Da strei­ten zwei drin. Die eine Stim­me kennt er, die ist ölig: Das ist der Net­ze­meis­ter. Aber die an­de­re …

Er steht und lauscht. Dann geht er wei­ter.

In der Spül­zel­le ist Hoch­be­trieb. Die Kal­fak­to­ren von C 2 und C 4 ha­ben sich her­auf­ge­schli­chen, eine sto­ßen.

Und noch je­mand ist hier.

»Gott, Emil, Jun­ge, Bruhn, sieht man dich wirk­lich mal wie­der?! Du musst doch dei­nen Knast auch bald ab­ge­ris­sen ha­ben?!« Da­bei kippt Ku­falt sei­nen Kü­bel in das Spül­be­cken.

»Saue­rei! Wo wir hier rau­chen!« schimpft ein Kal­fak­tor.

Ku­falt gibt an. »Du hältst dein Maul, Stub­ben! Seit wann bist du denn über­haupt im Bun­ker? Ein hal­b­es Jahr? Und so was reißt hier die Fres­se auf von we­gen Saue­rei?! Hät­test ja drau­ßen blei­ben kön­nen, wenn du Was­ser­spü­lung ge­wöhnt bist! Ach, halt die Klap­pe! Ich bin drit­te Stu­fe! – Hat ei­ner von euch Ta­bak für mich?«

»Hier, Wil­li«, sagt der klei­ne Emil Bruhn und gibt ihm ein gan­zes Pa­ket Flag­gen­stolz und Blätt­chen. »Kannst du be­hal­ten. Ich hab bis Mitt­woch stief.«

»Mitt­woch? Kommst du Mitt­woch raus? Ich auch!«

Bruhn fragt: »Sag mal, Wil­li, bleibst du ei­gent­lich hier im Kaff?«

»Aus­ge­schlos­sen! Hier, wo lau­ter Wacht­meis­ter rum­lau­fen! Ich fah­re nach Ham­burg.«

»Hast du denn da Ar­beit?«

»Nee, noch nicht. Aber ich krieg si­cher was. Ich den­ke, mei­ne Ver­wand­ten … Oder der Pfaf­fe … Ich kom­me im­mer durch!« Und Ku­falt lä­chelt, aber et­was küm­mer­lich.

»Ich habe schon was. Ich fan­ge hier in der Holz­fa­brik an. Fal­len­nes­ter im Ak­kord. Ich kom­me min­des­tens auf fünf­zig Mark die Wo­che, hat mir der Meis­ter ge­sagt.«

»Das schaffst du«, be­stä­tigt Ku­falt. »Das kannst du. Das hast du ja nun neun Jah­re ge­macht.«

»Zehn­ein­halb«, sagt der klei­ne blon­de Bruhn und blin­zelt mit sei­nen was­ser­blau­en Au­gen. Er hat einen See­hunds­kopf, kug­lig, gut­mü­tig. »Elf Jah­re wa­ren’s. Ein hal­b­es ha­ben sie mir ge­schenkt auf Be­wäh­rung.«

»Mensch, Emil, das hät­te ich doch nicht an­ge­nom­men! Ein hal­b­es Jahr ge­schenkt – und wie lan­ge sollst du dich be­wäh­ren?«

»Drei Jah­re.«

»Schön dumm bist du. Und wenn du ’ne Klei­nig­keit machst, wenn du nur ’ne Schei­be ein­schmeißt in der Be­sof­fen­heit oder Krach schlägst auf der Stra­ße, schon musst du dein hal­b­es Jahr ab­rei­ßen. Das hät­te ich doch noch gleich mit run­ter­ge­ris­sen.«

»Na, Wil­li, wenn man zehn­ein­halb Jahr Knast ge­scho­ben hat …«

»Mir ha­ben sie ewig ge­sagt, der Di­rek­tor und der Leh­rer und der Pfaf­fe, alle: Ich soll ein Ge­such auf Be­wäh­rung ma­chen. Aber ich bin nicht so dumm. Wenn ich Mitt­woch raus­kom­me, dann hab ich freie Bahn …«

Ein Kal­fak­tor mischt sich ein: »Ich den­ke, dir ha­ben sie dein Ge­such ab­ge­lehnt?«

»Ab­ge­lehnt? Gar keins ge­macht habe ich, hast du Dreck in den Ohren?«

»Mir hat’s aber der Haus­va­ter­kal­fak­tor er­zählt.«

»Der? Was der weiß! Die dün­ken sich was, die vom Haus­va­ter! Weißt du, was das für ei­ner ist? Klei­ne Kin­der stößt der vor den Hin­tern und nimmt ih­nen die Mark weg, die ih­nen ihre Mut­ti für Be­sor­gun­gen ge­ge­ben hat. Von so ei­nem lässt du dir Ge­schich­ten er­zäh­len! – Hast du Putz­po­ma­de?«

»Der Ka­lie­be hat aber auch ge­sagt …«

»Quatsch! Ob du Putz­po­ma­de hast? Zeig mal her. Gut, die hab ich. Kriegst du nicht wie­der. Ich muss noch wie­nern. Red hier bloß kei­ne Töne, Mensch. Au­ßer­dem hab ich bei mei­nen Sa­chen ein großes Stück Toi­let­ten­sei­fe, das geb ich dir da­für. Komm Mitt­woch zur Ab­gangs­zel­le. Soll ich dir auch einen Brief mit raus­neh­men? Gut, ge­macht. Mitt­woch­mor­gen Ab­gangs­zel­le.«

Der Kal­fak­tor von C 2 lässt sich ver­neh­men: »Der gibt ja heu­te an, noch und noch. Rich­tig durch­ge­dreht, weil er über­mor­gen raus­kommt.«

Aber Ku­falt plötz­lich stock­wü­tend: »Ich und durch­ge­dreht we­gen Raus­kom­men? Du spinnst ja. Mir ist das so Schei­ße, ob ich noch ein paar Wo­chen hier blei­be oder nicht. 260 Wo­chen ab­ge­ris­sen – 1825 Tage – da stauns­te: – und ich soll an­ge­ben we­gen Raus­kom­men?!«

Dann wen­det er sich ru­hi­ger zum klei­nen Bruhn: »Also, hör mal, Emil – ach, willst du dich ver­drücken? Frei­stun­de muss gleich alle sein. Sieh doch, dass du dich heu­te Mit­tag in die drit­te Stu­fe mo­gelst …«

 

»Das kann an­ge­hen. Bei uns auf F hat Pe­trow Dienst. Der macht es.«

»Schön. Ich möcht noch was mit dir re­den. Also, hau jetzt ab.«

»Wie­der­se­hen, Wil­li.«

»Wie­der­se­hen, Emil.«

»Da will ich auch gleich …«, sagt Ku­falt und nimmt sei­nen ge­leer­ten Kü­bel. »Ach so! Weiß ei­ner, was mit dem Net­ze­kal­fak­tor los ist?«

»Den hat wer in die Pfan­ne ge­hau­en. Der schiebt Ar­rest.«

»Ei wei! Wie­so denn?«

»Hat Brie­fe durch­ge­schmug­gelt mit der schmut­zi­gen Wä­sche an eine im Wei­ber­ge­fäng­nis.«

»An wel­che?«

»Weiß ich auch nicht. Eine klei­ne Schwar­ze soll es sein.«

»Kenn ich«, sagt Ku­falt: »Die ist aus Al­to­na. Das ist die Räu­ber­braut. Die hat ein halb Dut­zend Jun­gens für sich auf Bruch ge­hen las­sen, und sie hat die Sore … Wer ist denn jetzt Kal­fak­tor?«

»Den kenn ich noch nicht. Der ist neu, der ist ’ne Schie­bung vom Net­ze­meis­ter. So ein di­cker Jude, eine fau­le Plei­te soll er ge­macht ha­ben …«

»Nee?« sagt Ku­falt, und ihm fällt ein Wort­fet­zen ein, den er vor­hin hör­te, als er mit sei­nem Kü­bel an der Zel­len­tür vor­bei­kam. »So ist das also. Na, den schlei­mi­gen Net­ze­on­kel habe ich lan­ge auf dem Strich, den will ich jetzt mal in Salz le­gen. – Kneis­te mal, du Neu­er, ob die Luft rein ist. – O Gott!« ruft er ver­zwei­felt, »was für Säug­lin­ge schi­cken die uns hier in den Bau! Reißt die Tür auf, dass der gan­ze Bun­ker zu­sam­men­fällt! Kneis­ten sollst du! – Ist der Rusch in sei­nem Glas­kas­ten? Nicht? Na, dann will ich mal die Net­ze­on­kels be­su­chen. Mor­gen.«

Er nimmt sei­nen Kü­bel und tritt den Rück­weg zur Zel­le an.

3

Auf sei­nem Rück­marsch hat Ku­falt einen Blick zum Glas­kas­ten ge­wor­fen: Dort ist die Lage un­ver­än­dert, Ober­wacht­meis­ter Suhr stu­diert den »Stadt- und Land­bo­ten«.

Vor der Zel­le des Net­ze­kal­fak­tors tritt Ku­falt einen Schritt seit­lich, drückt sich fest in die fla­che Tür­ni­sche und lauscht.

Da steht er nun, in blau­er Bei­der­wand­ho­se1 und ge­streif­tem An­stalts­hemd, die Füße in Schlap­pen, mit spit­zer, gelb­li­cher Nase, blass, ma­ge­re Glie­der, aber ein Bauch. Etwa acht­und­zwan­zig Jah­re. Ei­gent­lich hat er freund­li­che brau­ne Au­gen, nur spu­ken sie, irr­lich­te­rie­ren, ver­wei­len nir­gends. Sein Haar ist auch braun. Er steht so da, horcht, ver­sucht zu ver­ste­hen, was sie da re­den. Den Kü­bel hält er noch im­mer mit bei­den Hän­den vor dem Bauch.

Ei­ner sagt drin­nen er­regt: »Und Sie wer­den mir die zehn Mark ge­ben! Wozu schickt Ih­nen mei­ne Frau stän­dig Geld?«

Und die öli­ge, sach­te Stim­me des Net­ze­meis­ters: »Ich tu ja für Sie, was ich kann. Dass ich Sie beim Ar­beits­in­spek­tor zum Net­ze­kal­fak­tor durch­ge­drückt habe, das kön­nen Sie mir nicht ge­nug dan­ken!«

»Ach was, dan­ken!« sagt der an­de­re böse. »Viel lie­ber wäre ich zu den Tü­ten ge­kom­men. Hier an dem Bind­fa­den reißt man sich die gan­zen Hän­de blu­tig.«

»Das ist nur die ers­ten Wo­chen«, trös­tet der Net­ze­meis­ter. »Das wer­den Sie ge­wöhnt. Bei den Tü­ten ist es viel schlech­ter. Die wol­len alle zu mir, die Tü­ten kle­ben.«

»Eine Haut­sche­re müs­sen Sie mir auch be­sor­gen, über­all krie­ge ich Reiß­nä­gel …«

»Da müs­sen Sie sich am Mitt­woch zum Haus­va­ter vor­mel­den. Der hat eine Haut­sche­re. Da wer­den Sie vor­ge­führt und kön­nen sich die Reiß­nä­gel ab­schnei­den.«

»Wann wer­de ich denn da vor­ge­führt?«

»Wie der Haus­va­ter Zeit hat. Sonn­abend oder Mon­tag, viel­leicht auch schon Frei­tag.«

»Me­schug­ge sind Sie!« schreit der an­de­re. »Nächs­ten Mon­tag, und mei­ne Hän­de blu­ten schon jetzt! Das gan­ze Netz ist blu­tig, se­hen Sie!«

Er schreit im­mer lau­ter.

Ku­falt vor der Tür grinst. Er kennt das, wie es ist, wenn die Hän­de von dem schar­fen Si­sal­garn zu blu­ten an­fan­gen, und mor­gens zie­hen sich die fei­nen, har­ten Fä­ser­chen durch die Ris­se. Frei­lich, ihm hat nie­mand ge­sagt, dass der Haus­va­ter eine Haut­sche­re hat, er hat sich die Reiß­nä­gel mit zwei Scher­ben ab­ge­klemmt.

Är­ge­re dich nur, Freund­chen, denkt er. Hof­fent­lich schiebst du einen lan­gen Knast, dass du al­les auch rich­tig lernst. – Mein Kü­bel stinkt aber wie­der mal ge­mein. Muss ich noch mit Salz­säu­re rein­ma­chen. Wenn ich heu­te vor den Arzt kom­me, muss mir der La­za­rett­kal­fak­tor wel­che aus­spu­cken …

»Und nun ge­ben Sie mir end­lich die zehn Mark. Ich las­se mich nicht dumm re­den von Ih­nen. Mein ei­gen Geld wer­de ich doch noch krie­gen kön­nen.«

»Ma­chen Sie sich und mich nicht un­glück­lich, Herr Ro­sen­thal«, sagt der Meis­ter bit­tend. »Was wol­len Sie mit Geld im Bau? Ich be­sor­ge Ih­nen doch al­les, was Sie wol­len. Ich kauf Ih­nen auch ’ne Haut­sche­re, aber Bar­geld im Bau – das kann ja Kopp und Kra­gen kos­ten.«

»Stel­len Sie sich nur nicht so an«, sagt der Ge­fan­ge­ne Ro­sen­thal. »Sie sind ja gar kein Be­am­ter, Sie sind doch nicht ver­ei­digt. Sie sind hier bloß von der Net­ze­fir­ma, um die Ar­beit aus­zu­ge­ben. Gar nichts kann Ih­nen pas­sie­ren.«

»Was wol­len Sie bloß mit Bar­geld? Das müs­sen Sie mir we­nigs­tens sa­gen!«

»Ta­bak will ich mir kau­fen.«

»Das ist be­stimmt nicht wahr, Herr Ro­sen­thal. Ta­bak kön­nen Sie doch von mir krie­gen. Wozu wol­len Sie das Geld?«

Der an­de­re schweigt.

»Wenn Sie es mir sa­gen, so sol­len Sie es krie­gen. Aber ich will wis­sen, wer es kriegt und wo­für. Man­che sind, die sind stie­kum, da kann man es ma­chen.«

»Stie­kum?«

»Die ma­chen kei­ne Lam­pen, Herr Ro­sen­thal, die hau­en uns nicht in die Pfan­ne, die schei­ßen uns nicht an, die ver­pfei­fen uns nicht – die ver­ra­ten uns nicht. So heißt das hier.«

»Ich will Ih­nen sa­gen«, flüs­tert der an­de­re – und Ku­falt muss sein Ohr ganz dicht an den Tür­spalt le­gen, um zu ver­ste­hen –, »aber Sie dür­fen nichts ver­ra­ten. Da ist ein großer Schwar­zer, ein Ge­walt­tä­ti­ger, sage ich Ih­nen, der schlägt mich tot, wenn ich ihn ver­ra­te, hat er mir ge­sagt. In der Hei­zung ist er, er hat sich an mich her­an­ge­macht, in der Frei­stun­de …«

»Der Batz­ke«, sagt der Meis­ter. »Da ha­ben Sie den rich­ti­gen Ga­no­ven ge­fasst.«

»Er hat mir ver­spro­chen, wenn ich ihm zehn Mark gebe – Meis­ter, Sie ver­ra­ten uns nicht, nein? Gera­de ge­gen­über von mei­nem Fens­ter, auf der an­de­ren Sei­te von der Stra­ße, jen­seits der Mau­er, steht ein Haus.« Der Ro­sen­thal schluckt, holt tief Atem. Dann: »Ich kann ge­ra­de in die Fens­ter rein­se­hen. Und zwei­mal habe ich dort ’ne Frau ge­se­hen. Und der Schwar­ze hat mir ge­schwo­ren, wenn ich ihm die zehn Mark gebe, so steht sie mor­gen früh um fünf am Fens­ter, ganz nackt, und ich darf sie se­hen. Ach, Meis­ter, ge­ben Sie die zehn Mark! Ich kom­me hier um, ich bin schon halb ver­rückt! Meis­ter, Sie müs­sen!«

»Die­se Jun­gen«, sagt der Net­ze­meis­ter be­wun­dernd und stolz, »was die für Din­ger dre­hen! Aber wenn der Batz­ke es Ih­nen sagt, der macht es! Und der ver­pfeift uns auch nicht. Hier ha­ben Sie …«

Ku­falt zwängt den Fuß in den Spalt, drückt die Tür auf, ist mit ei­nem Schritt drin, sagt halb­laut: »Kip­pe oder Lam­pen!« und steht ab­war­tend.

Die star­ren ver­don­nert. Der Meis­ter mit sei­nen vor­quel­len­den Fischau­gen, dem run­den Ge­sicht, dem Wal­ross­bart, hat sei­ne Brief­ta­sche in der Hand. Er glotzt. Un­term Fens­ter, bleich, ge­dun­sen, schwarz, et­was fett, steht der neue Net­ze­kal­fak­tor Ro­sen­thal und hat Angst.

Ku­falt setzt mit ei­nem Ruck den Kü­bel ab.

»Kei­ne lan­gen Ge­schich­ten, Meis­ter, oder ich ver­pfeif dich, dass du sel­ber Knast schiebst. Hier von we­gen dem al­ten Net­ze­kal­fak­tor Ar­rest be­sor­gen und den Speck­jä­ger ins Fett set­zen. – Hab doch kei­ne Angst, du dum­mes Schwein, es kos­tet ja bloß dein Geld! Ich bin mor­gen früh um fünf sel­ber am Fens­ter. Also raus, Meis­ter, mit der Ma­rie! Kip­pe? Tei­len kön­nen wir nicht, ich weiß ja nicht, wie viel du ge­kriegt hast. Ich bin bil­lig: hun­dert Mark!«

»Da ist nichts zu ma­chen, Ro­sen­thal«, sagt der Meis­ter gott­er­ge­ben. »Das Geld müs­sen wir aus­spu­cken, wenn Sie nicht min­des­tens acht Wo­chen Ar­rest schie­ben wol­len. Der Ku­falt ist so.«

»Kalt ist es da, Jung­chen«, grinst Ku­falt. »Lieg du mal erst drei Tage auf der Stein­prit­sche, da wird dir das Mark in den Kno­chen zu Eis. Also, wie wird’s?«

»Sa­gen Sie ja, Herr Ro­sen­thal«, drängt der Meis­ter.

Zwei Glo­cken­schlä­ge hal­len durchs Haus. Auf der gan­zen Sta­ti­on rührt es sich, Rie­gel knal­len …

»Nu aber fix – oder ich bin in ei­ner Mi­nu­te beim Haupt­wacht­meis­ter!«

»Sa­gen Sie doch ja, Herr Ro­sen­thal!«

»Ich het­ze den Batz­ke auf dich, du dickes Schwein, der ist mein Kum­pel. Der beißt dir die Nase ab.«

»Bit­te, sa­gen Sie ja, Herr Ro­sen­thal!«

»Also ge­ben Sie ihm … aber ich tra­ge den Scha­den nicht al­lein, Meis­ter!«

»Hand­geld«, sagt Ku­falt und spuckt auf den Hun­der­ter. »Über­mor­gen bin ich drau­ßen, Di­cker, da den­ke ich bei den klei­nen Mäd­chen an dich. – Du, Meis­ter, stell mir den Kü­bel auf die Zel­le wäh­rend der Frei­stun­de. Und Salz­säu­re stellst du da­ne­ben, sonst don­ner­t’s! Mor­gen!«

Ku­falt huscht über den Gang in sei­ne Zel­le.

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4

Lär­mend, klap­pernd, schwat­zend sind acht­zig Ge­fan­ge­ne die vier Ei­sen­trep­pen hin­un­ter­ge­schus­selt zum Erd­ge­schoss. Nun, am Tor zum Freihof, ste­hen zwei Wacht­meis­ter und wie­der­ho­len wie die Au­to­ma­ten: »Ab­stand neh­men! Es wird nicht ge­spro­chen. Neh­men Sie Ab­stand! Wer spricht, kriegt eine An­zei­ge.«

Die Ge­fan­ge­nen schwat­zen doch. Nur in nächs­ter Nähe der Wacht­meis­ter wer­den sie stumm, aber kaum vor­bei, un­ter­hal­ten sie sich schon wie­der in je­nem lau­ten Flüs­ter­ton, der ge­ra­de über fünf Schrit­te Ab­stand reicht und bei dem nur der Mund nicht be­wegt wer­den darf, denn das ist Grund zu ei­ner An­zei­ge.

Ku­falt ist hoch in Form. Er un­ter­hält sich gleich­zei­tig mit Vor­der- und Hin­ter­mann, die von ihm, dem Dritt­stuf­ler, Neu­es hö­ren wol­len.

»Das ist eine Scheiß­hauspa­ro­le, dass die zwei­te Stu­fe jetzt auch zum Ra­dio darf. Glaub doch so was nicht, Mensch!«

»Ja, über­mor­gen komm ich raus. – Weiß ich noch nicht. Vi­el­leicht dreh ich ein Ding, viel­leicht geh ich auch zu mei­nem Schwa­ger aufs Büro.«

»Wie sol­len die denn hun­dert­fünf­und­zwan­zig Mann aus der zwei­ten Stu­fe in dem Schul­zim­mer un­ter­brin­gen?! Da ha­ben doch höchs­tens fünf­zig Platz! Du bist ja doof, Mensch. Je­den Dreck glaubst du!«

»Mein Schwa­ger? Möchs­te wis­sen, glaub ich. – Der hat ein Filz­lat­schen­berg­werk, wenn du’s wis­sen willst. Da kannst du auch ’nen Pos­ten krie­gen.«

»Hal­ten Sie den Mund, Ku­falt«, sagt der Wacht­meis­ter. »Im­mer die Her­ren von der drit­ten Stu­fe, die auf­fal­len.«

»Ich hab nicht ge­re­det, Herr Wacht­meis­ter, ich hab nur tief ge­at­met.«

»Den Mund sol­len Sie hal­ten, sonst ist ’ne An­zei­ge fäl­lig.«

»Mei­ne Sa­chen hab ich beim Haus­va­ter. Al­les tipp­topp, Frack auf Sei­de, Lackstie­fel – Mensch, wird das ei­nem vor­kom­men nach den fünf Jah­ren!«

»Ach, lass doch den Af­fen von Wacht­meis­ter quat­schen! Wenn der was will, ver­pfeif ich ihn. Der hat sich heim­lich von mir ein Ein­hol­netz und eine Hän­ge­mat­te stri­cken las­sen.«

»Ich hab ja nur eine Angst … Wie lan­ge bist du drin? Drei Mo­na­te? Sag mal, tra­gen die Wei­ber noch so kur­ze Rö­cke? Mir ist er­zählt, sie tra­gen jetzt wie­der lan­ge Rö­cke …«

»Das kann ich ihm nicht be­wei­sen? Das kann ich ihm doch be­wei­sen! Ich sag ein­fach zum Di­rek­tor: In der vier­ten Rei­he vom Ein­hol­netz ist eine Ma­sche dop­pelt ge­strickt, und schon ist er drin!«

»Na, Gott sei Dank! Ist das so, kann man die gan­zen Schin­ken se­hen, wenn sie sich set­zen? Und beim Ra­deln das blo­ße Fleisch?«

»Tre­ten Sie raus, Ku­falt, Sie sind ja heu­te rein ver­rückt! Wol­len Sie die letz­ten Tage noch Ar­rest schie­ben? Ge­hen Sie hier an der Mau­er, Son­der­lo­ge für die Her­ren von der drit­ten Stu­fe.«

Ku­falt geht solo. Die im Kreis ver­spot­ten ihn: »Na­tür­lich die drit­te Grup­pe! – Die Speck­jä­ger! Die Ra­dio­her­ren! Bis­te stolz auf dei­ne drei Strei­fen, Ar­schle­cker?«

 

»Ihr könnt mir alle …« Und er denkt: Hun­dert Mark. Fein! Nun habe ich schon min­des­tens vier­hun­dert Mark, und wenn Wer­ner Pau­se heu­te schreibt und Geld schickt … »Sie, Herr Wacht­meis­ter Stei­nitz, was kos­tet ei­gent­lich die Fahrt Drit­ter bis Ham­burg?«

»Wol­len Sie sich jetzt mit mir un­ter­hal­ten? Sei­en Sie ru­hig, oder ich las­se Sie auf die Zel­le ab­füh­ren.«

»Herr Wacht­meis­ter, Herr Wacht­meis­ter! Ich hät­te heu­te so schön Zeit, Ih­nen noch ’ne Ein­hol­ta­sche zu stri­cken.«

»Frech willst du wer­den?! War­te, Jung­chen, ich schla­ge dir die Schlüs­sel über den Schä­del! Machst du, dass du …«

»Ich hät­te heu­te wirk­lich Zeit, Herr Wacht­meis­ter! Und das Pfund Mar­ga­ri­ne, das Sie mir für die Hän­ge­mat­te ver­spro­chen ha­ben, ist auch noch nicht über­ge­kom­men.«

»Schwei­ne­kerl! Er­pres­ser! Jetzt willst du Lam­pen ma­chen, was? Letz­ten Tag? Fei­ges Aas! – Ach was, tritt da rein. Werd ich mich noch mit dir är­gern! – Fünf Schrit­te Ab­stand – und dass Sie den Mund hal­ten, Ku­falt!«

»Ich bin stie­kum, Herr Wacht­meis­ter, ich rede kei­nen Ton!«

Es ist Mai, der Him­mel ist blau, jen­seits der Mau­er, über sie hin, blü­hen die Kas­ta­ni­en. Das Rund, das die Ge­fan­ge­nen um­krei­sen, hat der Gärt­ner mit Wru­ken be­pflanzt, die ge­ra­de an­ge­gan­gen sind, ein spär­li­ches Gelb­grün in die­sen trau­ri­gen, fah­len Far­ben von Schla­cke, pulv­ri­ger Erde, Ze­ment.

Sie ge­hen im Krei­se und flüs­tern. Sie ge­hen und flüs­tern. Sie ge­hen und flüs­tern.