Hans Fallada – Gesammelte Werke

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54

Das wa­ren die drei Schlaf­ka­me­ra­den, mit de­nen ich in je­ner ers­ten Nacht die Zel­le teil­te, auf de­ren Schla­fa­tem ich lausch­te, wäh­rend Scham, Reue und Zorn mein Herz zer­ris­sen. Vor den Fens­tern stand die Nacht, manch­mal hob ich den Kopf und sah ein paar Ster­ne blin­ken; ich hat­te mal ein Ge­dicht von ih­nen ge­le­sen, dass sie seit Jahr­tau­sen­den mit dem glei­chen küh­len Glit­zern auf mensch­li­ches Leid und mensch­li­che Freu­de her­abbli­cken. Da­mals hat­te mich das nicht be­rührt, jetzt rühr­te es mich an, und ich frag­te mich, ob die­se Ster­ne wohl wirk­lich je ein so ver­zwei­fel­tes, ein so un­sin­nig ein­ge­tre­te­nes Leid ge­se­hen hat­ten wie das über mich ge­kom­me­ne. Bei­na­he schi­en es mir un­mög­lich.

Und wie die nächt­li­chen Stun­den lang­sam mit Glo­cken­schlag um Glo­cken­schlag vor­rück­ten, eine nach der an­de­ren dem neu­en Mor­gen zu, dach­te ich mil­der an Mag­da und den lis­ti­gen Me­di­zi­nal­rat und schwor es mir wie­der ein­mal zu, das nächs­te Mal klü­ger zu sein und wahr­haf­ti­ger. Ich über­zeug­te mich, dass noch nichts ver­lo­ren war, und ich er­dich­te­te lan­ge Ge­sprä­che mit dem Arzt, in de­nen ich eine sel­te­ne Schlag­fer­tig­keit und einen be­zau­bern­den Frei­mut be­wies. Schließ­lich – an­dert­halb Stun­den vor Auf­schluss – schlief ich wirk­lich noch ein.

Ich war im Traum in mei­ner Va­ter­stadt, ich ging durch ihre Stra­ßen und Gas­sen, ich sah vie­le Freun­de und Be­kann­te, aber sie sa­hen mich nicht und gin­gen ohne Gruß an mir vor­bei. Schließ­lich sah ich Mag­da auf je­ner Bank un­se­rer ers­ten Schü­ler­be­kannt­schaft sit­zen, ich ging auf sie zu und setz­te mich sach­te ne­ben sie. Aber sie be­merk­te mich nicht. Ich woll­te ihr Kleid be­rüh­ren, ich er­hob die Hand, aber ich konn­te das Kleid nicht fas­sen. Ich woll­te zu Mag­da spre­chen, und ich sprach auch, aber mei­ne Stim­me hat­te kei­nen Klang, ich hör­te sie nicht, und Mag­da hör­te sie auch nicht. Da be­griff ich mit heißem Er­schre­cken, dass ich nur als ein Schat­ten zwi­schen den Le­ben­den wan­del­te, dass ich ge­stor­ben und tot war. Ich er­schrak aber so, dass ich er­wach­te – da klirr­te der Schlüs­sel des Ober­pfle­gers im Schloss, und sei­ne Stim­me rief: »Auf­ste­hen!«

Ja, ein neu­er Mor­gen war da, und nun war ich nicht mehr Gast im To­ten­haus, son­dern ich war ein­ge­reiht in die Schar der an­de­ren, wie alle schlepp­te ich mei­ne dür­ren Stun­den da­hin. Sie mach­ten kein Auf­he­bens mehr von mir, sie spra­chen mit mir, und dann fin­gen sie Streit mit mir an, sie schubs­ten mich im Wasch­raum von den Be­cken weg und ver­höhn­ten mich, wenn ich ver­such­te, mit ei­nem zu­ge­schnit­te­nen Hölz­chen mei­ne Fin­ger­nä­gel sau­ber zu hal­ten. »Seht den! Wozu er das wohl macht? Er steckt doch ge­nau so tief wie wir in der Schei­ße!«

Und ich mach­te mei­ne klei­nen Ge­schäf­te wie sie, ich spar­te mei­nem brül­len­den Hun­ger eine Schei­be Brot ab und ver­han­del­te sie ge­gen ein paar Kru­men Ta­bak, und das ers­te Mal wur­de ich da­bei be­tro­gen: Der Ta­bak war we­nig, aber tro­ckene Ro­sen­blät­ter wa­ren viel in ihn ge­mischt.

Ich habe auch – ich will auch das ge­ste­hen – un­se­rem Kal­fak­tor Herbst ein­mal zwei dick mit Mar­ga­ri­ne be­stri­che­ne Schei­ben Brot ge­stoh­len, die der un­ter sei­nem Kopf­keil ver­steckt hat­te. Ich war aber so auf­ge­regt, dass sie mir we­der ge­schmeckt ha­ben noch be­kom­men sind. Das war aber auch das ein­zi­ge Mal, dass ich et­was di­rekt ge­stoh­len habe. Ich bin ein schwa­cher Mensch, das weiß ich nun, aber ich bin kein Dieb. Mei­ne Angst ist im­mer grö­ßer als mei­ne Gier, also auch dar­in schwach.

Und an die­sem ers­ten Tage, als der Ruf zum »An­tre­ten« er­scholl, trat auch ich mit an, wie ge­sagt, auch ich war ein­ge­reiht, ich hat­te vor nie­man­dem et­was vor­aus. Ein Wacht­meis­ter kam und führ­te mich in eine Ein­zel­zel­le, in der kein Bett war, son­dern ein Tisch und ein Sche­mel und vie­ler­lei Ar­beits­ma­te­ri­al, das ich mit ängst­lich stau­nen­den Au­gen an­sah, ge­wiss, dass ich un­ge­schick­ter Mensch solch nie ge­ta­ne Ar­beit im Le­ben nicht ler­nen wür­de. Da sah ich die fer­tig zu­ge­schnit­te­nen Bürs­ten- und Be­sen­höl­zer und Haar­bors­ten und sol­che aus Reiss­troh und sol­che aus Pi­assa­va1 und so­gar sol­che aus Strand­ha­fer für die ver­schie­de­nen Ar­ten von Bürs­ten und Be­sen, wie ich al­les noch ler­nen soll­te. Ich sah Rol­len mit di­cke­rem und dün­ne­rem Draht und ein Schnei­de­mes­ser, nein, das wür­de ich nie ler­nen!

Es kam kei­ner, ich war ein­ge­schlos­sen in mei­ner Zel­le – soll­te ich, da ich den Arzt so drin­gend um die Be­frei­ung von Lexer ge­be­ten hat­te, jetzt die Bürs­ten ganz ohne Lehr­meis­ter ma­chen? Ich ver­such­te es, ich fass­te ein paar Bors­ten und ver­such­te, sie in eins der vor­ge­bohr­ten Lö­cher zu ste­cken. Es wa­ren aber zu we­nig ge­we­sen, und sie fie­len gleich wie­der durch. Das an­de­re Mal nahm ich mehr, aber nun wa­ren es zu viel, und als ich sie in das Loch zwin­gen woll­te, bra­chen die einen, und die an­de­ren fie­len zur Erde.

Ich bück­te mich, um rasch die Un­ord­nung zu be­sei­ti­gen, da klirr­te wie­der das Schloss, der klei­ne Lexer mit den schwärz­lich-bräun­li­chen Hau­er­zäh­nen sprang her­ein, fass­te mich vor der Brust und schrie gel­lend: »Wo hast du die Ra­sier­klin­ge ge­las­sen? Mich scheißt du nicht an, Som­mer!«

Ich riss mich zor­nig von ihm los und rief: »Fass mich nicht noch ein­mal an, du, das rate ich dir! Was ge­hen mich dei­ne Lü­gen­ge­schich­ten an!«

Der klei­ne Kerl sah mich einen Au­gen­blick ver­blüfft und stumm an, dann lach­te er wie­der häss­lich und sag­te: »Na schön, wie du willst! Aber ei­nes Ta­ges schei­ße ich dich doch wie­der an!« (Er hat mich aber von nun an ziem­lich in Ruhe ge­las­sen, wie ich schon be­rich­tet habe.) Und in ganz plötz­li­chem Über­gang: »Hast du nicht ’nen Priem für mich, ’nen ganz klei­nen, Som­mer?«

Ich hat­te kei­nen und sag­te es ihm, und er mein­te är­ger­lich: »Mit dir ist auch gar nichts an­zu­fan­gen! Wozu sie so einen wie dich über­haupt in den Bau ge­schickt ha­ben? Häng da mal den Draht auf den Stän­der. Nein, nicht den di­cken, du Och­se, du sollst zu­erst Hand­bürs­ten ma­chen mit gu­ten Bors­ten, das ist das leich­tes­te, nimm also den fei­nen. Zwei­hun­dert Lö­cher am Tage ist in der ers­ten Wo­che dein Pen­sum, lässt dir der Ar­beits­in­spek­tor sa­gen, und wenn du die nicht schaffst, fliegst du ins Loch bei har­tem La­ger und noch mehr Kohldampf! Ich ma­che tau­send Lö­cher am Tage, und wenn ich will, kann ich auch zwei­tau­send ma­chen, aber ich will nicht. Wozu auch? Da­mit die Speck­jä­ger noch mehr an uns ver­die­nen? Hun­gern müs­sen wir dar­um doch!

Sieh, so ziehst du zu­erst den Draht durchs Loch, dass er eine Sch­lin­ge bil­det, und nun steckst du die Bors­ten hin­ein, ge­ra­de so viel, wie du mit zwei Fin­gern fas­sen kannst, dann stimm­t’s ge­ra­de. Und nun ziehst du die Sch­lin­ge fest, und da sit­zen die Bors­ten schon! Das ist der gan­ze Zau­ber, ein Kind lernt’s in fünf Mi­nu­ten, und nun mach du’s und zeig’, ob du so viel kannst wie ein Kind!«

Und wäh­rend Lexer dies al­les atem­los mit sei­ner gel­len Stim­me her­vors­tieß, dass ihm die Spu­cke auf den Lip­pen stand, hat­te ich mit Stau­nen auf die­se schmut­zi­gen Fin­ger mit den ab­ge­bis­se­nen Nä­geln ge­se­hen, die un­glaub­haft ge­schickt die fei­ne Draht­sch­lin­ge durch das Loch ge­zo­gen, die auf eine Bors­te ge­nau so vie­le ge­grif­fen hat­ten, dass sie ge­ra­de durch das Loch gin­gen und es aus­füll­ten, ohne Luft da­zwi­schen, nicht zu vie­le und nicht zu we­ni­ge, und die schließ­lich sach­te und schnell die Sch­lin­ge fest­ge­zo­gen hat­ten.

Wie’s mir so vor­ge­macht wur­de, er­schi­en es auch mir kind­lich ein­fach. Aber wie wur­de mir, als ich das Leich­te nun selbst ver­such­te?! Mein Draht woll­te nicht ins Loch, und dann knick­te er ein, statt eine Sch­lin­ge zu bil­den, und ich fass­te zu we­nig oder zu viel Bors­ten und warf sie auf die Erde. Da­bei aber be­schimpf­te mich der Lexer un­un­ter­bro­chen und höhn­te mich und stieß auch und knuff­te mich und mach­te mich mit sei­nem Spei­chel nass, bis ich die Bürs­te hin­warf und wie­der wü­tend rief: »Lass mich in Frie­den, sage ich dir noch ein­mal!«

So ar­bei­te­ten wir den gan­zen Vor­mit­tag, ich völ­lig ver­zwei­felt über mein Un­ge­schick und über­zeugt, ich wür­de es nie ler­nen, und er im­mer gel­len­der, tri­um­phie­ren­der, über­le­ge­ner, sein gan­zes er­bärm­li­ches, stin­ken­des Men­schen­tum über mich set­zend. Am Schluss die­ses Vor­mit­tags hat­ten wir eine ein­zi­ge Hand­bürs­te fer­tig, die acht­zig Lö­cher hat­te, und dass die nicht gut und rich­tig aus­sah, das merk­te ich selbst.

»Steck die nur selbst in den Aus­schuss, Som­mer!«, gell­te Lexer. »Spül sie im Kü­bel­be­cken weg, dass der Ar­beits­in­spek­tor sie gar nicht erst zu Ge­sicht be­kommt, sonst fliegst du in Ar­rest we­gen Ma­te­ri­al­ver­schwen­dung! Heu­te Nach­mit­tag aber kom­me ich nicht wie­der in dein stin­ken­des Loch. Du weißt Be­scheid, wie es ge­macht wer­den soll, und wenn du es doch nicht machst, so ist es dei­ne Sa­che, die du zu ver­ant­wor­ten hast. Ich will da­mit nichts zu tun ha­ben!«

So wur­de ich den ekel­haf­ten Lehr­meis­ter Lexer schon nach fünf Stun­den los und hät­te mir mei­nen so schlimm auf­ge­nom­me­nen An­ti­pa­thie­aus­bruch vor dem Arzt gut er­spa­ren kön­nen. Aber über mei­nen Bürs­ten­lö­chern ver­zwei­fel­te ich völ­lig an die­sem Nach­mit­tag, und am Abend hat­te ich nicht mehr als sie­ben­und­drei­ßig Lö­cher ge­schafft, und die auch noch schlecht. In die­ser Nacht grü­bel­te ich ein­mal nicht über mich und mein wid­ri­ges Ge­schick und Mag­da und den Me­di­zi­nal­rat nach, son­dern al­lein über Bürs­ten­ma­chen. Aber die­ses Grü­beln muss mei­nem Kopf viel be­kömm­li­cher ge­we­sen sein, denn ich schlief dar­über ein und hat­te zum ers­ten Mal wie­der eine ei­ni­ger­ma­ßen gute Nacht.

 

1 Blatt­fa­ser ver­schie­de­ner Pal­men­ar­ten <<<

55

Die Tage gin­gen, ei­ner nach dem an­de­ren, und an ei­nem von ih­nen, eher, als ich es ge­dacht, war ich ein ganz leid­li­cher Bürs­ten­ma­cher. Ich hat­te es ge­lernt, ich mach­te Na­gel­bürs­ten und Hand­bürs­ten und Haar­bürs­ten und Mol­ke­rei­bürs­ten und Braue­rei­bürs­ten und Fens­ter­brett­bürs­ten. Ich konn­te auch Be­sen ma­chen, Pi­assa­va­be­sen und fei­ne Haar­be­sen. Schließ­lich lern­te ich es auch, Pin­sel her­zu­stel­len, Ra­sier­pin­sel und Staub­pin­sel und alle Ar­ten von Ma­ler­pin­seln. Mei­ne Fin­ger wa­ren nun ge­nau­so ge­schickt wie die Lexers, sie grif­fen ge­nau so vie­le Bors­ten, wie nö­tig wa­ren, kei­ne mehr, kei­ne we­ni­ger, und der Draht mach­te mir kei­ne Be­schwer­den mehr.

Wenn ich mich jetzt mit Lexer in der Frei­stun­de traf, und er schrie mich mit sei­ner gel­len Stim­me an: »Na, Som­mer, wie viel hast du ge­schafft?«, so ant­wor­te­te ich: »Acht­hun­dert Lö­cher«, oder auch: »Tau­send«, oder gar: »Elf­hun­dert«. Dann feix­te Lexer wü­tend und gell­te: »Willst dich wohl be­liebt ma­chen oben? Des­we­gen kriegst du auch kei­nen an­de­ren Fraß als wir, du Arsch­krie­cher!«

Ich ar­bei­te­te aber nicht so viel, um mich oben be­liebt zu ma­chen, ich ar­bei­te­te so um mei­net­wil­len. Die Ar­beit ver­trieb mir die Zeit. Ehe ich es dach­te, klirr­te der Schlüs­sel, und die Stim­me des Wacht­meis­ters rief: »Mit­tag!« Die Tage, so lang ein je­der ein­zel­ner manch­mal auch sein moch­te, ver­gin­gen schnell ge­nug; eine Wo­che, ein Mo­nat war vor­über­ge­gan­gen, ich sag­te zu mir: ›Nun bin ich schon einen Mo­nat hier, nun zwei, nun bald drei …‹

Jetzt, da mei­ne Hän­de die Ar­beit von selbst ta­ten, da ich nicht un­un­ter­bro­chen über sie nach­den­ken und mich het­zen muss­te, war der Kopf wie­der frei für Nach­den­ken und Grü­beln über das ei­ge­ne Schick­sal. Aber die Ar­beit gab selbst die­sem Grü­beln eine an­de­re Note. Manch­mal stell­te ich mich eine Wei­le ans Fens­ter und sah hin­aus in das Land, in dem sie nun schon das Korn mäh­ten, dann ein­fuh­ren, dann die Stop­peln pflüg­ten, dann zur Grum­met­mahd1 über­gin­gen. Ich hat­te eine gute, hel­le Ar­beits­zel­le, die auch im Win­ter gut warm sein soll­te, wie man mir ge­sagt hat­te. Ich sah hin­aus, und wenn mein Herz mich wie­der mit zor­ni­ger Un­ge­duld plag­te und dräng­te, end­lich wie­der in der Frei­heit schla­gen zu dür­fen, so mach­te es wohl die Ar­beit, dass ich mir sag­te: ›Nur Ge­duld, es wird al­les schon kom­men. Erst ein­mal wäre es wohl wirk­lich gut, wenn ich noch die­sen Satz Ab­wasch­bürs­ten fer­tig­be­käme!‹

Ja, mei­ne Ar­beit mach­te mir Freu­de, es war eine nied­ri­ge Ar­beit, die wirk­lich je­des Kind und fast je­der mei­ner schwach­sin­ni­gen Ka­me­ra­den ver­rich­ten konn­te, aber in ei­ner gut aus­ge­führ­ten Ar­beit liegt im­mer ein Trost, sie mag so ge­ring sein, wie sie will.

Ich hat­te jetzt auch kei­ne Angst vor dem Ar­rest und dem Ar­beits­in­spek­tor; er kam manch­mal in mei­ne Zel­le und nahm die fer­ti­ge Ar­beit ab, und er sag­te mir nie ein bö­ses Wort, son­dern oft: »Gut, gut, Som­mer.« Oder auch: »Sie müs­sen nicht über das Pen­sum ar­bei­ten, Som­mer, das ist nicht nö­tig.« Und ein­mal schenk­te er mir auch einen mit Mar­me­la­de be­stri­che­nen Kan­ten.

Als aber der ers­te Mo­nat mei­nes Ar­bei­tens vor­über war, trat ich mit den an­de­ren Ar­bei­tern am Glas­kas­ten an und emp­fing das an Rauch­wa­ren, was man für mei­ne »Ar­beits­be­loh­nung« ge­kauft hat­te (vier Pfen­nig am Tag, eine Mark im Mo­nat), näm­lich ein Pa­ket Fein­schnitt und ein Pa­ket Krüll­schnitt. Für die Hälf­te des Krüll­schnit­tes han­del­te ich mir eine klei­ne Ta­baks­pfei­fe ein, denn ich moch­te nicht wie man­che an­de­ren Zi­ga­ret­ten mit Zei­tungs­pa­pier dre­hen, das im­mer ent­we­der lich­ter­loh brann­te oder kohl­te und ab­scheu­lich schmeck­te. Der Kopf mei­ner Pfei­fe war ganz klein, er fass­te nicht mehr Ta­bak als für zehn oder zwölf Züge; das war gut, so konn­te ich am Tage fünf­mal rau­chen und reich­te doch den gan­zen Mo­nat. Frei­lich im ers­ten Mo­nat nicht, weil ich noch dumm war und mir al­ler­lei ab­schwat­zen und ab­bor­gen ließ, was ich nie wie­der zu se­hen be­kam.

Auch lern­te ich die Furcht al­ler Be­sit­zen­den vor Die­ben ken­nen; nichts, was in den Zel­len war, blieb vor ih­nen si­cher, man moch­te es noch so ge­schickt ver­ste­cken. Im­mer­fort wur­de wie­der im Bau die wü­ten­de Kla­ge laut: »Mir ha­ben sie Ta­bak ge­klaut!«

So war man denn ge­zwun­gen, all sei­nen Be­sitz vom Löf­fel an, der un­ser ein­zi­ges Ess­ge­rät war, in den Ta­schen her­um­zu­tra­gen, was wie­der dem Ober­pfle­ger miss­fiel, der die Aus­beu­lun­gen in un­se­ren Klei­dern ta­del­te. Ich be­schaff­te mir also einen klei­nen Kar­ton, in den ich all mei­ne Hab­se­lig­kei­ten tat, ein biss­chen Salz, ein etwa ge­spar­tes Stück Brot, die Pfei­fe und den Ta­bak. Die­sen Kar­ton hat­te ich im­mer bei mir, beim Es­sen und auf dem Klo, im Bett und so­gar bei mei­nen Arzt­be­su­chen. Spä­ter mach­te mir der wohl­ge­sinn­te Qual, der ja in der Tisch­le­rei ar­bei­te­te, ein klei­nes Holz­käst­chen mit Schie­be­de­ckel und einen Bind­fa­den­griff und nahm nicht ein­mal was da­für.

Ja, ich war nun wirk­lich ein­ge­reiht und ge­hör­te dazu, und wenn ich die Wahr­heit ge­ste­hen soll, fühl­te ich mich nach den ers­ten Wo­chen der Ein­ge­wöh­nung nicht ein­mal so schlecht. Ich hat­te mich an Hun­gern und stän­di­gen Streit, an schlech­te Luft und Schweins­beu­len ge­wöhnt, vie­le mei­ner Ka­me­ra­den, die ganz un­aus­gie­big und stumpf wa­ren, sah ich gar nicht mehr. Ich ge­hör­te dazu, und doch ge­hör­te ich nicht ganz dazu, ich war nur »vor­läu­fig un­ter­ge­bracht«, und spä­ter war ich so­gar nur »zur Be­gut­ach­tung« un­ter­ge­bracht. Ei­nes Ta­ges wür­de es Ter­min für mich ge­ben, ich wür­de mei­ne Stra­fe für die Be­dro­hung er­hal­ten, und dann wür­de ich – hof­fent­lich, hof­fent­lich! – wie­der in die Frei­heit zu­rück­keh­ren kön­nen. Was ich dort an­fan­gen wür­de, das wuss­te ich noch nicht. Ziem­lich si­cher aber schi­en mir, dass ich nicht wie­der in mein Haus und zu Mag­da zu­rück­keh­ren wür­de, auch in mei­nem al­ten Ge­schäft woll­te ich nicht wie­der ar­bei­ten.

Der Auf­ent­halt in der Zel­le hat­te mich ein we­nig men­schen­scheu ge­macht, die­ses stän­di­ge Iso­liert­sein, ich war ger­ne im en­gen Raum bei mei­nen Bürs­ten und dach­te mit Ab­nei­gung an die lärm- und men­schen­er­füll­ten Stra­ßen mei­ner Va­ter­stadt. Mir schweb­te so et­was vor, auf ein stil­les Dorf zu zie­hen und dort als ein un­be­kann­ter, rasch al­tern­der Mann mei­nen Le­bens­abend zu ver­brin­gen, in ei­ner stil­len Stu­be, in der ich im­mer wei­ter Bürs­ten ma­chen wür­de …

So et­was schweb­te mir vor. Ja, es war ein we­nig Freu­de in mich ein­ge­kehrt, eine fast be­hag­li­che Selbst­ge­nüg­sam­keit er­füll­te mich – am bes­ten ist die­se Zeit mit je­ner zu ver­glei­chen, die ich auf dem Holz­hof des Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis­ses ver­brach­te. Frei­lich fehl­te hier der Mord­horst, aber ei­gent­lich fehl­te er mir nicht. Mord­horst hat­te im­mer ge­trie­ben, ge­ta­delt und ge­hetzt – und ich lieb­te jetzt den Frie­den. Der Bau mit sei­nem Schmutz und Geiz und Neid war ent­setz­lich, aber er war nun ein­mal so – was hat­te es für einen Zweck, sich da­ge­gen auf­zu­leh­nen? Wir Ge­fan­ge­ne, wir Kran­ke gal­ten doch gar nichts!

Am Schluss des zwei­ten Mo­nats ver­tausch­te ich mein gan­zes Pa­ket Fein­schnitt­ta­bak ge­gen ein un­ge­fass­tes Brenn­glas und konn­te mir nun, auch in mei­ner Ar­beits­zel­le, die Pfei­fe im­mer an­bren­nen, wenn die Son­ne schi­en. Da kam ich mir rei­cher und glück­li­cher als je in mei­nem Le­ben vor, wenn ich so an mei­nem Fens­ter lehn­te und mit tiefer Freu­de mei­ne zehn oder zwölf Züge Ta­ba­krauch in mich hin­ein­sog. Es war mir, als habe ich in mei­nem Le­ben noch nie so tief ge­nos­sen und mich ge­freut wie hier in der war­men Zel­le. Vi­el­leicht hat­te da die Ge­nüg­sam­keit mei­nes Schlaf­ka­me­ra­den Holz, sei­ne Gabe, sich auch an den kleins­ten Din­gen zu freu­en, schon auf mich ab­ge­färbt.

1 der zwei­te Gras­schnitt <<<

56

Un­ru­he tru­gen in den stil­len Frie­den die­ser Tage nur mei­ne Un­ter­hal­tun­gen mit dem Arzt, meist dau­er­te es ein paar Tage, bis ich mich nach ih­nen wie­der völ­lig be­ru­higt hat­te und zu mei­nem stil­len Be­ha­gen zu­rück­ge­kehrt war. Im Gan­zen ver­lie­fen sie nicht güns­tig für mich, wenn auch kei­ne so schlimm wur­de wie jene Ers­te. Es war mir lei­der ganz un­mög­lich, mich ihm ge­gen­über so zu ge­ben, wie ich wirk­lich war. Nie ge­wann ich im Ver­kehr mit ihm jene Frei­heit und Selbst­si­cher­heit, die mir doch drau­ßen selbst­ver­ständ­lich ge­we­sen wa­ren. Im­mer be­drück­te mich ein dunkles Schuld­ge­fühl, als müss­te ich vor ihm um je­den Preis et­was ver­ber­gen und ver­heim­li­chen. Nie wur­de ich ganz mei­ne Furcht vor sei­nen ge­hei­men Lis­ten und Knif­fen los; bei der harm­lo­ses­ten Fra­ge plag­te mich der Ge­dan­ke: ›Wie will er dich jetzt wie­der rein­le­gen?‹ Nie sah ich den hel­fen­den Arzt in ihm, son­dern im­mer den Ge­hil­fen des Staats­an­wal­tes, der mich in schwe­rer, ver­wor­re­ner Stun­de des Mord­ver­suchs an mei­ner Frau be­schul­digt hat­te und der al­les auf­bie­ten wür­de, mich in die­sen Mau­ern zu hal­ten.

Wenn ich mich wirk­lich ein­mal über­wand und dem Me­di­zi­nal­rat er­zähl­te, was mein Herz be­weg­te, fiel ich auch da­mit re­gel­mä­ßig her­ein. Zum Bei­spiel er­zähl­te ich ihm ei­nes Ta­ges ganz frei­mü­tig von mei­nen so ver­än­der­ten Zu­kunfts­plä­nen, mich auf ein stil­les Dorf zu­rück­zu­zie­hen und ganz der Bürs­ten­ma­che­rei zu le­ben. Ich hat­te ge­glaubt, für die­se Plä­ne die Bil­li­gung des Arz­tes zu fin­den, ja sein Lob, und war über­rascht und maß­los ent­täuscht, als er ener­gisch den Kopf schüt­tel­te und sag­te: »Das sind ja blo­ße Fan­tas­te­rei­en, Som­mer. Sie streu­en sich ja selbst Sand in die Au­gen. So kön­nen Sie nicht le­ben, und so wol­len Sie auch gar nicht le­ben. Sie brau­chen Ihre Mit­menschen, und vor al­lem, Som­mer, brau­chen Sie eine füh­ren­de, hel­fen­de Hand. Nein, das ha­ben Sie sich wie­der nur in Ih­rer ganz un­be­grün­de­ten Aver­si­on ge­gen Ihre Frau aus­ge­dacht. Ma­chen Sie sich doch ein­mal von dem Ge­dan­ken frei, dass Ihre Frau Ih­nen scha­den will! Sie, Sie al­lein ha­ben ihr viel Bö­ses ge­tan, und wenn Ihre Frau nicht ein so an­stän­di­ger Mensch wäre, hät­te sie alle Ur­sa­che, ein biss­chen böse über Sie zu sein. Aber nicht ein ab­fäl­li­ges Wort über Sie hat sie zu Pro­to­koll ge­ge­ben, im­mer sucht sie, Sie zu ent­schul­di­gen! Und da er­zäh­len Sie mir, dass Sie nicht mehr mit ihr le­ben und ar­bei­ten wol­len! Was für ein Mensch sind Sie doch, Som­mer! Kön­nen Sie denn nie eine Sa­che se­hen, wie sie wirk­lich ist? Müs­sen Sie sich im­mer Flau­sen vor­ma­chen?«

Ich war na­tür­lich ver­wirrt und em­pört über die­sen ganz un­mo­ti­vier­ten An­griff; da Mag­da mir kei­ne Zei­le ge­schrie­ben, nie einen Ver­such ge­macht hat­te, mich zu se­hen, muss­te ich wohl mit Recht an­neh­men, dass ich ihr läs­tig, dass ich für sie tot und be­gra­ben war. Und wie es eben Sit­te ist, sprach sie über einen To­ten nichts Schlech­tes. Aber an­stän­dig war es von mir, ihr dar­auf­hin still aus dem Wege zu ge­hen, ihr kei­ne Schwie­rig­kei­ten zu ma­chen, sie im frei­en Be­sitz mei­nes Ei­gen­tums zu las­sen.

Dass der Arzt die­sen mei­nen Edel­mut nicht se­hen woll­te, son­dern mit har­ten, bö­sen Wor­ten über mich her­fiel, das be­wies mir, wie vor­ein­ge­nom­men er ge­gen mich war, und das ver­schloss für die Zu­kunft noch fes­ter mei­nen Mund, mach­te mich noch be­fan­ge­ner und un­frei­er. Ei­gent­lich war er nichts an­de­res als mein Feind, ein er­bar­mungs­lo­ser Feind, der da­nach trach­te­te, mich mit al­len Mit­teln zu über­lis­ten, und der das Über­ge­wicht als An­stalts­lei­ter rück­sichts­los mir ge­gen­über aus­nutz­te. Die an­de­ren Ge­fan­ge­nen hat­ten ganz recht, mich im­mer wie­der vor ihm zu war­nen. »Trau nur dem Stie­bing nicht! Ins Ge­sicht freund­lich, und hin­ter dei­nem Rücken macht er ein Gut­ach­ten über dich, dass du dein Leb­tag nicht wie­der aus die­sem Kas­ten her­aus­kommst.« Recht hat­ten sie.

 

All­zu oft ließ der Arzt mich in die­sen Wo­chen nicht zu sich ru­fen, und sei­ne An­for­de­run­gen nach mir wur­den auch nicht häu­fi­ger, nach­dem er mir er­öff­net hat­te, er sei jetzt auf­ge­for­dert, ein Gut­ach­ten über mich zu er­stat­ten. Eher das Ge­gen­teil, auch ein Be­weis da­für, dass er eine vor­ge­fass­te Mei­nung von mir hat­te und gar nichts mehr zu­ler­nen woll­te. Im All­ge­mei­nen kam der Me­di­zi­nal­rat, wenn nichts be­son­ders Drin­gen­des vor­lag, zwei­mal wö­chent­lich in die Heil- und Pfle­gean­stalt, je­den Diens­tag- und Don­ners­tag­abend. Ich wur­de aber vom Ober­pfle­ger viel sel­te­ner zu ihm ge­ru­fen, nicht ein­mal jede Wo­che ein­mal. An sich be­grüß­te ich das na­tür­lich, denn je­der Be­such bei ihm war, wie ich schon ge­sagt habe, eine Mar­ter für mich, nach der ich ta­ge­lang nicht wie­der zur Ruhe kam. Aber die­ses sel­te­ne Ho­len zeig­te doch auch, wie leicht er über die­ses Gut­ach­ten, das über mein Le­bens­schick­sal ent­schei­den soll­te, dach­te.

An sich war mein Fall doch ge­ra­de für einen Psych­ia­ter be­son­ders in­ter­essant, ich stand bil­dungs­mä­ßig weit über dem Ni­veau der an­de­ren An­stalts­in­sas­sen, hat­te in mei­nem Le­ben et­was vor mich ge­bracht, war ein an­ge­se­he­ner Mann – und nun in die­sem To­ten­haus! Der Me­di­zi­nal­rat hät­te doch ei­gent­lich se­hen müs­sen, dass es bei mir um viel mehr als bei den an­de­ren ging, ich hat­te mehr zu ver­lie­ren, ich war auch emp­find­li­cher und lei­dens­fä­hi­ger als die­se meist recht stump­fen Ge­sel­len! Aber nein, er be­han­del­te mich völ­lig wie Hinz und Kunz, war oft ge­ra­de­zu grob mit mir, schalt mich einen un­ver­bes­ser­li­chen Lüg­ner und Flau­sen­ma­cher! Ich hat­te al­les Recht, ihm zu miss­trau­en und vor ihm auf mei­ner Hut zu sein. Wenn er mir dann wie­der mei­nen Man­gel an Of­fen­heit vor­warf, so war das ei­ner sei­ner in­kon­se­quen­ten Vor­wür­fe, zu de­nen ich völ­lig zu schwei­gen vor­zog.