Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Herr Kam­mer­ge­richts­rat!«, sagt Bal­dur Per­si­cke fle­hend. »Ich bit­te Sie, neh­men Sie die­se Sa­che in die Hand! Sie sind Rich­ter ge­we­sen, Sie wis­sen, was zu ge­sche­hen hat …«

»Nein, nein«, sagt der Rat ent­schie­den ab­leh­nend. »Ich bin alt und krank.« Er sieht aber gar nicht so aus. Im Ge­gen­teil: blü­hend sieht er aus. »Und dann lebe ich ganz zu­rück­ge­zo­gen, ich habe kaum noch Ver­bin­dung mit der Welt. Aber Sie, Herr Per­si­cke, Sie und Ihre Fa­mi­lie, Sie sind es doch, die die bei­den Ein­bre­cher über­rascht ha­ben. Sie über­ge­ben sie der Po­li­zei, Sie stel­len das Gut hier in der Woh­nung si­cher. Ich habe mir bei mei­nem ra­schen Rund­gang eben einen klei­nen Über­blick ver­schafft. Ich habe zum Bei­spiel sieb­zehn Kof­fer und ein­und­zwan­zig Kis­ten ge­zählt. Und an­de­res mehr. Und an­de­res mehr …«

Er hat im­mer lang­sa­mer ge­re­det. Im­mer lang­sa­mer. Nun sagt er leicht: »Ich könn­te mir den­ken, dass die Er­grei­fung der bei­den Ein­bre­cher Ih­nen und Ih­rer Fa­mi­lie noch Ruhm und Ehre ein­tra­gen wird.«

Der Kam­mer­ge­richts­rat schweigt. Bal­dur steht sehr nach­denk­lich da. So kann man es auch ma­chen – was für ein al­ter Fuchs der Fromm da ist! Er durch­schaut be­stimmt al­les, si­cher hat der Va­ter ge­quatscht, aber er will sei­ne Ruhe ha­ben, er will nichts von die­ser Sa­che wis­sen. Von ihm droht kei­ne Ge­fahr. Und Quan­gel, der alte Werk­meis­ter? Der hat sich nie um je­man­den im Haus ge­küm­mert, der hat nie je­man­den ge­grüßt, nie mit ei­nem ein Wort ge­spro­chen. Der Quan­gel ist so ein rich­ti­ger al­ter Ar­bei­ter, aus­ge­mer­gelt, aus­ge­pumpt, der hat kei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken mehr im Kopf. Der macht sich be­stimmt nicht un­nö­tig Sche­re­rei­en. Der ist erst recht ge­fahr­los.

Blei­ben die bei­den blö­den Be­sof­fe­nen, die da lie­gen. Na­tür­lich kann man sie der Po­li­zei über­ge­ben und al­les ab­leug­nen, was der Bark­hau­sen etwa über An­stif­tung er­zählt. Dem wer­den sie be­stimmt kei­nen Glau­ben schen­ken, wenn er ge­gen An­ge­hö­ri­ge der Par­tei, der SS und der HJ aus­sagt. Und dann den gan­zen Fall der Ge­sta­po mel­den. Da be­kommt man viel­leicht ganz le­gal einen Teil die­ser Sa­chen, die man sonst nur il­le­gal und un­ter Ge­fahr an sich brin­gen könn­te. Und hät­te au­ßer­dem Aner­ken­nung dazu.

Ein ver­lo­cken­der Weg. Aber viel­leicht ist der an­de­re doch noch bes­ser, erst ein­mal al­les auf sich be­ru­hen zu las­sen. Den Bark­hau­sen und die­sen Enno ver­pflas­tern und mit ein paar Mark los­schi­cken. Die re­den be­stimmt nicht. Die Woh­nung ab­schlie­ßen, wie sie ist, ob die Ro­sen­thal nun zu­rück­kommt oder nicht. Vi­el­leicht ist spä­ter was zu ma­chen – er hat das ziem­lich si­che­re Ge­fühl, der Kurs ge­gen die Ju­den wird noch schär­fer. Ab­war­ten und Tee trin­ken. In ei­nem hal­b­en Jahr kann man viel­leicht schon Sa­chen ma­chen, die heu­te noch nicht ge­hen. Jetzt ha­ben sie, die Per­sickes, sich ein biss­chen viel Blö­ßen ge­ge­ben. Man wird nicht gra­de ge­gen sie vor­ge­hen, aber man wird in der Par­tei über sie klat­schen. Sie wer­den nicht mehr als ganz zu­ver­läs­sig gel­ten.

Bal­dur Per­si­cke sagt: »Ich möch­te bei­na­he die bei­den Ker­le lau­fen­las­sen. Sie tun mir leid, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, es sind doch bloß klei­ne Kläf­fer.«

Er sieht sich um, er ist al­lein. So­wohl der Kam­mer­ge­richts­rat wie der Werk­meis­ter sind ge­gan­gen. Wie er es sich ge­dacht hat: sie wol­len nichts mit der Sa­che zu tun ha­ben. Das Schlaues­te, was man tun kann. Er, Bal­dur, wird es nicht an­ders ma­chen, und wenn die Brü­der noch so sehr schimp­fen.

Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer, der all den schö­nen Sa­chen gilt, die er auf­ge­ben muss, schickt sich Bal­dur an, in die Kü­che zu ge­hen, den Va­ter zur Be­sin­nung und die Brü­der zum Ver­zicht auf schon Er­reich­tes zu brin­gen.

Auf der Trep­pe sagt un­ter­des der Kam­mer­ge­richts­rat zu dem Werk­meis­ter Quan­gel, der ihm wort­los aus der Stu­be ge­folgt ist: »Und wenn Sie Schwie­rig­kei­ten we­gen der Ro­sen­thal be­kom­men, Herr Quan­gel, wen­den Sie sich an mich. Gute Nacht.«

»Was geht mich die Ro­sen­thal an? Ich kenn sie gar nicht!«, pro­tes­tiert Quan­gel.

»Also gute Nacht, Herr Quan­gel!«, und der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm ver­schwin­det schon trepp­ab­wärts.

Otto Quan­gel schließt die Tür zu sei­ner dunklen Woh­nung auf.

9. Nachtgespräch bei Quangels

Quan­gel hat kaum die Tür zum Schlaf­zim­mer auf­ge­macht, da ruft sei­ne Frau Anna er­schro­cken: »Mach kein Licht, Va­ter! Die Tru­del schläft hier in dei­nem Bett. Ich habe dir dein Bett auf dem Sofa in der Stu­be zu­recht­ge­macht.«

»Ist gut, Anna«, ant­wor­tet Quan­gel und wun­dert sich über die­se Neue­rung, dass die Tru­del durch­aus in sei­nem Bett schla­fen muss. Sonst hat sie auf dem Sofa ge­le­gen.

Aber er sagt erst wie­der was, als er sich aus­ge­zo­gen hat und un­ter der De­cke auf dem Sofa liegt. Er fragt: »Willst du schon schla­fen, Anna, oder magst du noch ein Wort re­den?«

Sie zö­gert einen Au­gen­blick, dann ant­wor­tet sie durch die of­fe­ne Tür von der Schlaf­stu­be her. »Ich bin so müde und ka­putt, Otto!«

Also ist sie noch böse mit mir – warum ei­gent­lich?, denkt Otto Quan­gel, sagt aber un­ver­än­dert: »Also dann schlaf, Anna. Gute Nacht!«

Und von ih­rem Bett hallt es zu­rück: »Gute Nacht, Otto!« Und auch die Tru­del flüs­tert lei­se: »Gute Nacht, Va­ter!«

»Gute Nacht, Tru­del!«, ant­wor­tet er und legt sich auf die Sei­te, nur von dem Wun­sche er­füllt, mög­lichst bald ein­zu­schla­fen, denn er ist sehr müde. Aber er ist wohl über­mü­det, wie man auch über­hun­gert sein kann. Der Schlaf will nicht zu ihm kom­men. Ein lan­ger Tag mit end­los viel Er­eig­nis­sen, ein Tag, wie es ihn ei­gent­lich noch nie in Ot­tos Le­ben ge­ge­ben hat, liegt hin­ter ihm.

Aber kein Tag, wie er ihn sich wünscht. Ganz ab­ge­se­hen da­von, dass ei­gent­lich alle Ge­scheh­nis­se un­an­ge­nehm wa­ren, bis auf die Ab­lö­sung von sei­nem Pos­ten in der Ar­beits­front, er hasst die­se Un­ru­he, die­ses Re­den­müs­sen mit al­len mög­li­chen Men­schen, die er al­le­samt nicht aus­ste­hen kann. Und er denkt an den Feld­post­brief mit der Nach­richt vom Tode Ot­to­chens, den ihm die Frau Klu­ge ge­ge­ben, er denkt an den Spit­zel Bark­hau­sen, der ihn so täp­pisch hat rein­le­gen wol­len, an den Gang in der Uni­form­fa­brik mit den im Zuge flat­tern­den Pla­ka­ten, ge­gen die Tru­del ih­ren Kopf lehn­te. Er denkt an den ver­kapp­ten Tisch­ler Doll­fuß, die­sen ewi­gen Zi­ga­ret­ten­rau­cher, die Me­dail­len und Or­den klin­geln wie­der auf der Brust des brau­nen Red­ners, nun fasst ihn aus dem Dun­kel die fes­te, klei­ne Hand des Kam­mer­ge­richts­rats a.D. Fromm an und schiebt ihn der Trep­pe zu. Da steht der jun­ge Per­si­cke mit sei­nen spie­geln­den Stie­feln auf der Wä­sche und wird im­mer kä­si­ger, und in der Ecke rö­cheln und stöh­nen die bei­den blu­ti­gen Be­sof­fe­nen.

Er fährt wie­der hoch, bei­na­he wäre er eben wirk­lich ein­ge­schla­fen. Aber da ist noch et­was, das ihn an die­sem Tage stört, et­was, das er ge­nau ge­hört und wie­der ver­ges­sen hat. Er setzt sich auf sei­nem Sofa hoch und lauscht lan­ge und sorg­fäl­tig. Es ist rich­tig, er hat sich nicht ver­hört. Be­feh­lend ruft er: »Anna!«

Sie ant­wor­tet kla­gend, wie es gar nicht ihre Art ist: »Was störst du mich schon wie­der, Otto? Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kom­men? Ich habe dir doch ge­sagt, ich will nicht mehr re­den!«

Er fährt fort: »Wa­rum soll ich denn auf dem Sofa schla­fen, wenn die Tru­del bei dir im Bet­te liegt? Dann ist mein Bett doch frei?«

Ei­nen Au­gen­blick herrscht drü­ben tie­fe Stil­le, dann sagt die Frau fast fle­hend: »Aber Va­ter, die Tru­del schläft wirk­lich in dei­nem Bett! Ich lie­ge al­lein, ich habe auch sol­che Glie­der­schmer­zen …«

Er un­ter­bricht sie: »Du sollst mich nicht be­lü­gen, Anna. Drü­ben bei euch at­men drei, ich hab’s gut ge­hört. Wer schläft in mei­nem Bett?«

Stil­le, lan­ge Stil­le. Dann sagt die Frau fest: »Frag nicht so viel. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Schweig lie­ber stil­le, Otto!«

Und er un­beug­sam: »In die­ser Woh­nung bin ich der Herr. In die­ser Woh­nung gib­t’s kei­ne Ge­heim­nis­se vor mir. Weil ich al­les zu ver­ant­wor­ten habe, dar­um. Wer schläft in mei­nem Bett?«

Lan­ge Stil­le, lan­ge. Dann sagt eine alte, tie­fe Frau­en­stim­me: »Ich, Herr Quan­gel, die Frau Ro­sen­thal. Und Ihre Frau und Sie sol­len kei­ne Schwie­rig­kei­ten durch mich ha­ben, ich zie­he mich an. Gleich gehe ich wie­der rauf!«

»Sie kön­nen jetzt nicht in Ihre Woh­nung, Frau Ro­sen­thal. Die Per­sickes sind oben und noch ein paar Kerls. Blei­ben Sie jetzt lie­gen in mei­nem Bett. Und mor­gen früh, ganz zei­tig, um sechs oder sie­ben, ge­hen Sie run­ter zum al­ten Rat Fromm und klin­geln an sei­ner Tür im Hoch­par­terre. Der wird Ih­nen hel­fen, er hat’s mir ge­sagt.«

»Ich dan­ke Ih­nen auch schön, Herr Quan­gel.«

»Sie kön­nen dem Rat dan­ken, mir nicht. Ich setz Sie bloß aus mei­ner Woh­nung. So, und nun kommst du dran, Tru­del …«

»Ich soll wohl auch raus, Va­ter?«

»Ja, du musst. Das war dein letz­ter Be­such bei uns, und du weißt auch, warum. Vi­el­leicht, dass Anna dich manch­mal be­sucht, aber ich glaub’s nicht. Wenn sie erst zur Ver­nunft ge­kom­men ist und ich rich­tig mit ihr ge­re­det habe …«

Fast schrei­end sagt die Frau: »Das lass ich mir nicht ge­fal­len, dann geh ich auch. Dann kannst du al­lein blei­ben in dei­ner Woh­nung! Du denkst nur an dei­ne Ruhe …«

»Rich­tig!«, un­ter­bricht er sie scharf. »Ich will nichts Un­si­che­res ha­ben, und vor al­lem will ich nicht in die un­si­che­ren Ge­schich­ten von an­de­ren rein­ge­zo­gen wer­den. Wenn ich den Kopf hin­hal­ten muss, will ich ihn nicht we­gen ir­gend­wel­cher Dus­se­lei­en von an­de­ren hin­hal­ten, son­dern weil ich was ge­tan habe, was ich tun woll­te. Ich sage nicht, dass ich was tu. Aber wenn ich was tu, so tu ich’s nur mit dir al­lein, mit kei­nem an­de­ren Men­schen noch, und wenn es noch so ein net­tes Mä­del wie die Tru­del ist oder ’ne alte, schutz­lo­se Frau wie Sie, Frau Ro­sen­thal. Ich sag nicht, es ist rich­tig, wie ich’s ma­che. Aber an­ders kann ich’s nicht ma­chen. So bin ich, und ich will auch gar nicht an­ders sein. So, und jetzt will ich schla­fen!«

 

Da­mit legt sich Otto Quan­gel wie­der hin. Drü­ben tu­scheln sie noch lei­se, aber das stört ihn nicht. Er weiß: sein Wil­le ge­schieht doch. Mor­gen früh ist sei­ne Woh­nung wie­der sau­ber, und die Anna wird sich auch fü­gen. Kei­ne wil­den Ge­schich­ten mehr. Und er al­lein. Er al­lein. Nur er!

Er schläft ein, und wer ihn jetzt schla­fen se­hen könn­te, der wür­de ihn lä­cheln se­hen, ein grim­mi­ges Lä­cheln auf die­sem har­ten, tro­ckenen Vo­gel­ge­sicht, ein grim­mi­ges, kämp­fe­ri­sches Lä­cheln, doch kein bö­ses.

10. Was am Mittwochmorgen geschah

All die zu­vor be­rich­te­ten Er­eig­nis­se hat­ten sich an ei­nem Diens­tag zu­ge­tra­gen. Am Mor­gen des fol­gen­den Mitt­wochs, sehr früh, zwi­schen fünf und sechs Uhr, ver­ließ Frau Ro­sen­thal, von der Tru­del Bau­mann be­glei­tet, die Quan­gel’­sche Woh­nung. Otto Quan­gel schlief noch fest. Die Tru­del hat­te die un­be­hilf­li­che, völ­lig ver­ängs­tig­te Frau Ro­sen­thal mit dem gel­ben Stern auf der Brust bis fast an die From­m’­sche Woh­nungs­tür ge­bracht. Dann zog sie sich eine hal­be Trep­pe hö­her zu­rück, fest ent­schlos­sen, die Frau, und sei es mit dem ei­ge­nen Le­ben und der ei­ge­nen Ehre, ge­gen einen etwa her­ab­kom­men­den Per­si­cke zu ver­tei­di­gen.

Tru­del be­ob­ach­te­te, wie Frau Ro­sen­thal auf den Klin­gel­knopf drück­te. Fast so­fort wur­de die Tür ge­öff­net, als habe je­mand schon war­tend da­hin­ter ge­stan­den. Ei­ni­ge Wor­te wur­den lei­se ge­wech­selt, dann trat Frau Ro­sen­thal ein, die Tür schloss sich, und Tru­del Bau­mann ging an ihr vor­bei auf die Stra­ße. Das Haus war schon of­fen.

Die bei­den Frau­en hat­ten Glück ge­habt. So früh es auch war und so­sehr Früh­auf­ste­hen auch den Ge­wohn­hei­ten der Per­sickes wi­der­sprach, so hat­ten doch die bei­den SS-Män­ner kei­ne fünf Mi­nu­ten frü­her das Trep­pen­haus pas­siert. Um fünf Mi­nu­ten war eine Be­geg­nung ver­mie­den, die bei der stu­ren Dumm­heit und der Bru­ta­li­tät der bei­den Bur­schen nicht an­ders als ver­häng­nis­voll, zum min­des­ten für Frau Ro­sen­thal, aus­ge­fal­len wäre.

Auch die bei­den SS-Män­ner wa­ren nicht al­lein ge­gan­gen. Sie hat­ten von ih­rem Bru­der Bal­dur den Be­fehl er­hal­ten, den Bark­hau­sen und den Enno Klu­ge (Bal­dur hat­te un­ter­des sei­ne Pa­pie­re durch­ge­se­hen) aus dem Hau­se und zu ih­ren Frau­en zu schaf­fen. Die bei­den Ama­teur­ein­bre­cher wa­ren im­mer noch fast völ­lig be­ne­belt von dem Über­maß ge­nos­se­nen Al­ko­hols und von dem Schlag, den sie ab­be­kom­men hat­ten. Doch war es Bal­dur Per­si­cke ge­lun­gen, ih­nen be­greif­lich zu ma­chen, dass sie sich wie die Schwei­ne be­nom­men hät­ten, dass es nur der großen Men­schen­lie­be der Per­sickes zu ver­dan­ken sei, wenn sie nicht so­fort der Po­li­zei über­ge­ben wur­den, dass aber je­des Ge­quat­sche sie un­wei­ger­lich dort­hin brin­gen wür­de. Au­ßer­dem hat­ten sie sich nie wie­der bei Per­sickes se­hen zu las­sen und kei­nen Per­si­cke je zu ken­nen. Wenn sie sich aber er­fre­chen wür­den, je wie­der in die Ro­sent­hal’­sche Woh­nung zu kom­men, wür­den sie un­wei­ger­lich der Ge­sta­po über­ge­ben.

All dies hat­te ih­nen Bal­dur so oft und mit so vie­len Dro­hun­gen und Be­schimp­fun­gen wie­der­holt, bis es in ih­ren ver­blö­de­ten Hir­nen völ­lig fest­zu­sit­zen schi­en. Sie hat­ten sich da am Tisch der Per­sicke’­schen Woh­nung ge­gen­über­ge­ses­sen, in ei­nem hal­b­en Zwie­licht, zwi­schen sich den un­auf­hör­lich schwat­zen­den, dro­hen­den, blit­zen­den Bal­dur. Auf dem Sofa hat­ten sich die bei­den SS-Män­ner her­um­ge­lüm­melt, dro­hen­de, fins­te­re Ge­stal­ten, trotz ih­res ewi­gen Zi­ga­ret­ten­rau­chens. Sie hat­ten das un­si­che­re Ge­fühl, als stän­den sie vor ei­nem Ge­richts­hof zur Ab­ur­tei­lung, der Tod schi­en ih­nen zu dro­hen. Sie schwank­ten auf ih­ren Stüh­len hin und her und ver­such­ten zu ver­ste­hen, was sie ver­ste­hen soll­ten. Da­zwi­schen dös­ten sie ein und wur­den so­fort wie­der durch einen schmerz­haf­ten Faust­schlag Bal­durs ge­weckt. Al­les, was sie ge­plant, ge­tan, er­lit­ten hat­ten, schi­en ih­nen wie ein un­wirk­li­cher Traum, sie sehn­ten sich nur nach Schlaf und Ver­ges­sen.

Schließ­lich schick­te sie Bal­dur mit sei­nen Brü­dern fort. In den Ta­schen tru­gen Bark­hau­sen wie Klu­ge, ohne es zu wis­sen, etwa fünf­zig Mark in klei­nen Schei­nen. Bal­dur hat­te sich zu die­sem neu­en, schmerz­li­chen Op­fer ent­schlos­sen, durch das die Un­ter­neh­mung Ro­sen­thal für die Per­sickes vor­läu­fig zu ei­nem rei­nen Ver­lust­ge­schäft wur­de. Aber er sag­te sich, wenn die Män­ner ohne al­les Geld, zer­schla­gen und ar­beits­un­fä­hig zu ih­ren Frau­en zu­rück­kehr­ten, wür­de es bei den Wei­bern viel mehr Ge­schrei und Nach­fra­ge ge­ben, als wenn ih­nen die be­trun­ke­nen Ker­le ei­ni­ges Geld zu­tru­gen. Und er rech­ne­te da­mit, dass bei dem Zu­stand der Män­ner die Frau­en das Geld fin­den wür­den.

Der äl­te­re Per­si­cke, der Bark­hau­sen nach Haus zu brin­gen hat­te, war mit sei­ner Auf­ga­be in zehn Mi­nu­ten fer­tig, in je­nen zehn Mi­nu­ten, in de­nen Frau Ro­sen­thal die From­m’­sche Woh­nung er­reicht hat­te und Tru­del Bau­mann auf die Stra­ße ge­tre­ten war. Er hat­te den fast ge­h­un­fä­hi­gen Bark­hau­sen ein­fach beim Kra­gen ge­packt, über den Hof ge­schleppt, vor der Bark­hau­sen’­schen Woh­nung auf die Erde ge­setzt und die Frau mit fes­ten Faust­schlä­gen ge­gen die Tür ge­weckt. Als sie er­schro­cken vor der fins­ter dro­hen­den Ge­stalt zu­rück­ge­wi­chen war, hat­te er sie an­ge­schri­en: »Da bring ich dir dei­nen Kerl, alte Sau! Schmeiß den Frei­er raus, den du im Bett hast, und pack dei­nen Kerl da­für rein! Hier bei uns im Trep­pen­haus be­sof­fen rum­lie­gen und al­les voll­kot­zen …!«

Da­mit ging er und über­ließ al­les an­de­re Otti. Sie hat­te noch ihre Mühe ge­habt, den Emil aus den Klei­dern und ins Bett zu brin­gen, da­bei hat­te der äl­te­re bes­se­re Herr, der noch bei ihr zu Gas­te war, hel­fen müs­sen. Dann war er un­barm­her­zig fort­ge­schickt wor­den – trotz der frü­hen Stun­de. Auch je­des Wie­der­kom­men war ihm ver­bo­ten, viel­leicht konn­te man sich mal in ei­nem Café tref­fen, aber hier, nein, nie wie­der.

Denn Ot­ti­chen war von ei­ner pa­ni­schen Angst er­grif­fen, seit sie den SS-Mann Per­si­cke an ih­rer Tür er­blickt hat­te. Sie wuss­te von man­cher Kol­le­gin, die von die­sen schwar­zen Her­ren zwar be­nutzt, statt ei­ner Be­zah­lung aber als aso­zi­al und ar­beits­scheu in ein KZ ge­schafft wor­den war. Sie hat­te ge­glaubt, in ih­rer düs­te­ren Kel­ler­woh­nung ein völ­lig un­be­ob­ach­te­tes Da­sein zu fris­ten, nun hat­te sie er­fah­ren, dass sie – wie alle zu die­ser Zeit – stän­dig be­spit­zelt wur­de. Hat­te der Per­si­cke ja so­gar ge­wusst, dass sie einen frem­den Herrn im Bett ge­habt hat­te! Nein, Ot­ti­chen woll­te von frem­den Her­ren vor­läu­fig nichts mehr se­hen. Zum hun­derts­ten Mal in ih­rem Le­ben ge­lob­te sie sich Bes­se­rung.

Die­ser Ent­schluss wur­de ihr er­leich­tert, als sie achtund­vier­zig Mark in Emils Ta­sche fand. Sie steck­te das Geld in ih­ren Strumpf und ent­schloss sich ab­zu­war­ten, was Emil von sei­nen Er­leb­nis­sen be­rich­ten wür­de, sie je­den­falls wür­de von dem Gel­de nichts wis­sen!

Die Auf­ga­be des zwei­ten Per­si­cke war we­sent­lich schwie­ri­ger, vor al­lem da­durch, dass der zu­rück­zu­le­gen­de Weg sehr viel wei­ter war, denn Klu­ges wohn­ten jen­seits des Fried­richs­hains. Enno konn­te eben­so we­nig ge­hen wie Bark­hau­sen, aber Per­si­cke konn­te ihn nicht auf der Stra­ße am Kra­gen oder am Arm ne­ben sich her­schlei­fen. Es war ihm über­haupt pein­lich, in der Ge­sell­schaft die­ses zer­schla­ge­nen, be­trun­ke­nen Man­nes ge­se­hen zu wer­den, denn je ge­rin­ger er von sei­ner ei­ge­nen und sei­ner Mit­menschen Ehre dach­te, umso hö­her stell­te er die Ehre sei­ner Uni­form.

Es war eben­so ver­geb­lich, dem Klu­ge zu be­feh­len, kurz vor ihm oder einen Schritt hin­ter ihm zu ge­hen, im­mer hat­te er die glei­che Nei­gung, sich auf die Erde zu set­zen, zu stol­pern, sich an Bäu­men und Wän­den fest­zu­hal­ten oder ge­gen Passan­ten zu strei­fen. Um­sonst war da je­der Faust­schlag, je­des noch so schar­fe Kom­man­do, der Kör­per tat ein­fach nicht mit, und ihm die schar­fe Abrei­bung zu er­tei­len, die ihn viel­leicht doch nüch­tern ge­macht hät­te, da­für wa­ren die Stra­ßen schon zu be­lebt. Per­si­cke stand der Schweiß auf der Stir­ne, sei­ne Kinn­ba­cken­mus­keln be­weg­ten sich krampf­haft vor Wut, und er schwur es sich zu, die­ser klei­nen Gift­krö­te von Bal­dur ein­mal gründ­lich zu sa­gen, was er von sol­chen Auf­trä­gen hielt.

Er muss­te die Haupt­stra­ßen mei­den, Um­we­ge durch stil­le­re Ne­ben­stra­ßen ma­chen. Dann pack­te er den Klu­ge un­ter dem Arm und trug ihn oft zwei, drei Stra­ßen­e­cken weit, bis er nicht mehr konn­te. Viel Be­schwer mach­te ihm auch eine Zeit lang ein Schu­po,1 dem die­ser et­was ge­walt­sa­me Frühtrans­port wohl auf­ge­fal­len war und der ihm durch sei­nen gan­zen Be­zirk folg­te, den Per­si­cke da­durch zu ei­nem sanf­ten und be­sorg­ten Be­neh­men zwin­gend.

Aber er nahm, als sie end­lich im Fried­richs­hain an­ge­kom­men wa­ren, sei­ne Ra­che da­für. Er setz­te den Klu­ge hin­ter ei­nem Ge­büsch auf die Bank und be­ar­bei­te­te ihn dann so, dass der Mann zehn Mi­nu­ten lang völ­lig ohn­mäch­tig dalag. Die­ser klei­ne Renn­wet­ter, dem ei­gent­lich al­les auf der Welt au­ßer In­ter­es­se war, aus­ge­nom­men die Renn­pfer­de, die er frei­lich zeit sei­nes Le­bens nur in den Zei­tun­gen zu Ge­sicht be­kom­men hat­te, die­ses Ge­schöpf, das we­der Lie­be noch Hass emp­fin­den konn­te, die­ser Ar­beits­scheue, der alle Win­dun­gen sei­nes küm­mer­li­chen Hirns da­mit be­schäf­tigt hat­te, wie wirk­li­cher An­stren­gung zu ent­ge­hen war, die­ser Mann Enno Klu­ge, blass, ge­nüg­sam, farb­los, er be­hielt von die­sem Zu­sam­men­tref­fen mit den Per­sickes eine pa­ni­sche Angst vor je­der Par­tei­uni­form, eine Angst, die ihn fort­an in See­le und Geist läh­men soll­te, wenn er mit sol­chen Par­tei­leu­ten in Berüh­rung kam, wie sich spä­ter noch zei­gen soll­te.

Ein paar Trit­te in die Rip­pen weck­ten ihn aus sei­ner Ohn­macht, ein paar Schlä­ge auf sei­nen Rücken setz­ten ihn in Gang, und so trab­te er denn, fei­ge wie ein ver­prü­gel­ter Hund, vor sei­nem Pei­ni­ger her, bis die Woh­nung der Frau er­reicht war. Aber die Tür war ver­schlos­sen: die Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge, die in der Nacht noch an ih­rem Sohn und da­mit an ih­rem Le­ben ver­zwei­felt war, hat­te sich wie­der auf ih­ren ge­wohn­ten Trott ge­macht, den Brief an ih­ren Sohn Max in der Ta­sche, aber mit sehr we­nig Hoff­nung und Glau­ben im Her­zen. Sie be­stell­te Post, wie sie es seit Jah­ren ge­tan hat­te, es war im­mer noch bes­ser, als ta­ten­los und von trü­ben Ge­dan­ken ge­quält zu Hau­se zu sit­zen.

Per­si­cke, nach­dem er sich über­zeugt hat­te, die Frau war wirk­lich nicht zu Haus, klin­gel­te an der Nach­bar­tür, zu­fäl­lig an der Tür je­ner Frau Gesch, die dem Enno am Abend zu­vor mit ei­ner Lüge in die Woh­nung sei­ner Frau ge­hol­fen hat­te. Per­si­cke schob der Öff­nen­den das Jam­mer­ge­stell ein­fach in die Arme, sag­te: »Da! Küm­mern Sie sich um den Kerl, er ge­hört ja wohl hier­her!« Und ging.

Frau Gesch war fest ent­schlos­sen ge­we­sen, sich nie wie­der in die An­ge­le­gen­hei­ten der Klu­ges zu mi­schen. Aber so groß war die Ge­walt ei­nes SS-Man­nes und so ge­wal­tig die Angst je­des Volks­ge­nos­sen vor ihm, dass sie den Klu­ge wi­der­spruchs­los in ihre Woh­nung auf­nahm, an den Kü­chen­tisch setz­te und Kaf­fee und Brot vor ihn hin­stell­te. (Ihr Mann war schon zur Ar­beit ge­gan­gen.) Frau Gesch sah wohl, wie er­schöpft der klei­ne Klu­ge war, sie sah auch in sei­nem Ge­sicht, an dem zer­ris­se­nen Hemd, dem Schmutz­fleck am Man­tel die Spu­ren ei­ner dau­ern­den Miss­hand­lung. Da ihr der Klu­ge aber von ei­nem SS-Mann über­ge­ben war, so hü­te­te sie sich, eine ein­zi­ge Fra­ge zu stel­len. Ja, sie hät­te ihn eher vor ihre Woh­nungs­tür ge­setzt als eine Schil­de­rung des ihm Wi­der­fah­re­nen an­ge­hört. Sie woll­te nichts wis­sen. Wenn sie nichts wuss­te, konn­te sie auch nichts aus­sa­gen, nicht sich ver­plap­pern, nicht schwat­zen, konn­te sie sich also auch nicht in Ge­fahr brin­gen.

 

Der Klu­ge aß lang­sam kau­end das Brot, trank den Kaf­fee. Da­bei ran­nen di­cke Trä­nen des Schmer­zes und der Er­schöp­fung über sein Ge­sicht. Die Gesch warf schwei­gend von der Sei­te dann und wann einen be­ob­ach­ten­den Blick auf ihn. Dann, als er end­lich fer­tig ge­wor­den war, frag­te sie: »Und wo wol­len Sie nu hin? Ihre Frau nimmt Sie nicht wie­der auf, das wis­sen Se doch!«

Er ant­wor­te­te nicht, er starr­te nur vor sich hin.

»Und bei mir kön­nen Se auch nich blei­ben. Ers­tens mal er­laub­t’s der Ju­stav nich, und denn mag ich ooch nich al­lens vor Ih­nen ab­schlie­ßen. Wo wol­len Se also hin?«

Er ant­wor­te­te wie­der nicht.

Die Gesch sag­te hit­zig: »Denn setz ich Sie vor die Tür auf die Trep­pe! Gleich auf der Stel­le tu ich das! Oder?«

Er sag­te müh­sam: »Tut­ti – alte Freun­din …« Und wein­te schon wie­der.

»Jot­te­doch, so ’n Schmacht­lap­pen!«, sag­te die Gesch ver­ächt­lich. »Wenn ich im­mer gleich schlapp­ma­chen woll­te, wenn mir mal was schief­geht! Also Tut­ti – wie heißt sie denn rich­tig und wo wohnt sie?«

Nach län­ge­rem Fra­gen und Dro­hen er­fuhr sie, dass Enno Klu­ge Tut­tis ei­gent­li­chen Na­men nicht wuss­te, sich aber zu­trau­te, ihre Woh­nung zu fin­den.

»Na also!«, sag­te die Gesch. »Aber al­lein kön­nen Se so nich ge­hen, je­der Schu­po nimmt Sie fest. Ich bring Sie. Aber wenn die Woh­nung nicht stimmt, lass ich Sie auf der Stra­ße ste­hen. Ich hab kei­ne Zeit für lan­ges Rum­su­chen, ich muss ar­bei­ten!«

Er bet­tel­te: »Erst ’nen Au­gen­blick schla­fen!«

Sie ent­schied nach kur­z­em Zö­gern: »Aber nich län­ger als ’ne Stun­de! In ei­ner Stun­de nischt wie ab die Post! Da, le­gen Se sich aufs Kana­pee, ich deck Sie zu!«

Sie war noch nicht mit der De­cke bei ihm, da war er schon fest ein­ge­schla­fen. –

Der alte Kam­mer­ge­richts­rat Fromm hat­te Frau Ro­sen­thal selbst ge­öff­net. Er hat­te sie in sein Ar­beits­zim­mer ge­führt, des­sen Wän­de völ­lig mit Bü­chern be­deckt wa­ren, und hat­te sie dort in ei­nem Ses­sel Platz neh­men las­sen. Eine Le­se­lam­pe brann­te, ein Buch lag auf­ge­schla­gen auf dem Tisch. Der alte Herr trug jetzt selbst ein Ta­blett mit ei­nem Tee­känn­chen und ei­ner Tas­se, mit Zu­cker und zwei dün­nen Scheib­chen Brot her­zu und sag­te zu der Verängs­te­ten: »Erst früh­stücken Sie bit­te, Frau Ro­sen­thal, dann re­den wir!« Und als sie ihm we­nigs­tens ein Wort des Dan­kes sa­gen woll­te, mein­te er freund­lich: »Nein, bit­te wirk­lich erst früh­stücken. Tun Sie ganz so, als sei­en Sie hier zu Hau­se, ich tue es ja auch!«

Da­mit nahm er das Buch un­ter der Le­se­lam­pe wie­der auf und be­gann in ihm zu le­sen, wo­bei sei­ne freie lin­ke Hand ganz me­cha­nisch im­mer wie­der von oben nach un­ten den eis­grau­en Kinn­bart strich. Er schi­en sei­ne Be­su­che­rin voll­kom­men ver­ges­sen zu ha­ben.

All­mäh­lich kam wie­der ein biss­chen Zu­ver­sicht in die ver­ängs­tig­te alte Jü­din. Seit Mo­na­ten hat­te sie nur noch in Angst und Un­ord­nung ge­lebt, zwi­schen ge­pack­ten Sa­chen, stets ge­wär­tig des bru­tals­ten Über­falls. Seit Mo­na­ten kann­te sie we­der Heim noch Ruhe, noch Frie­den, noch Be­ha­gen. Und nun saß sie hier bei dem al­ten Herrn, den sie kaum je zu­vor auf der Trep­pe ge­se­hen; von den Wän­den sa­hen die hell- und dun­kel­brau­nen Le­der­bän­de vie­ler Bü­cher, ein großer Ma­ha­go­nisch­reib­tisch am Fens­ter, Mö­bel, wie sie sie selbst in der ers­ten Zeit ih­rer Ehe be­ses­sen, ein et­was ver­tre­te­ner Zwickau­er Tep­pich auf dem Fuß­bo­den. Und dazu die­ser le­sen­de alte Herr, der un­un­ter­bro­chen sein Zi­cken­bärt­lein strei­chel­te, ge­nau so ein Bärt­lein, wie es auch vie­le Ju­den ger­ne tru­gen, und dazu kam noch die­ser lan­ge Schlaf­rock, der ein we­nig an den Kaftan ih­res Va­ters er­in­ner­te.

Es war, als sei wie nach ei­nem Zau­ber­spruch die gan­ze Welt aus Schmutz, Blut und Trä­nen ver­sun­ken und sie lebe wie­der in der Zeit, da sie noch an­ge­se­he­ne, ge­ach­te­te Men­schen wa­ren, nicht ge­hetz­tes Un­ge­zie­fer, das zu ver­til­gen Pf­licht ist.

Un­will­kür­lich strich sie sich übers Haar, ganz von selbst nahm ihr Ge­sicht einen an­de­ren Aus­druck an. Es gab also doch noch Frie­den auf der Welt, so­gar hier in Ber­lin.

»Ich bin Ih­nen sehr dank­bar, Herr Kam­mer­ge­richts­rat«, sag­te sie. Selbst ihre Stim­me klang an­ders, fes­ter.

Er sah rasch hoch von sei­nem Buch. »Trin­ken Sie bit­te Ihren Tee, so­lan­ge er noch heiß ist, und es­sen Sie Ihr Brot. Wir ha­ben viel Zeit, wir ver­säu­men nichts.«

Und er las schon wie­der. Ge­hor­sam trank sie jetzt den Tee und aß auch das Brot, trotz­dem sie viel lie­ber mit dem al­ten Herrn ge­spro­chen hät­te. Aber sie woll­te ihm in al­lem ge­hor­sam sein, sie woll­te den Frie­den sei­ner Woh­nung nicht stö­ren. Sie sah sich wie­der um. Nein, all dies soll­te so blei­ben, wie es jetzt war. Sie brach­te es nicht in Ge­fahr. (Drei Jah­re spä­ter soll­te eine Spreng­mi­ne die­ses Heim in Ato­me zer­rei­ben, und der ge­pfleg­te alte Herr soll­te im Kel­ler ster­ben, lang­sam und qual­voll …)

Sie sag­te, in­dem sie die lee­re Tas­se auf das Ta­blett zu­rück­stell­te: »Sie sind sehr gü­tig zu mir, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, und sehr mu­tig. Aber ich will Sie und Ihr Heim nicht nutz­los in Ge­fahr brin­gen. Es hilft doch al­les nichts. Ich gehe in mei­ne Woh­nung zu­rück.«

Der alte Herr hat­te sie auf­merk­sam an­ge­se­hen, wäh­rend sie sprach, nun führ­te er die schon Auf­ge­stan­de­ne in ih­ren Ses­sel zu­rück. »Bit­te, set­zen Sie sich noch einen Au­gen­blick, Frau Ro­sen­thal!«

Sie tat es wi­der­stre­bend. »Wirk­lich, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, es ist mir ernst mit dem, was ich sage.«

»Hö­ren Sie mich bit­te erst an. Auch mir ist es ernst mit dem, was ich Ih­nen sa­gen wer­de. Was zu­erst die Ge­fahr an­langt, in die Sie mich brin­gen, so habe ich mein Leb­tag, seit ich im Be­ruf ste­he, in Ge­fahr ge­schwebt. Ich bin stets Kam­mer­rich­ter ge­we­sen, und man hat mich in ge­wis­sen Krei­sen nur den blu­ti­gen Fromm oder den Scharf­rich­ter Fromm ge­nannt.« Er lä­chel­te, als er ihr Zu­sam­men­schre­cken sah. »Ich war stets ein stil­ler und wohl auch sanf­ter Mensch, aber das Schick­sal hat es über mich ver­hängt, dass ich wäh­rend mei­ner Lauf­bahn ein­und­zwan­zig To­des­ur­tei­le ver­hän­gen oder be­stä­ti­gen muss­te. Ich habe eine Her­rin, der ich zu ge­hor­chen habe, sie re­giert mich, Sie, die Welt, selbst die Welt jetzt drau­ßen, und die­se Her­rin ist die Ge­rech­tig­keit. An sie habe ich im­mer ge­glaubt, glau­be ich heu­te noch, die Ge­rech­tig­keit habe ich al­lein zur Richt­schnur mei­nes Han­delns ge­macht …«

Wäh­rend er so sprach, ging er lei­se auf und ab im Zim­mer, die Hän­de auf dem Rücken, stets in Frau Ro­sent­hals Ge­sichts­feld blei­bend. Die Wor­te ka­men ru­hig und lei­den­schafts­los von sei­nen Lip­pen, er sprach von sich wie von ei­nem ver­gan­ge­nen, ei­gent­lich nicht mehr exis­tie­ren­den Mann. Frau Ro­sen­thal folg­te ge­spannt je­dem sei­ner Wor­te.

»Doch«, fuhr der Kam­mer­ge­richts­rat fort, »ich spre­che von mir, statt von Ih­nen zu spre­chen, eine üble An­ge­wohn­heit al­ler, die sehr ein­sam le­ben. Ver­zei­hen Sie, spre­chen wir noch ein Wort von der Ge­fahr. Ich be­kam Droh­brie­fe, man hat mich über­fal­len, es ist auf mich ge­schos­sen wor­den, zehn Jah­re, zwan­zig Jah­re, drei­ßig Jah­re … Nun, Frau Ro­sen­thal, hier sit­ze ich, ein alt ge­wor­de­ner Mann, und lese mei­nen Plut­arch. Ge­fahr be­deu­tet nichts für mich, sie ängs­tigt mich nicht, sie be­schäf­tigt nie mein Hirn oder Herz. Re­den Sie nicht von Ge­fah­ren, Frau Ro­sen­thal …«