Hans Fallada – Gesammelte Werke

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50

Wirk­lich, der Arzt war­te­te schon für mich – kaum war eine Stun­de ver­gan­gen, und reich­lich sieb­zig Pa­ti­en­ten wa­ren be­reits be­han­delt. Me­di­zi­nal­rat Dr. Stie­bing, im wei­ßen Ärz­teman­tel, lä­chel­te mir freund­lich ent­ge­gen, er for­der­te mich auf, Platz zu neh­men, und reich­te mir so­gar die Hand. War­tend, mit wach­sa­men Au­gen, stand der Ober­pfle­ger im Hin­ter­grund, kei­ne Be­we­gung, kein Wort ließ er sich ent­ge­hen. Ich fand es gut, dass er sah, mit wel­cher Aus­zeich­nung mich der Me­di­zi­nal­rat be­han­del­te, jetzt die­ser freund­li­che Empfang, vor­her die Ver­le­gung auf eine bes­se­re Zel­le – er wür­de sich schon in acht neh­men, mich zu hart zu be­han­deln.

»Also«, sag­te der Me­di­zi­nal­rat lä­chelnd, »nun sind Sie also doch bei mir ge­lan­det, Herr Som­mer. Vor vier­zehn Ta­gen hät­ten wir Sie noch in eine et­was kom­for­ta­ble­re Um­ge­bung ge­bracht, der Kol­le­ge Mans­feld und ich. Nun, nun, Sie wer­den es auch hier aus­hal­ten. Es ist ein or­dent­li­ches Haus, es wird Ih­nen hier schon Ihr Recht wer­den. Ein biss­chen Dis­zi­plin ist je­dem Men­schen gut, nicht wahr?«

Er war wirk­lich die Freund­lich­keit selbst. Gerührt dank­te ich ihm für den mir zu­ge­wie­se­nen bes­se­ren Schlaf­platz.

»Schon gut, schon gut«, wehr­te der Me­di­zi­nal­rat ab. »Was wir tun kön­nen, Ih­nen den Auf­ent­halt hier zu er­leich­tern, das wer­den wir schon tun. Na­tür­lich gibt es ge­wis­se un­um­stöß­li­che ei­ser­ne Haus­ge­set­ze …« Er sah mich mit ei­nem freund­li­chen Be­dau­ern an. Dann: »Und auch Sie wer­den al­les tun, um uns un­se­re Auf­ga­be zu er­leich­tern, nicht wahr, Herr Som­mer?«

Ich ver­si­cher­te es, ich frag­te, ob der Me­di­zi­nal­rat ein Gut­ach­ten über mich zu er­stat­ten habe?

»Nein, noch nicht«, sag­te er rasch. »Ich neh­me an, man wird ei­nes von mir an­for­dern, aber vor­läu­fig sind Sie mir nur zur Un­ter­brin­gung hier zu­ge­wie­sen, Herr Som­mer.«

»Aber dann dau­ert das al­les doch so lan­ge!«, rief ich kla­gend. »Wa­rum denn nicht so­fort die­ses Gut­ach­ten er­stat­ten? Der Fall liegt doch ganz klar. Es liegt doch nur eine klei­ne Be­dro­hung vor, und ich bin über­zeugt, dass Mag­da, dass mei­ne Frau aus­sa­gen wird, dass sie sich gar nicht von mir be­droht ge­fühlt hat. We­gen ei­ner sol­chen klei­nen Sa­che kann man mich doch nicht wo­chen­lang hier fest­hal­ten!« Ich hat­te im­mer erns­ter und im­mer über­zeu­gen­der ge­spro­chen, von vorn­her­ein woll­te ich klar­stel­len, ein wie großer Ab­stand zwi­schen mei­nem Fehl­tritt und der Un­ter­brin­gung hier be­stand.

»Aber, aber!«, rief der Arzt und leg­te mir be­ru­hi­gend die Hand auf den Arm. »Wa­rum denn so ei­lig? Erst ein­mal müs­sen Sie sich gründ­lich aus­ru­hen und wie­der ganz ge­sund wer­den …«

»Aber ich bin ganz ge­sund!«, ver­si­cher­te ich.

»Kein Schwin­del?«, frag­te der Arzt. »Kei­ne Schweiß­aus­brü­che? Kein Ap­pe­tit­man­gel und dann plötz­li­cher Heiß­hun­ger? Kei­ne Sehn­sucht nach Al­ko­hol?«

»Ich den­ke über­haupt nicht an Al­ko­hol!«, rief ich, ent­setzt über einen sol­chen ge­fähr­li­chen Ver­dacht. »Ich füh­le mich ganz ge­sund!«

»Also wirk­lich gar kei­ne Absti­nen­zer­schei­nun­gen?«, frag­te der Arzt zwei­felnd. »Nun, wie steht es da­mit, Ober­pfle­ger, ha­ben Sie et­was be­ob­ach­tet?«

Er­war­tungs­voll sah ich in das har­te dunkle Ge­sicht des Ober­pfle­gers. Er konn­te nicht das Ge­rings­te be­ob­ach­tet ha­ben, des­sen war ich si­cher.

»Ges­tern Abend«, be­rich­te­te der, »hat Som­mer drin­gen­den Hun­ger vor­ge­ge­ben und Abendes­sen ver­langt, dann hat er aber nur vier oder fünf Löf­fel da­von ge­ges­sen. Lexer be­haup­te­te heu­te be­stimmt, Som­mer habe eine Ra­sier­klin­ge in der Ta­sche ge­habt; wir ha­ben sie nicht fin­den kön­nen, aber im­mer­hin – im All­ge­mei­nen wa­ren sol­che An­ga­ben Lexers bis­her zu­ver­läs­sig. Som­mer ist auch die Ru­he­lo­sig­keit selbst, er kann nicht fünf Mi­nu­ten auf ei­nem Fleck sit­zen, sich mit nichts be­schäf­ti­gen, hat kei­ne Zei­tung an­ge­fasst …«

»Aber«, rief ich, em­pört und ent­setzt über eine sol­che ent­stel­len­de Mel­dung, »das hat doch al­les ganz an­de­re Grün­de. Das hat doch mit dem Al­ko­hol und Absti­nen­zer­schei­nun­gen über­haupt nichts zu tun. Wirk­lich, Herr Me­di­zi­nal­rat, ich den­ke über­haupt nicht an Schnaps …«

Der Me­di­zi­nal­rat und auch der Ober­pfle­ger, bei­de lä­chel­ten dünn.

»Aber wirk­lich!«, rief ich noch über­zeu­gen­der. »Ich habe einen sol­chen Schock durch mei­ne Ver­haf­tung und all die Fol­gen jetzt er­lit­ten: Nie in mei­nem Le­ben wie­der wer­de ich einen Trop­fen Al­ko­hol an­rüh­ren!«

»Das klingt schon bes­ser«, sag­te Dr. Stie­bing freund­lich und nick­te.

»Und wenn ich ges­tern die Kohl­sup­pe nur an­ge­ges­sen habe, so doch nur dar­um, weil mir sol­ches Es­sen ganz un­ge­wohnt ist. Si­cher«, setz­te ich ei­lig hin­zu, »war die Kohl­sup­pe sehr gut, aber zu Hau­se esse ich eben an­de­re Din­ge …«

Bei­de sa­hen mich so auf­merk­sam an.

»Und wenn ich ein biss­chen viel hin- und her­ge­lau­fen bin und kei­ne Ruhe ge­habt habe, so ist das in mei­ner Lage doch nur er­klär­lich. Wenn man eben über sein gan­zes Schick­sal im un­ge­wis­sen ist, wird man un­ru­hig. Über­haupt lau­fen alle Men­schen, die lan­ge war­ten müs­sen, auf und ab, das sieht man doch in je­dem War­te­zim­mer beim Zahn­arzt, auf den Gän­gen im Ge­richt …«

»Schon gut, schon gut«, un­ter­brach mich der Arzt, ich hat­te aber das Ge­fühl, dass ich ihn nicht über­zeugt hat­te, und dass er lan­ge nicht al­les »schon gut« fand. »Und was ist mit der Ra­sier­klin­ge? Die ha­ben Sie ja ganz über­gan­gen!«

Ich woll­te nicht rot wer­den – und doch … Nein, viel­leicht bin ich gar nicht rot ge­wor­den, bil­de es mir nur ein. Je­den­falls sag­te ich mit großer Fes­tig­keit: »Die Ra­sier­klin­ge habe ich nicht über­gan­gen, an die habe ich ein­fach nicht mehr ge­dacht. Ich habe hier nie eine Ra­sier­klin­ge ge­habt, wozu auch, wenn ich doch kei­nen Ap­pa­rat habe …« Vi­el­leicht stell­te ich mich zu sim­pel, viel­leicht dach­te auch der Arzt, dass der Be­schul­dig­te meist ge­gen eine ganz falsche Be­haup­tung am schärfs­ten pro­tes­tiert. Ich fand je­den­falls, dass schon die­se ein­lei­ten­de Be­spre­chung, bei der doch noch gar nicht von mei­ner Sa­che die Rede war, vol­ler Fal­len und Hin­ter­lis­ten steck­te.

Dem Arzt aber war nicht an­zu­se­hen, was er von mei­nen Wor­ten dach­te. Ganz freund­lich sag­te er: »Je­den­falls ha­ben Sie, wie ich ge­hört habe, vor noch gar nicht lan­ger Zeit mit Trin­ken an­ge­fan­gen, da wer­den die Absti­nen­zer­schei­nun­gen ja gar nicht so hef­tig ge­we­sen sein. Sie wa­ren ja vor­her auch noch in der Un­ter­su­chungs­haft …«

»Ja«, sag­te ich, »und je­den Tag habe ich dort auf dem Holz­hof ge­ar­bei­tet – ich habe mich frei­wil­lig zu die­ser Ar­beit ge­mel­det –, und fra­gen Sie je­den Wacht­meis­ter, ob ich nicht ge­nau­so viel wie je­der an­de­re ge­ar­bei­tet habe, und ich bin doch sol­che Ar­beit ei­gent­lich gar nicht ge­wöhnt.«

»Sie ha­ben dann aber ziem­lich kräf­tig ge­trun­ken?«, frag­te mich der Arzt und schi­en nicht ge­son­nen, nach der Güte mei­ner Holz­ar­beit Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen. »Man kann wohl sa­gen: sehr kräf­tig?«

»Ei­gent­lich nie mehr, als ich ver­tra­gen konn­te!«, ver­si­cher­te ich. »Ich habe nie ge­tau­melt, Herr Me­di­zi­nal­rat, und bin nie hin­ge­fal­len.«

Ei­nen Au­gen­blick muss­te ich an jene Sze­ne den­ken, wie ich mich im­mer wie­der un­ter Eli­nors Fens­ter am Dachrand hat­te hoch­zie­hen wol­len und im­mer wie­der rück­lings in die Bü­sche ge­stürzt war. Und gleich er­schi­en eine zwei­te Sze­ne vor mei­nem in­ne­ren Auge, die so­gar der Me­di­zi­nal­rat selbst be­ob­ach­tet hat­te, wie ich wirk­lich ziem­lich stern­ha­gel­voll mit ei­ni­gen eben­so be­trun­ke­nen Dorf­be­woh­nern ran­da­lie­rend am Schen­ken­tisch ge­ses­sen, wie ich beim Hin­aus­ge­hen fast ge­fal­len war, wie mich Dr. Mans­feld zum Auto hat­te füh­ren müs­sen … ›Das hät­te ich nicht be­haup­ten dür­fen‹, dach­te ich ver­zwei­felt. ›Das war falsch. Das ent­wer­tet mei­ne an­de­ren, wirk­lich ab­so­lut wah­ren Aus­sa­gen!‹ Aber ich ver­bot mir, dar­an zu den­ken, ich woll­te auch den Me­di­zi­nal­rat hin­dern, dar­über lan­ge nach­zu­den­ken, des­halb fuhr ich rasch fort: »Je­den­falls bin ich bei je­ner Sze­ne mit mei­ner Frau, die mir zu­erst als Mord­ver­such aus­ge­legt wor­den ist, bei kla­rem Be­wusst­sein ge­we­sen. Ich wuss­te ge­nau, was ich tat, und ich tat kein biss­chen mehr, als ich tun woll­te. Und ich hat­te vor­her wirk­lich ver­hält­nis­mä­ßig we­nig ge­trun­ken.«

»Ja, mein Lie­ber«, sag­te der Arzt, plötz­lich fast spöt­tisch lä­chelnd, »un­ser bei­der An­sich­ten von We­nig­trin­ken schei­nen ein we­nig weit von­ein­an­der ent­fernt. Zäh­len Sie mir doch mal auf, was Sie so im Durch­schnitt täg­lich ge­trun­ken ha­ben, so­weit Sie sich dar­an er­in­nern na­tür­lich.«

Ich dach­te an Mord­horst, und wie er mei­ne tö­rich­te Wahr­heits­lie­be ge­ta­delt hat­te, dass ich vor dem Rich­ter so ein­ge­hen­de An­ga­ben über mei­nen Schnaps­ver­brauch ge­macht hat­te. Ich über­leg­te, ob der Arzt wohl schon die­se Ak­ten zur Ein­sicht er­hal­ten hat­te, und ent­schied, dass das wohl kaum der Fall war, da noch kein Gut­ach­ten von ihm an­ge­for­dert war. Den­noch be­schloss ich, sehr vor­sich­tig zu sein, nicht zu viel zu schwin­deln, doch aber einen mög­lichst gu­ten Ein­druck zu er­zie­len. Bis­her hat­te ich kei­nen großen Er­folg mit mei­nen An­ga­ben ge­habt, das war klar. Al­les aber kam dar­auf an, von An­fang an einen gu­ten Ein­druck auf den Arzt zu ma­chen: Hat man bei ei­nem Men­schen erst ein­mal ge­won­nen, so ha­ben es nach­fol­gen­de, selbst ganz un­güns­ti­ge Nach­rich­ten schwer, die­sen ers­ten gu­ten Ein­druck zu er­schüt­tern. So über­leg­te ich, und so rich­te­te ich auch mei­ne Aus­sa­ge ein. Fast nie hät­te ich mehr als eine Fla­sche am Tage ge­trun­ken, aber meis­tens we­ni­ger … Was ich in der Schen­ke ver­zehrt, wüss­te ich nicht mehr so ge­nau, weil ich dort aus klei­nen Glä­sern und auch man­cher­lei durch­ein­an­der­ge­trun­ken, für an­de­re mit be­zahlt hät­te, gab ich an.

 

Der Arzt hör­te mei­nen et­was weit­schwei­fi­gen Be­richt, das Ge­sicht in die Hand ge­stützt, fast schwei­gend an, nur sel­ten eine kur­ze Fra­ge ein­wer­fend. Schließ­lich, als ich nichts mehr zu sa­gen wuss­te, sag­te er: »Wie ge­sagt, es ist noch kein Gut­ach­ten von mir ein­ge­for­dert, wir ha­ben uns erst ein­mal nur ein biss­chen un­ter­hal­ten, um ein­an­der ken­nen­zu­ler­nen. Ma­chen Sie sich aber von dem Ge­dan­ken frei, Som­mer« (Som­mer! Nicht mehr »Herr« Som­mer), »dass Ihre Be­rich­te über das Ge­we­se­ne Ihr Schick­sal in die­sem Hau­se ent­schei­dend be­ein­flus­sen kön­nen. Über Ihre Zu­kunft ent­schei­det al­lein Ihr Wil­le, stark zu sein und Ver­su­chun­gen wie den frü­he­ren zu wi­der­ste­hen …« Er sah mich ernst an.

Ich bin nicht sehr schlag­fer­tig, ja ich bin wohl ein et­was lang­sa­mer Den­ker, so nick­te ich eif­rig be­ja­hend und mei­nen Bes­se­rungs­wil­len be­teu­ernd. Erst zehn Mi­nu­ten spä­ter, in mei­nem Bett, wur­de mir klar, dass der Arzt mit die­sem Satz mei­ne Aus­sa­gen ei­gent­lich als Lü­gen ge­brand­markt hat­te – ach nein, nicht nur ei­gent­lich. Na­tür­lich hat­te er die Ak­ten schon in der Hand ge­habt und dort ge­le­sen, wie ich fast für je­den Tag ge­naue An­ga­ben über mei­nen Schnaps­ver­brauch ge­macht hat­te, sehr we­sent­lich hö­he­re An­ga­ben als heu­te. Aber da war es für den »gu­ten ers­ten Ein­druck« end­gül­tig zu spät.

Jetzt reich­te mir der Me­di­zi­nal­rat je­den­falls freund­lich die Hand und sag­te: »Also, wir spre­chen uns wie­der. Ich las­se Sie ho­len. Gute Nacht, Herr Som­mer!«

Ich woll­te schon ge­hen, da frag­te der Ober­pfle­ger: »Som­mer soll doch ar­bei­ten, Herr Me­di­zi­nal­rat?«

»Aber na­tür­lich wird er ar­bei­ten!«, rief der Me­di­zi­nal­rat. »Dann wird ihm die Zeit nicht lang, und das Grü­beln ver­geht ihm. Sie ha­ben doch selbst den Wunsch, zu ar­bei­ten, Sie eif­ri­ger Holz­hof­sä­ger!« (Also auch mei­ne Ar­beit auf dem Holz­hof kann­te er be­reits, ich muss­te hun­dert­mal vor­sich­ti­ger mit mei­nen An­ga­ben wer­den!) Ich ver­si­cher­te, dass ich kei­nen sehn­li­che­ren Wunsch hät­te. Ich hät­te da einen schö­nen großen Gar­ten vor der Mau­er ge­se­hen, viel­leicht könn­te ich in der Gärt­ne­rei be­schäf­tigt wer­den? Ich hät­te im­mer so viel Lust zur Gärt­ne­rei ge­habt!

Der Me­di­zi­nal­rat und sei­ne rech­te Hand sa­hen ein­an­der an und dann mich. Sie lä­chel­ten et­was dünn. »Nein, in die­ser al­ler­ers­ten Zeit möch­ten wir Sie bes­ser doch noch nicht ›drau­ßen‹ ar­bei­ten las­sen«, sag­te der Me­di­zi­nal­rat sanft. »Dazu müs­sen wir ein­an­der erst ein biss­chen bes­ser ken­nen­ler­nen …«

»Ach, Sie den­ken, ich lau­fe fort?«, rief ich ent­rüs­tet. »Aber, Herr Me­di­zi­nal­rat, wo­hin soll­te ich denn lau­fen, in die­ser Tracht, ohne Geld? Ich käme kei­ne zehn Ki­lo­me­ter weit …«

»Auch zehn Ki­lo­me­ter wä­ren schon zu viel«, un­ter­brach mich der Arzt. »Nun, Ober­pfle­ger?«

»Ich den­ke, ich ste­cke ihn zum Bürs­ten­ma­chen, da fehlt uns ge­ra­de ein Mann. Lexer kann ihn an­ler­nen …«

»Lexer?«, un­ter­brach ich den Ober­pfle­ger ent­setzt. »Ich bit­te Sie: bloß nicht Lexer! Wenn mir ein Mensch ver­hasst ist, so ist es die­ses klei­ne, wi­der­li­che, gel­len­de Biest! Al­les in mir dreht sich vor Ekel um, wenn ich die­se Stim­me nur höre … Al­les, was Sie wol­len, bit­te, nur nicht Lexer!«

»Ha­ben Sie auch drau­ßen schon an so hef­ti­gen An­ti­pa­thi­en ge­lit­ten, Som­mer?«, frag­te der Me­di­zi­nal­rat sanft. »Sie sind kaum vier­und­zwan­zig Stun­den in die­sem Haus und ha­ben schon einen sol­chen Hass auf einen ganz harm­lo­sen schwach­sin­ni­gen Ben­gel ge­fasst.«

Ich war ver­wirrt, ver­le­gen – schon wie­der hat­te ich einen Feh­ler be­gan­gen. »Es gibt doch so plötz­li­che An­ti­pa­thi­en, Herr Me­di­zi­nal­rat«, sag­te ich. »Man sieht einen Men­schen, hört nur sei­ne Stim­me, und schon …«

»Ja, ja«, un­ter­brach er mich und sah plötz­lich müde und trau­rig aus. »Wir re­den von al­le­dem noch spä­ter. Jetzt gute Nacht, Som­mer!«

51

Es war eine Nie­der­la­ge, eine schmäh­li­che Nie­der­la­ge, mit nichts war die Grö­ße die­ser Nie­der­la­ge vor mir zu be­schö­ni­gen. Ich war als ein Lüg­ner ent­larvt, ich hat­te Absti­nen­zer­schei­nun­gen und litt an krank­haf­ten plötz­li­chen An­ti­pa­thi­en. Ich dach­te viel­leicht auch an Flucht. In ohn­mäch­ti­ger Verzweif­lung lag ich in mei­nem Bett, ich hät­te wei­nen kön­nen vor Reue und Scham. So viel vor­aus­be­dacht und vor­aus­ge­sorgt und in jede Fal­le hin­ein­ge­tappt wie der ers­te dum­me, ge­hirn­lo­se Jun­ge!

Und es ist ja doch al­les gar nicht wahr, was sie von mir den­ken, rief ich ver­zwei­felt bei mir aus. Ich den­ke wirk­lich nicht an Flucht, und ich habe wirk­lich kei­ne Absti­nen­zer­schei­nun­gen ge­habt, oder nur an den al­ler­ers­ten zwei oder drei Ta­gen, und auch da nur ganz ge­ring.

Und wenn ich den Arzt ein we­nig über mei­nen Al­ko­hol­ver­brauch an­ge­schwin­delt habe, so doch nie in der Ab­sicht, ihn zu täu­schen. Er kam mit ei­ner vor­ge­fass­ten schlech­ten Mei­nung von mir hier­her, ei­ner Mei­nung, die den Tat­sa­chen nicht ent­sprach, es war eine Pf­licht der Selbs­t­er­hal­tung von mir, mit je­dem Mit­tel die­se vor­ge­fass­te Mei­nung zu zer­streu­en!

Aber ich moch­te mir was im­mer er­zäh­len, die Tat­sa­che blieb, dass ich eine schwe­re Nie­der­la­ge er­lit­ten hat­te, dass ich in den Au­gen von Arzt und Ober­pfle­ger wie ein klei­ner win­di­ger Spitz­bu­be da­stand, der sich mit al­len Knif­fen und Pfif­fen von sei­ner Schuld frei­schwin­deln will.

›Schuld?!‹, dach­te ich. ›Was habe ich denn groß für eine Schuld?! Dies biss­chen Be­dro­hung – Mord­horst hat ge­sagt, für eine Be­dro­hung kriegt man höchs­tens ein Vier­tel­jahr! Das ist gar nichts, das kann man über­haupt nicht rech­nen! Sie aber ma­chen einen Rie­sen­summs dar­aus, sie schlep­pen mich in Ge­fäng­nis und Heil­an­stalt, sie neh­men mir das »Herr« vor mei­nem Na­men Som­mer. Kohl­was­ser ge­ben sie mir als Fraß, und sie ver­an­stal­ten Ver­hö­re mit mir, als sei ich ein Mut­ter­mör­der und der letz­te der Men­schen! Ich bin ge­wiss, wenn sie mich nur fünf Mi­nu­ten mit Mag­da re­den lie­ßen, ich hät­te sie über­zeugt; ge­mein­sam trä­ten wir vor die­sen lä­cher­li­chen Staats­an­walt mit der vor­ge­scho­be­nen Un­ter­lip­pe und den star­ren­den Au­gen, und die­ser Kerl müss­te so­fort das Ver­fah­ren ge­gen mich ein­stel­len!‹

›A­ber‹, dach­te ich rasch und qual­voll wei­ter, ›a­ber es liegt auch an Mag­da! Wenn sie ein biss­chen von der Lie­be und Treue hät­te, die Ehe­gat­ten doch für­ein­an­der ha­ben sol­len, sie hät­te sich längst zum Be­such bei mir vor­ge­mel­det, sie setz­te Him­mel und Höl­le in Be­we­gung, um mich aus die­sem To­ten­haus her­aus­zu­be­kom­men! Nichts von al­le­dem! Nicht ein­mal einen Brief hat sie mir ge­schrie­ben. Aber ich weiß, wie es ist: Sie steckt mit den Ärz­ten un­ter ei­ner De­cke. Die er­zäh­len ihr, ich bin hier gut auf­ge­ho­ben und habe nichts aus­zu­ste­hen, und das ge­nügt ihr, da macht sie sich kei­nen ein­zi­gen Ge­dan­ken mehr über mich. Sie hat ih­ren Zweck er­reicht, wal­ten und schal­ten kann sie in mei­nem Ei­gen­tum, wie sie will – das ist ihr das Wich­tigs­te!

Aber war­te, ei­nes Ta­ges wer­de ich trotz al­ler Knif­fe und Pfif­fe wie­der aus die­sem Haus her­aus­kom­men, und dann sollst du se­hen, was ich al­les tun wer­de …‹

Und mit wil­der Wut stürz­te ich mich in Ra­che­fan­tasi­en. Ich ver­kauf­te das Ge­schäft hin­ter ih­rem Rücken, und wol­lüs­tig mal­te ich mir aus, wie sie ei­nes Mor­gens auf das Kon­tor kom­men wür­de, aber auf ih­rem – mei­nem – Platz hin­ter dem Chef­schreib­tisch wür­de der jun­ge Un­ter­neh­mer von der Kon­kur­renz sit­zen und ihr spöt­tisch ent­ge­gen­lä­cheln: »Nun, Frau Som­mer, auch einen klei­nen Ein­kauf in mei­ner Fir­ma tä­ti­gen? Zehn Kilo gel­be Vik­to­ria-Erb­sen ge­fäl­lig? Ein Kilo blau­en Mohn für den Sonn­tags­ku­chen?« Sie aber wür­de vor Scham und Zorn und Verzweif­lung dun­kel­rot wer­den, und ich sah das al­les, im großen Re­gis­tra­tur­schrank ver­steckt, mit frohlo­cken­dem Her­zen an.

Oder ich mal­te mir aus, wie ich nach mei­ner Ent­las­sung aus die­sem To­ten­haus in die wei­te Welt hin­aus­wan­dern wür­de, wie ich mich lan­ge Jah­re als Bett­ler und Stro­mer in frem­den Lan­den her­um­trei­ben und erst spät, für je­den un­kennt­lich, in mei­ne Va­ter­stadt heim­keh­ren wür­de. Da wür­de ich an der Tür mei­nes ei­ge­nen Hau­ses um ein Stück­chen Brot bet­teln, hart aber wür­de sie es mir ver­wei­gern. In der Nacht dann wür­de ich mich am Pflau­men­baum vor ih­rem Fens­ter er­hän­gen, einen Zet­tel in der Ta­sche, wer ich sei und dass ich ihr al­les mir an­ge­ta­ne Un­recht ver­zie­he …

Trä­nen der Rüh­rung über mein un­se­li­ges Schick­sal tra­ten mir jetzt in die Au­gen, und die­se Fan­tasi­en, so kin­disch sie auch wa­ren, be­ru­hig­ten mein Herz doch ein we­nig.

Längst schlie­fen mei­ne Ge­fähr­ten, die noch bis zum Dun­kel­wer­den mit­ein­an­der ge­plau­dert hat­ten, das heißt nur zwei von ih­nen, der drit­te, ein äl­te­rer Mann mit ei­nem schö­nen trau­ri­gen Ge­sicht und ei­ner wun­der­voll ge­wölb­ten ho­hen Stirn, hat­te so­fort die De­cke über den Kopf ge­zo­gen. Ich be­glück­wünsch­te mich zu den ru­hi­gen, an­stän­di­gen Schlaf­ge­nos­sen; ich merk­te es in die­ser Nacht: Sie hat­ten auch ein­an­der dazu er­zo­gen, den Kü­bel nur zum klei­nen Ge­schäft zu be­nut­zen und sich das an­de­re, läs­ti­ge für den Tag auf­zu­spa­ren. Ein klei­nes Ge­fühl von Dank­bar­keit reg­te sich wie­der in mir für den arg­lis­ti­gen Me­di­zi­nal­rat, dass er mir die­se so viel bes­se­re Schlaf­ge­le­gen­heit be­sorgt hat­te. Ich war über­zeugt da­von, dass ich mit den un­be­schol­tens­ten und ge­sün­des­ten Men­schen im gan­zen Bau zu­sam­men­ge­legt wor­den war.

Es dau­er­te frei­lich nur ein paar Tage, bis ich er­fuhr, dass der äl­te­re Mann mit der schö­nen Stirn und dem trau­ri­gen Ge­sicht, der den un­ge­wöhn­li­chen Na­men Qual führ­te, ein Mör­der war, der sei­nen Vet­ter we­gen Gel­des in ge­ra­de­zu bes­tia­li­scher Wei­se ab­ge­schlach­tet hat­te. Jetzt war sein Geist durch all die Qua­len, die er erst lan­ge Jah­re im Zucht­haus und nun hier in die­sem Haus er­lit­ten hat­te, völ­lig ver­wirrt. Bei ihm war je­den­falls sein Name sein Schick­sal, das ver­riet schon sein Ge­sicht.

Ta­ge­lang war er ganz stumm, und dann hat­te er wie­der Zei­ten, in de­nen er mit hei­te­rer, ho­her Stim­me (und doch im­mer fast ton­los, ganz ohne Re­so­nanz) vie­les er­zähl­te: vom aus­dör­ren­den Son­nen­gott, vom Glas­haus auf dem Mont­blanc, in dem die nächs­te Eis­zeit zu ver­brin­gen war, und von den Kas­ta­ni­en und Ei­cheln, die durch eine von ihm er­dach­te »Säf­teum­keh­rung« ess­bar wer­den wür­den. Da­durch wür­de un­se­re An­stalts­ver­wal­tung in die Lage ver­setzt wer­den, uns mit bes­se­rer Kost und doch ganz um­sonst zu er­näh­ren. (Wie bei uns al­len, kreis­ten auch bei Qual die Ge­dan­ken wohl ver­wirrt, doch un­abläs­sig um das biss­chen Fres­sen.)

Zu an­de­ren Zei­ten war Qual wie­der stumm oder streit­bar und reiz­süch­tig, dann gin­gen ihm alle weit aus dem Wege. Er stand in dem – viel­leicht ganz un­be­grün­de­ten – Ruf, ein »kal­ter Mör­der« zu sein, um ein ein­zi­ges Wort wür­de er je­den Men­schen um­brin­gen. Ich glau­be, dass die­ser Ruf ganz un­be­grün­det war; ich habe je­den­falls kein ein­zi­ges Mal er­lebt, dass er die Hand ge­gen einen an­de­ren er­ho­ben hät­te.

Qual hat­te einen wirk­lich großen Kum­mer: dass er sei­ner An­sicht nach nicht rich­tig Deutsch spre­chen und schrei­ben konn­te. Oft ver­si­cher­te er mir, er wür­de all sein Es­sen von ei­ner gan­zen Wo­che für das Buch »Lies und schreib rich­tig Deutsch« hin­ge­ben. Da­bei sprach er ein sehr viel bes­se­res und ge­wähl­te­res Deutsch als fast alle an­de­ren In­sas­sen im Bau, sei­ne flüs­tern­de und da­bei doch hei­te­re Sprech­wei­se ver­moch­te sei­nen Wor­ten so­gar eine Art von Ch­ar­me zu ver­lei­hen.

Wenn ich, für den er eine ge­wis­se Vor­lie­be ge­fasst hat­te, ihm das zur Be­ru­hi­gung sei­nes Kum­mers ver­si­cher­te, so sag­te er lä­chelnd: »Nein, nein, ich weiß, was ich weiß. Und da­bei hät­te ich so gut Deutsch ler­nen kön­nen, ›uns’ Mud­ding‹ sprach ein so rei­nes und schö­nes Deutsch, aber nie mit mir. Mit mir muss­te sie im­mer talt­schen und al­bern, sie ver­dreh­te je­des Wort auf die kin­dischs­te Wei­se. Das war sehr un­recht von ›uns’ Mud­ding‹; es hat mir im Le­ben viel ge­scha­det, dass ich kein gu­tes Deutsch sprach. Sie hät­ten mich auch nie fest­neh­men kön­nen, wenn ich rich­tig Deutsch ge­spro­chen hät­te – wie konn­ten sie mich über­haupt fest­neh­men? Wer gab ih­nen das Recht dazu?«

 

Die letz­ten Wor­te hat­te er schon fast un­hör­bar zu sich selbst ge­spro­chen, und nun hat­te sich sein kran­ker Geist wie­der in dem krau­sen Ge­spinst sei­ner wir­ren Ge­dan­ken ver­lo­ren; von mei­ner Ge­gen­wart wuss­te er nichts mehr.

Aber mit »uns’ Mud­ding« hat­te es Qual oft, im­mer hat­te er dann et­was an ihr aus­zu­set­zen: dass sie al­les weg­schenk­te, dass sie sich nie Ruhe gönn­te, dass sie über­haupt viel zu gut war. Aber alle die­se Aus­s­tel­lun­gen mach­te er mit ei­nem so hei­te­ren, leich­ten Ton, dass man ge­ra­de aus ih­nen die Lie­be des al­tern­den Man­nes zu der längst ge­stor­be­nen Mud­ding spür­te; er sprach mit ei­ner fröh­li­chen Über­le­gen­heit von ihr und blieb da­bei doch im­mer der ge­hor­sa­me Sohn ei­ner gu­ten Mut­ter.

Qual war der Sohn ei­nes Schlos­ser­meis­ters in ei­ner klei­nen hol­stei­ni­schen Stadt. Kurz vor dem Tode des Va­ters hat­te er, da­mals schon als Ge­sel­le in ihr ar­bei­tend, die Schlos­se­rei über­nom­men und als Meis­ter wei­ter be­trie­ben. Was ihn zu sei­ner bes­tia­li­schen Tat ge­trie­ben, weiß ich nicht. Das al­les lag schon zwei Jahr­zehn­te zu­rück, seit­dem leb­te Qual in fes­ten Häu­sern. Auch bei uns ar­bei­te­te er in der An­stalts­schlos­se­rei und ge­noss so­gar eine ge­wis­se Frei­heit. Nie sag­te ihm ein Be­am­ter ein Wort, er ver­lang­te al­ler­dings auch nie et­was, war mit al­lem zu­frie­den.

Ich sehe ihn, da ich dies schrei­be, wie­der auf sei­nem Bett lie­gen, wie er es in je­der frei­en Mi­nu­te tat – trotz des Ver­bots. Nie­mand sag­te ihm des­we­gen auch et­was, viel­leicht weil sei­ne hin­fäl­li­ge Schwä­che so sicht­bar war. Ne­ben dem Bett ste­hen sei­ne Pan­tof­feln, er hat die Knie leicht an­ge­zo­gen und stützt den Kopf mit der schön ge­wölb­ten Stirn in die Hand. Manch­mal sag­te er dann lang­sam, in tie­fe Ge­dan­ken ver­lo­ren, vor sich hin: »Ich be­kam ja kei­nen ein­zi­gen Auf­trag mehr, und Not kennt kein Ge­bot …«

Vi­el­leicht war wirk­lich Not der Schlüs­sel zu sei­ner Tat. Wie dem auch sei, ich habe den Mör­der Qual ger­ne ge­mocht. Es hat mir weh­ge­tan, als sie ihn ei­nes Ta­ges in den An­bau tru­gen, in die Ster­be­zel­le, in der die meis­ten von uns ihr Le­ben be­schlie­ßen wer­den. Er starb an der Tu­ber­ku­lo­se, der To­des­gei­ßel die­ses To­ten­hau­ses.