Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ich bin den Er­eig­nis­sen weit vor­aus­ge­eilt. Noch ste­he ich am ers­ten Tage mei­nes An­stalts­auf­ent­hal­tes, habe mei­ne Pell­kar­tof­feln noch ganz vor­nehm ohne Scha­len in mich hin­ein­ge­ges­sen und bin nun tod­mü­de nach der durch­wach­ten Nacht. Ich wen­de mich an den Ober­pfle­ger und bit­te ihn, mich eine Stun­de auf mein Bett le­gen zu dür­fen, ich hät­te die gan­ze Nacht nicht schla­fen kön­nen.

»Das ist ver­bo­ten!«, sagt der Ober­pfle­ger streng. Dann aber mil­der: »Also le­gen Sie sich hin. Aber zie­hen Sie sich aus und le­gen sich rich­tig ins Bett.«

Ich tue es, und kaum lie­ge ich, habe die Au­gen ge­schlos­sen, so er­klingt schon die ver­hass­te gel­len­de Stim­me. »Willst du Schwein wohl ma­chen, dass du so­fort aus dem Bett kommst! Das möch­test du Speck­jä­ger, nichts tun, wenn wir für dich ar­bei­ten müs­sen. Marsch, raus aus der Fal­le!«

Er hat­te mich auf­ge­stö­bert, der im­mer wa­che Spür­hund. Aber ich bin jetzt auch wü­tend, mein Hass gibt mir die Kraft zum Pro­test. »Hältst du so­fort das Maul!«, schreie ich wü­tend. »Du bist wohl mehr als der Ober­pfle­ger? Der hat’s mir er­laubt, und du Schwein …«

»Hat er’s dir er­laubt, hat er’s dir wirk­lich er­laubt?« gei­fert er grin­send und ent­blö­ßt sei­ne ver­färb­ten Hau­er. »Na, du musst ja was mäch­tig Fei­nes sein, dass der Ober­pfle­ger sol­che Aus­nah­men für dich macht! Nim­m’s nicht übel, Kum­pel, ich bin hier, da­mit Ord­nung ist auf der Sta­ti­on, sonst scheißt mich der Ober­pfle­ger an!« Da­mit ver­schwin­det er, und ich lege mich zu­rück, ganz zu­frie­den, dass ich end­lich ihn ein­mal her­ein­ge­legt habe.

Ich bin wirk­lich ein­ge­schla­fen, aber nur für we­ni­ge Mi­nu­ten, dann weck­te mich et­was. Es war wohl kein Geräusch, das mich weck­te, son­dern eher ein In­stinkt, der mich Ge­fahr wit­tern ließ: Ich bil­de­te in die­sem Haus den In­stinkt ei­nes ge­jag­ten Wil­des aus.

Ich lie­ge auf der Sei­te und sehe ge­ra­de auf den Sche­mel vor mei­nem Bett, auf den ich mei­ne Klei­der ge­legt habe. Ich blin­ze­le und sehe et­was Wei­ßes, das sich mit die­sen Klei­dern zu schaf­fen macht. Es ist schon wie­der der Lexer, ganz be­hut­sam, un­end­lich lei­se nimmt er ein Klei­dungs­stück von mir nach dem an­de­ren zur Hand, fährt in die Ta­schen, fühlt die Näh­te ab …

Mein ers­ter Im­puls ist, auf­zu­sprin­gen und mich auf die­sen Teu­fel zu stür­zen, die­sen nim­mer ru­hen­den Quäl­geist. Aber ich be­sin­ne mich, ich blei­be ru­hig lie­gen, ich be­ob­ach­te sein Tun. Lass ihn su­chen! Ich grin­se. Ich habe nicht das All­er­ge­rings­te in den Ta­schen, was sei­ne Be­gehr­lich­keit rei­zen könn­te. Nicht das All­er­ge­rings­te? Mir stockt das Herz, und wie­der möch­te ich auf­sprin­gen und ihm die Ra­sier­klin­ge ent­rei­ßen, die er nun doch ge­fun­den hat, so gut ich sie auch in eine alte Zei­tung ein­ge­wi­ckelt habe. Er wirft einen Blick auf mich. Ich drücke die Au­gen zu, ich schla­fe. Dann, als ich wie­der blin­ze­le, sehe ich, dass er die Klin­ge wie­der in die Zei­tung wi­ckelt und in mei­ne Ta­sche zu­rück­steckt. Dann ist er fort.

Ich aber habe die Ge­fahr be­grif­fen, sprin­ge mit ei­nem Satz aus dem Bett, su­che die Klin­ge her­vor und eile mit ihr auf das Klo. Ein Zug an der Spü­lung, und die Klin­ge ist un­auf­find­bar ver­schwun­den, die­se kost­ba­re Klin­ge, die mir den Weg in die Frei­heit öff­nen soll­te, wenn al­les an­de­re ver­sag­te. Eine Mi­nu­te spä­ter lie­ge ich wie­der im Bett. Nicht viel zu früh, gar nicht viel zu früh! Denn da steht schon der Ober­pfle­ger an mei­nem Bett und legt die Hand auf mei­ne Schul­ter. »Wa­chen Sie auf, Som­mer!«

Ich er­wa­che, ich hof­fe, ge­ra­de rich­tig, nicht zu leicht, nicht zu schwer.

»Ste­hen Sie auf, Som­mer!«

Ich tue es und ste­he nun im Hemd vor ihm.

»Som­mer, ha­ben Sie noch et­was Ver­bo­te­nes in Ihren Ta­schen?«

»Nein, Herr Ober­pfle­ger!«

»Sie wis­sen doch, dass al­les Schnei­den­de in die­sem Hau­se streng ver­bo­ten ist, zum Bei­spiel Ta­schen­mes­ser, Ra­sier­klin­gen, auch Na­gel­fei­len! Das wis­sen Sie doch?«

»Ja­wohl, Herr Ober­pfle­ger, das hat mir ei­ner ge­sagt.«

»Und Sie ha­ben nichts Ver­bo­te­nes in den Ta­schen?«

»Nein, Herr Ober­pfle­ger.«

Eine kur­ze Pau­se. Dann: »Som­mer, ich war­ne Sie noch im Gu­ten! Ge­ste­hen Sie, und ich will ein Auge zu­drücken. Sonst ste­cke ich Sie nach die­sem ers­ten Tag für vier Wo­chen in Ar­rest!«

»Ich habe nichts zu ge­ste­hen, Herr Ober­pfle­ger!«

»Schön. Dann dre­hen Sie mal Ihre Ta­schen um.«

Ich tue es, fan­ge mit der Ja­cke an, die be­wuss­te Ho­sen­ta­sche spa­re ich mir bis zu­letzt auf.

»Ma­chen Sie die Zei­tung aus­ein­an­der, Som­mer!«

Ich tue es. Nichts, wirk­lich nichts.

Der Ober­pfle­ger steht einen Au­gen­blick nach­den­kend, dann nimmt er mei­ne Klei­dungs­stücke, ei­nes nach dem an­de­ren, selbst un­ter Kon­trol­le, aber wie­der nichts. »Zie­hen Sie sich an, Som­mer.«

Ich tue es.

»So, und nun schi­cken Sie mir den Lexer her, Sie selbst blei­ben bis zur Frei­stun­de im Ta­ges­raum.«

»Ja­wohl, Herr Ober­pfle­ger!«

Ich habe ih­nen eine bild­schö­ne Ar­beit ge­macht; un­ter der Auf­sicht des Ober­pfle­gers ha­ben sämt­li­che Kal­fak­to­ren die gan­ze Zel­le Stück für Stück um­ge­dreht und durch­sucht. Man­cher­lei fan­den sie, aber kei­ne Ra­sier­klin­ge. Zum Schluss be­schimpf­ten sie den Lexer, sie ver­mu­te­ten ir­gend­ei­nen idio­ti­schen, sinn­lo­sen Schel­men­streich von ihm. Aber Lexer zu­min­dest hat’s ge­wusst, dass ich tat­säch­lich eine Ra­sier­klin­ge ge­habt hat­te. Ich hat­te ihn rein­ge­legt. Und selt­sam, ob­gleich ihn alle, vom Ober­pfle­ger an, be­schimpf­ten, hat­te er jetzt kei­ne Wut auf mich. Ich hat­te ihn rein­ge­legt, das im­po­nier­te ihm. Von da an band er nie wie­der di­rekt mit mir an, wenn er auch das Stän­kern nie ganz las­sen konn­te.

41

Der Nach­mit­tag war end­los. Die ein­zi­ge klei­ne Ab­wechs­lung war, dass wir zur »Frei­stun­de« nach drau­ßen ge­führt wur­den, für zwei Stun­den, von zwei Uhr bis vier Uhr nach­mit­tags. »Drau­ßen« war ein klei­ner Gras­gar­ten in­ner­halb der ho­hen Ge­fäng­nis­mau­ern, viel­leicht vier­hun­dert Qua­drat­me­ter groß, wo ein ein­zi­ger schma­ler Weg, ge­ra­de für zwei Men­schen breit ge­nug, um einen Gras­fleck lief. Die Son­ne schi­en, es war ein schö­ner Som­mer­tag. Aber was die Son­ne be­schi­en, war nicht schön.

Ich rede jetzt nicht von der Um­ge­bung, rote, nack­te oder mit to­tem, grau­em Ze­ment be­klei­de­te, sta­chel­be­wehr­te, hohe Mau­ern, die Git­ter an den Fens­tern, die blin­den Schei­ben – all das kann schon al­lein für sich den schöns­ten Som­mer­son­nen­tag sei­nes Glan­zes be­rau­ben. Der blaue Him­mel ist nicht für dich, Ge­fan­ge­ner, so blau; die Son­ne, Ge­fan­ge­ner, die doch dei­ne Haut wärmt, scheint nicht für dich. Dir fehlt die Wei­te der Land­schaft, nur zu Gas­te bist du bei Him­mel, fri­scher Luft und Son­ne, dei­ne Mi­nu­ten sind ge­zählt, Ge­fan­ge­ner. Dei­ne Welt ist das trü­be, düs­ter hal­len­de, tote Haus, in dem nie ein be­frei­tes La­chen klingt, fremd wur­dest du der Son­ne, Ge­fan­ge­ner.

Aber das al­les mei­ne ich hier nicht. Ich mei­ne die Ka­me­ra­den, die Lei­dens­ge­fähr­ten, die nun, der Däm­mer­nis ent­ris­sen, in ih­ren ent­färb­ten Lum­pen an der Wand leh­nen, auf ei­ner Bank hocken, und in Holz­pan­tof­feln oder bar­fuß den Sand­weg ent­lang­schur­ren. Wie das un­barm­her­zi­ge Son­nen­licht die­se Ge­sich­ter ent­schlei­ert, die nur noch wie fer­ne, ver­sun­ke­ne Erin­ne­run­gen an­mu­ten, Wehe und Trau­er, Tier und irre Verzweif­lung!

Ich schlie­ße die Au­gen, und ich sehe sie da wie­der ste­hen, hocken, schlur­ren, wie ich sie hun­dert­mal ge­se­hen habe und viel­leicht noch tau­send­mal se­hen wer­de.

Da ist ein lan­ger, schlott­ri­ger Mann, sein kurz ge­scho­re­ner, ei­sen­grau­er Kopf ist dicht mit blu­tig­ro­ten oder ei­tern­den Schweins­beu­len, wie man in die­sem Hau­se die Fu­run­kel nennt, be­deckt, sein stopp­li­ges Ge­sicht ist hart und kan­tig, und sei­ne dunklen, tief lie­gen­den Au­gen sind völ­lig ohne Licht.

Un­un­ter­bro­chen mur­melt die­ser Rhein­län­der, der wohl einst ein Stra­ßen­händ­ler war, vor sich hin: »Zwei Zent­ner Kanal­stra­ße 20, einen Zent­ner Mei­er, Trift­stra­ße 10, Ge­wer­be­po­li­zei, Ge­wer­be­po­li­zei …« Er hebt die Stim­me, er sieht zu den blin­den Git­ter­fens­tern em­por, auf Be­stel­lun­gen war­tend: »Pflanz­kar­tof­feln, Pflanz­kar­tof­feln, kauft Pflanz­kar­tof­feln!« Kei­ne Be­stel­lun­gen kom­men, er schüt­telt ver­zwei­felt den häss­li­chen Kopf und be­ginnt von Neu­em: »Zwei Zent­ner Kanal­stra­ße 20, einen Zent­ner …«

Fragt man ihn aber, wie viel wohl die Uhr ist, so sieht er nach dem Son­nen­stand und gibt dir ganz ver­nünf­tig und an­nä­hernd rich­tig Aus­kunft, be­ginnt aber mit dem letz­ten Wort der Aus­kunft sei­ne ewi­ge Li­ta­nei von vor­ne. »Pflanz­kar­tof­feln, Pflanz­kar­tof­feln, kauft Pflanz­kar­tof­feln!« Wie mir das noch in den Ohren klingt!

Und da ist je­ner an­de­re, den ich schon kurz er­wähnt habe, der Stim­men hö­ren­de Schi­zo­phre­ne, des­sen ar­men, trau­ri­gen Kopf der Blut­hund Lexer so un­barm­her­zig ge­gen das Ei­sen­git­ter schlug – er schlurft auf Pan­tof­feln, de­ren gan­zes hin­te­res Ende fehlt, rund­um, rund­um. Plötz­lich aber bleibt er ste­hen, er hebt den Arm, er droht ge­gen Him­mel, Mau­ern und Git­ter, aber er sieht Him­mel, Mau­ern und Git­ter nicht, er sieht einen un­sicht­ba­ren Feind, den er nun in der un­flä­tigs­ten Wei­se be­schimpft.

Er ist der ein­zi­ge Sach­se un­ter uns, und sei­ne Schimp­fe­rei­en er­fol­gen in ei­nem so un­ver­fälsch­ten Säch­sisch, dass die paar, die noch ein Fünk­chen Ver­stand ha­ben, lä­cheln. Aber es ist ei­gent­lich gar nichts zu lä­cheln, wenn die­ser ver­lo­re­ne Sohn aus gu­tem Hau­se den un­sicht­ba­ren Feind be­schimpft, dass er ihn hin­dert, den El­tern selbst al­les zu er­klä­ren. Wa­rum schiebt er sich im­mer da­zwi­schen, was soll die­se »ewje Men­ken­ke«? Kann der Sohn den El­tern nicht selbst al­les am bes­ten er­klä­ren?

 

Ich habe es doch ge­sagt, oder man hat es doch ver­stan­den, falls ich es nicht ge­sagt ha­ben soll­te, dass in die­sem dunklen Haus nur Kran­ke un­ter­ge­bracht sind, die sich ein­mal kri­mi­nell ver­gan­gen ha­ben? Hier gibt es Mör­der, Die­be, Sitt­lich­keits­ver­bre­cher, Ur­kun­den­fäl­scher, re­li­gi­ös Wahn­sin­ni­ge. Die meis­ten von ih­nen ver­büß­ten erst eine län­ge­re oder kür­ze­re Stra­fe, ehe sie hier­her­ka­men. Sie glaub­ten, nach der Stra­fe in die Frei­heit zu­rück­keh­ren zu kön­nen, und man brach­te sie in die­ses Kran­ken­haus mit Straf­an­stalt­s­cha­rak­ter, wie un­ser Ober­pfle­ger so schön sagt. Ihre Zu­rech­nungs­fä­hig­keit war ver­min­dert, es fehl­ten ih­nen die not­wen­di­gen Hem­mun­gen, sie wa­ren eine Ge­fahr für die Ge­mein­schaft: Die Pfor­ten der »Heil«-An­stalt schlos­sen sich hin­ter ih­nen für im­mer.

Der Arzt hat es mir spä­ter ein­mal selbst ge­sagt, dass von den sechs­und­fünf­zig Män­nern auf mei­ner Sta­ti­on noch kei­ne sechs die Aus­sicht hat­ten, je wie­der in das Le­ben da drau­ßen zu­rück­zu­keh­ren. Und wir hat­ten zwan­zig-, wir hat­ten sieb­zehn- und sech­zehn­jäh­ri­ge Jun­gen un­ter uns – für ein gan­zes Le­ben!

Auch die­ser schi­zo­phre­ne Sach­se aus gu­tem Hau­se hat­te wohl ein­mal eine Straf­tat be­gan­gen, die ihn von sei­nen El­tern trenn­te. Vi­el­leicht war er nur un­be­son­nen ge­we­sen, je­den­falls war er weich – er hat­te zu den El­tern ei­len, ih­nen al­les er­klä­ren wol­len. Da war er schon ver­haf­tet. Und die Jah­re ver­gin­gen, ei­nes nach dem an­de­ren, vie­le, und im­mer noch wa­ren die Ei­sen­git­ter zwi­schen ihm und den El­tern, zwi­schen sei­ner Schuld und der herz­be­frei­en­den Auss­pra­che. Er warf sich ge­gen sie, er ach­te­te es für nichts, dass ein ge­mei­ner Hund sein Ge­sicht blu­tig schlug, er kämpf­te Tag für Tag mit dem uns un­sicht­ba­ren Feind, im­mer ver­ge­bens, und Tag für Tag nahm er von Neu­em den Kampf auf.

Auch mit ihm konn­te man zwi­schen­durch ein ver­nünf­ti­ges Wort über die pri­mi­ti­ven Din­ge des Le­bens re­den, wie die Sup­pe ge­schmeckt hat­te, und wo der Hand­fe­ger lag. Er leis­te­te so­gar ein biss­chen Ar­beit; wie schon ge­sagt, feg­te er das Trep­pen­haus. Üb­ri­gens war die­ser Sach­se Lachs der­je­ni­ge, der die meis­ten Fress­pa­ke­te von Haus emp­fing; nur merk­te er lei­der nicht mehr, was er aß, ganz gleich, was der Ober­pfle­ger ihm in die Hand gab.

Ein drit­ter, viel re­den­der Mann war ein drah­ti­ger Kran­ker mit scharf ge­schnit­te­nem Ge­sicht und ei­ner schmal­rücki­gen Ad­ler­na­se: Er sah aus wie ein weiß­häu­ti­ger Ara­ber. Er litt un­ter dem Wahn, eine da­mals sehr hoch­ge­stell­te po­li­ti­sche Per­sön­lich­keit ei­nes Nach­bar­vol­kes zu sein, die we­gen ih­rer Un­be­denk­lich­keit, ja ge­ra­de­zu we­gen ih­rer Mord­lust einen schlech­ten Ruf ge­noss. Die­ser Kran­ke ging im­mer al­lein im Kreis rund­um, oder er lehn­te auch ge­gen den Zaun, der un­ser klei­nes Gras­vier­eck von dem großen Ge­fäng­nis­hof ab­schloss. Wenn er da so lehn­te, mach­te er ganz den Ein­druck, als habe er da von eh und je ge­stan­den; sei­ne ge­bleich­ten, ent­färb­ten Klei­der ver­schmol­zen im Son­nen­licht, und sicht­bar blieb nur die­ser einst kühn ge­we­se­ne Ara­b­er­kopf, der im­mer­zu lach­te und re­de­te, lach­te und re­de­te.

Das meis­te, was er lis­tig, mit ei­nem sar­do­ni­schen Ki­chern, vor sich hin schwätz­te, ist nicht wie­der­zu­ge­ben; er er­ging sich in lan­gen Aus­ma­lun­gen, wie er sei­nen Fein­den, weib­lich oder männ­lich, die Ge­schlechts­tei­le ab­schnitt, auf die ver­schie­dens­ten Ar­ten (die ge­nau aus­ge­malt wur­den) zu­be­rei­te­te und aß. Manch­mal aber er­ging er sich auch in Aus­füh­run­gen wie die­sen: »Es ist lo­gisch, dass man zu­erst in Lands­berg an der War­the die Prü­fung be­stan­den ha­ben muss, wenn man in Eng­land Feld­mar­schall wer­den will. An­ders geht es na­tür­lich nicht. Man trägt rechts einen ro­ten, links einen blau­en Lackstie­fel …«

Er wand­te sich um und ki­cher­te mich, selbst höchst be­lus­tigt, an. Und fuhr fort, war so­fort im Gan­ge, schoss die Fran­zo­sen mit Ma­schi­nen­ge­weh­ren zu­sam­men, und mach­te im sel­ben Atem An­mer­kun­gen über die maß­lo­sen Schwei­ne­rei­en der Tun­gu­sen-Jung­frau­en.1 Sein Hirn war un­un­ter­bro­chen be­schäf­tigt, das Un­ver­ein­bars­te zu ver­ei­nen, ge­wis­ser­ma­ßen reih­te er Ket­ten auf, bei de­nen eine alte Schuh­wichs­do­se ne­ben ei­nem Strau­ßen­fe­der­fä­cher hing. Mit die­sem Mann war kein ver­nünf­ti­ges Wort zu re­den, er hör­te gar nicht dar­auf, wenn man ihn an­sprach, son­dern re­de­te ru­hig fort oder schwieg auch.

Ein Mit­ge­fan­ge­ner er­zähl­te mir, dass die­ser »Ara­ber«, Schnie­mann mit Na­men, frü­her viel ver­nünf­ti­ger und auch noch zu rich­ti­ger Ar­beit fä­hig ge­we­sen sei. Er war mit den an­de­ren Au­ßen­ar­bei­tern in die Stadt auf eine Fa­brik ar­bei­ten ge­gan­gen. Dort hat­te er einen Flucht­ver­such ge­macht, war aber wie­der ein­ge­fan­gen wor­den. Da er sich mit ei­ner fast tie­ri­schen Verzweif­lung ge­gen sei­ne er­neu­te Fest­nah­me wehr­te, war ein hef­ti­ges Ge­tüm­mel um ihn ent­stan­den; da­bei hat­te ei­ner auf sei­nen Arm ge­tre­ten, und der Arm brach. Als er aus dem Kran­ken­haus zu­rück­kehr­te, war er so ver­wirrt wie jetzt; den Arm, der schlecht ge­heilt war, be­nutz­te er nicht mehr, stän­dig hielt er die Hand die­ses Arms in der Ta­sche. Auch dies gab sei­ner trau­ri­gen Ge­stalt eine un­ver­ge­ss­li­che, cha­rak­te­ris­ti­sche Note.

1 An­ge­hö­ri­ger ei­nes si­bi­ri­schen Volks­stam­mes <<<

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Die­se drei Ge­stal­ten, de­ren man üb­ri­gens rasch müde wur­de, da sie sich nie ver­än­der­ten, nie et­was Neu­es bei ih­rem Ge­re­de hin­zu­kam, wa­ren aber auch die Ein­zi­gen, die in der Frei­stun­de spra­chen, alle an­de­ren, an die zwan­zig Mann, wa­ren stumm, dös­ten vor sich hin oder gin­gen in ei­nem fins­te­ren Schwei­gen her­um. Sie er­schie­nen mir im­mer wie eine graue, farb­lo­se Mas­se, aus der sich nichts ab­zeich­ne­te. Wohl wa­ren sie nach Her­kunft, Al­ter, Aus­se­hen ver­schie­den ge­nug, ich kann­te alle ihre so ver­schie­de­nen Ge­sich­ter, aber da sie nie eine Mei­nungs­äu­ße­rung von sich ga­ben, da ich nie ir­gen­det­was Per­sön­li­ches von ih­nen er­fuhr, nicht ahn­te, was sie freu­te und be­trüb­te, da ich sie stän­dig in ei­nem mür­ri­schen und gleich­gül­ti­gen Schwei­gen da­hinve­ge­tie­ren sah, da es kei­ner­lei »Son­der­zü­ge« an ih­nen zu be­ob­ach­ten gab, tat ich sie in die Spar­te des Gleich­gül­ti­gen und In­dif­fe­ren­ten, von dem ich auch nichts be­rich­ten kann.

Eine Aus­nah­me hier­von mach­te al­lein ein Epi­lep­ti­ker, ein äl­te­rer Mann, mit dem ich gleich in den ers­ten Ta­gen einen Zu­sam­men­stoß hat­te, der im­mer mein Feind ge­blie­ben ist, denn er war im höchs­ten Gra­de reiz­bar und dann als hem­mungs­lo­ser Schlä­ger be­rüch­tigt, dem es auch auf einen Mord nicht an­ge­kom­men wäre.

Da ich nicht zu den Au­ßen­ar­bei­tern ein­ge­teilt wor­den war, brauch­te ich nicht zehn Mi­nu­ten vor sie­ben Uhr mor­gens auf dem Hof an­zu­tre­ten, und ich be­nutz­te die Zwi­schen­zeit bis zum Be­ginn mei­ner Ar­beit, um mich im Wasch­raum ein zwei­tes Mal und et­was gründ­li­cher zu wa­schen. Am frü­hen Mor­gen, wenn an fünf Wasch­be­cken in noch nicht zwan­zig Mi­nu­ten sich sechs­und­fünf­zig Ge­fan­ge­ne rei­ni­gen soll­ten, war an ir­gend­wel­che gründ­li­che Rei­ni­gung kein Ge­dan­ke. Man hielt den Kopf un­ter den lau­fen­den Was­ser­hahn, spül­te die Hän­de ab, und fer­tig war die Wä­sche für den Tag!

Den meis­ten Mit­ge­fan­ge­nen ge­nüg­te die­se flüch­ti­ge Rei­ni­gung auch voll­kom­men, Sei­fe spiel­te da­bei nur eine ge­rin­ge Rol­le, Zahn­bürs­ten be­sa­ßen nur zwei oder drei. Ein­mal in acht Wo­chen wur­de die gan­ze Sta­ti­on un­ter ein sehr pri­mi­ti­ves Brau­se­bad ge­führt und warm ab­ge­duscht, es gab aber vie­le, die sich mit List auch die­ser sel­te­nen gründ­li­che­ren Rei­ni­gung zu ent­zie­hen wuss­ten. Was mich an­geht, so konn­te ich mich noch nicht so­fort von den Ge­wohn­hei­ten ei­nes vier­zig­jäh­ri­gen Le­bens tren­nen (spä­ter wur­de ich auch gleich­gül­ti­ger).

Wie schon ge­sagt, hielt ich eine zwei­te, gründ­li­che­re Wa­schung nach dem Früh­stück ab, wenn die Sta­ti­on durch den Aus­zug der Au­ßen­ar­bei­ter ru­hi­ger ge­wor­den war. Um die­se Zeit feg­te der epi­lep­ti­sche äl­te­re Mann un­se­re Zel­le, und wenn ich vom Wa­schen zu­rück­kam, feg­te er sie noch im­mer, denn das ging nur lang­sam bei ihm, wenn auch nicht gründ­lich. Er sah es wohl schon mit schee­len Au­gen an, wenn ich mich an das Fens­ter stell­te und mei­ne Nä­gel in Ord­nung brach­te, ich ach­te­te aber auf den stum­men Be­sen­geist da­mals noch gar nicht. War ich fer­tig zum Fort­ge­hen zu mei­ner Ar­beit, so war auch er schon meist aus der Zel­le ver­schwun­den.

Nun ge­sch­ah es, dass ich beim et­was ei­li­gen Ver­las­sen der Zel­le die nach au­ßen ge­hen­de Tür et­was hef­tig auf­s­tieß und sie dem drau­ßen fe­gen­den Al­ten ge­ra­de an den Kopf schlug. Ich ent­schul­dig­te mich leb­haft und mit auf­rich­ti­gem Be­dau­ern; er murr­te fins­ter vor sich hin. Zwei oder drei Tage spä­ter drück­te ich die Tür zwar, vor­sich­ti­ger ge­wor­den, nur sach­te auf, aber sie traf doch wie­der den Kopf des di­rekt vor ihr Fe­gen­den! Eine Flut von Schimpf­wör­tern, un­ter de­nen »Idi­ot« noch das ge­rings­te war, er­goss sich über mich. Um­sonst mei­ne Ent­schul­di­gun­gen und Be­teue­run­gen, vor­sich­tig ge­we­sen zu sein – kaum ent­ging ich Schlä­gen.

So kann sich auch der Fried­fer­tigs­te Fein­de ma­chen, und die­ser Epi­lep­ti­ker blieb wirk­lich dau­ernd mein Feind, ob­gleich ich mei­ne Wasch­zeit, um al­len wei­te­ren Zu­sam­men­stö­ßen zu ent­ge­hen, ver­leg­te. Im­mer folg­te er je­dem Schritt von mir mit fins­te­ren, arg­wöh­ni­schen Bli­cken, und nur mei­ner äu­ßers­ten Be­hut­sam­keit ist es zu dan­ken, dass ein neu­er Zu­sam­men­stoß zwi­schen uns bis­her aus­ge­blie­ben ist. An ei­ner ab­ge­bis­se­nen Nase habe ich schließ­lich ge­nug!