Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Drei oder vier Tage habe ich noch in der Zel­le beim schimp­fen­den Düs­ter­mann ge­le­gen, habe arge Schmer­zen er­tra­gen und mein un­se­li­ges Schick­sal ver­flucht. Je­der Ge­dan­ke war mir ver­gan­gen, mich an Mag­da zu rä­chen oder die Schei­dung zu be­an­tra­gen, ich wäre froh ge­we­sen, hät­ten sie mich heim­ge­hen las­sen zu ihr. Ich wäre auf die Knie vor ihr ge­fal­len und hät­te sie um Ver­zei­hung ge­be­ten, und sie hät­te mich auf­neh­men kön­nen wie einen ver­ach­te­ten Skla­ven, es wäre mir recht ge­we­sen. Aber auch das war nur eine Stim­mung ge­we­sen, die nicht von Be­stand war. Mei­ne Ge­füh­le für Mag­da soll­ten sich noch man­ches Mal än­dern.



Den Holz­hof habe ich nie wie­der­ge­se­hen und auch nicht mei­nen Kum­pel Mord­horst. Selt­sam, in mei­ner Erin­ne­rung ist es mir heu­te, als sei­en es schö­ne, fried­li­che Stun­den ge­we­sen, die ich dort am Sä­ge­bock ver­bracht habe, mit mei­ner blau­en Ge­fan­ge­nen­ja­cke an­ge­tan, über mir die Kro­nen der Ap­fel- und Birn­bäu­me und den durch­sonn­ten Him­mel.



An ei­nem spä­ten Nach­mit­tag dann, ich war wie­der ganz über das Ge­schimp­fe des mör­de­ri­schen Brand­stif­ters Düs­ter­mann ver­zwei­felt, ras­sel­te zu ganz un­ge­wohn­ter Zeit das Schloss der Zel­len­tür, der Wacht­meis­ter kam her­ein und rief: »Som­mer, so­fort auf­ste­hen und Ihre Sa­chen pa­cken! Sie wer­den ent­las­sen!«



Ich fuhr hoch von mei­nem La­ger und starr­te den Wär­ter mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an. »Ent­las­sen?«, flüs­ter­te ich, und mein Herz poch­te stark. Also doch! Also doch!



»Ja, ent­las­sen«, sag­te er er­bar­mungs­los, »in die Heil­an­stalt. Los, los, Mann, pa­cken Sie Ihre Sa­chen zu­sam­men! Den­ken Sie, wir ha­ben so viel Zeit für Sie?«



»Ach so«, sag­te ich lang­sam und fing an zu pa­cken. »Ach so – in eine Heil­an­stalt.«



Der Düs­ter­mann sah mir scharf auf die Fin­ger, dass ich auch nichts von sei­nem kost­ba­ren Ei­gen­tum ein­pack­te, und da­bei re­de­te er auf den Wacht­meis­ter ein, wie froh er sei, dass ich fort­kom­me, ich sei der schlech­tes­te Zel­len­ge­nos­se von der Welt ge­we­sen, nie habe ich ein ver­nünf­ti­ges Wort ge­re­det, und mein Krach­ma­chen des Nachts sei ein­fach un­er­träg­lich ge­we­sen. Ich bin ohne ein Wort von ihm ge­gan­gen, ich habe ihn nicht ein­mal mehr an­ge­se­hen.



Un­ten, im Büro des In­spek­tors, stand ein frem­der Wacht­meis­ter, und er sah mich prü­fend an, und ich sah wohl, dass er bei mei­nem An­blick das Ge­sicht ver­zog. Ich trug noch mei­nen Na­sen­ver­band.



»Ja«, sag­te der In­spek­tor, »das ist der Mann, dem ein an­de­rer Ge­fan­ge­ner die Nase hat ab­bei­ßen wol­len. Sie ha­ben wohl da­von ge­hört, Wacht­meis­ter?«



Der hat­te da­von ge­hört.



Der In­spek­tor setz­te hin­zu: »Es ist aber so­weit ein ganz or­dent­li­cher, ru­hi­ger Mann, ich glau­be, Sie kön­nen ihm die Ket­te er­spa­ren, Wacht­meis­ter.«



»Nein, nein!«, sag­te der Wacht­meis­ter eif­rig. »Ich bin für den Mann ver­ant­wort­lich, nach­her läuft er mir fort …«



»Das tun Sie, Wacht­meis­ter, wie Sie es für rich­tig hal­ten«, sag­te der In­spek­tor wie­der. »Ich habe bloß mei­ne Mei­nung ge­sagt. Hö­ren Sie, Som­mer«, wand­te er sich nun an mich, »quit­tie­ren Sie hier mal, dass Sie all Ihre Sa­chen von uns zu­rück­er­hal­ten ha­ben. Ihr Geld schi­cken wir Ih­nen mit der Post nach …«



»Sen­den Sie es bit­te an mei­ne Frau«, sag­te ich mit plötz­li­chem Ent­schluss. »Ich brau­che kein Geld mehr.«



»Auch gut«, sag­te der In­spek­tor gleich­mü­tig, und da­mit war ich ent­las­sen.



Der Wacht­meis­ter leg­te mir das Kett­chen um das Hand­ge­lenk, und so bin ich denn durch mei­ne Va­ter­stadt zum Bahn­hof ge­führt wor­den, es hat mich aber nicht ge­niert. Wie ge­sagt, ich trug noch mei­nen Na­sen­ver­band; selbst Mag­da hät­te mich nicht er­kannt.



Ich sah man­chen auf der Stra­ße, mit dem ich mich sonst ge­grüßt hät­te, und man­cher oder man­che sah mich an, aber es be­traf mich al­les nicht mehr so recht. Als mein ei­ge­nes Ge­s­penst ging ich durch die Stadt, in der ich eins­tens ge­bo­ren wur­de, auf de­ren Gas­sen ich als Kind ge­spielt hat­te; auf der Bank dort drü­ben hat­te ich ein­mal mit Mag­da ge­ses­sen, da­mals trug sie noch einen Zopf, und wir hat­ten bei­de Schul­ta­schen un­ter dem Arm …



Nun gin­gen wir an mei­nem ei­ge­nen Ge­schäft vor­über, »Er­win Som­mer, Lan­des­pro­duk­te en gros und en détail« stand noch auf den Milchglas­schei­ben – wie lan­ge noch? Und am Kett­chen ge­führt, einen Hand­kof­fer in der frei­en Hand, ging der­sel­be Er­win Som­mer dar­an vor­bei, le­ben­dig und doch schon ge­stor­ben für all dies, noch gab es Spu­ren sei­nes Le­bens – wie lan­ge noch?



»Ich bin erst ein­und­vier­zig Jah­re alt«, sag­te ich zu mei­nem Trans­por­teur.



»Was mei­nen Sie denn da­mit?«, frag­te der jun­ge Be­am­te streng. »Was wol­len Sie denn da­mit sa­gen?«



»Ach, nichts wei­ter, Herr Wacht­meis­ter«, ant­wor­te­te ich. »Aber, wenn man mit ein­und­vier­zig Jah­ren bei le­ben­di­gem Lei­be schon tot und ge­stor­ben sein soll …«



»Ach was, ma­chen Sie sich doch nicht sol­che Ge­dan­ken«, sag­te der Wacht­meis­ter fried­lich. »In der Heil­an­stalt, wo­hin ich Sie brin­ge, ha­ben Sie es doch bes­ser als im Kitt­chen, und Sie ma­chen doch einen ganz ver­nünf­ti­gen Ein­druck, viel­leicht kom­men Sie auch noch mal wie­der raus. – Wis­sen Sie was?« fuhr er im­mer mensch­li­cher fort, »wenn wir nach­her im Zuge sit­zen, neh­me ich Ih­nen auch die Ket­te ab, und drau­ßen lege ich sie Ih­nen auch nicht wie­der an. Es ist doch bloß hier in der Stadt; man weiß doch nie, was euch Brü­dern plötz­lich durch den Kopf fährt.«



Ich schwieg. Er mein­te es gut, aber er ahn­te nicht, wie gleich­gül­tig mir das Kett­chen war. Aber er hat­te bei sei­nen un­ge­schick­ten Trost­ver­su­chen ein Wort ge­sagt, das mich in mei­ner nie­der­ge­drück­ten Stim­mung wie ein Blitz ge­trof­fen hat­te. »Vi­el­leicht kom­men Sie auch noch ein­mal wie­der raus«, hat­te er ge­sagt! Vi­el­leicht … auch noch ein­mal wie­der … Und ich hat­te mit ei­ner sechs­wö­chi­gen Un­ter­brin­gung zur Beo­b­ach­tung ge­rech­net, so hat­te mich Mord­horst be­lehrt. Vi­el­leicht … auch noch mal wie­der … War das nur so da­hin­ge­re­det von dem Wacht­meis­ter, oder wuss­te der Mann wirk­lich et­was? Er hat­te ja mei­ne Pa­pie­re! Na­tür­lich wuss­te er was: Ich soll­te ein­ge­sperrt wer­den auf Le­bens­zeit! Wirk­lich le­ben­dig ge­stor­ben, wie ich eben ge­fühlt hat­te. Wie ein Schlei­er lag es vor mei­nen Au­gen, und die Son­ne, durch die wir gin­gen, die al­len schi­en, mir schi­en sie nicht mehr. Nie wie­der schi­en sie mir. Oh, die­se Angst …




36



Wir wan­dern ge­mein­sam eine schö­ne Land­stra­ße ent­lang, der Wacht­meis­ter und ich. Von dem Kett­chen bin ich nun wirk­lich be­freit, das hat den Vor­teil, dass ich nun den gar nicht leich­ten Kof­fer mal rechts, mal links tra­gen kann. Der Wacht­meis­ter hat sich eine kur­ze Pfei­fe an­ge­brannt und hat auch mir gnä­dig die Er­laub­nis ge­ge­ben, zu rau­chen. Da ich aber nicht das ge­rings­te Rauch­ba­re be­sit­ze, hilft mir die­se Er­laub­nis nichts. Au­ßer­dem ging’s wohl schlecht mit der zer­bis­se­nen Nase.



An der Stra­ße ste­hen hohe, alte Kas­ta­ni­en­bäu­me, sie ha­ben schon aus­ge­blüht. Die Son­ne sinkt, ab und zu knarrt ein ver­spä­te­tes Heu­fu­der

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 an uns vor­bei. Die Leu­te wen­den kaum die Köp­fe nach uns, sie sind hier in der nächs­ten Nähe der Heil­an­stalt sol­che Trans­por­te längst ge­wöhnt. Höchs­tens, dass eine Frau ein­mal einen neu­gie­ri­gen Blick auf mein ver­bun­de­nes Ge­sicht wirft.



Der Wacht­meis­ter hat mich nach mei­nem »Ver­bre­chen« und nach mei­nem »Vor­le­ben« aus­fra­gen wol­len, aber ich habe ihm nur ein­sil­big geant­wor­tet. Da er aber ent­schlos­sen ist, uns den Weg durch ein Ge­spräch zu kür­zen, er­zählt jetzt er mir von sich, das heißt von ei­nem Gar­ten, den er mit sei­ner jun­gen Frau be­stellt. Und er möch­te nun so ger­ne noch ein an­gren­zen­des Stück Land dazu pach­ten und trägt mir nun, be­hag­lich er­wä­gend, alle Grün­de für und wi­der vor, das ge­rin­ge Ge­halt und die teu­re Pacht, den ver­un­krau­te­ten Bo­den, die zwei­fel­haf­te Ern­te – ach, es gibt ei­gent­lich nur Grün­de da­wi­der. Der Wacht­meis­ter stößt eine bläu­lich-weiß­li­che Ta­bak­wol­ke aus und sagt ab­schlie­ßend: »Also, ich pach­te das Stück un­ter al­len Um­stän­den. Ein Stück Land – das ist bes­ser als tau­send Mark auf der Spar­kas­se!«



Ich höre nur halb hin auf sein Ge­schwätz, und nur, als er jetzt zu sei­nem über­ra­schen­den Schluss kommt, lächle ich bit­ter. Mit sol­chen Stroh­köp­fen muss ich also nun um­ge­hen von jetzt an, und sie sa­gen ein­fach »Som­mer« zu mir, ohne »Herr«, und be­stä­ti­gen mir gü­tigst, dass ich »so­weit einen ganz ver­nünf­ti­gen Ein­druck« ma­che! Laut aber fra­ge ich: »Ist das die Heil­an­stalt?«



»Das ist sie«, ant­wor­tet der Wacht­meis­ter. »Und jetzt wol­len wir einen Schritt schnel­ler zu­ge­hen; es ist gleich Bü­ro­schluss, und der Obe­rin­spek­tor schimpft, wenn ich dann noch mit Ih­nen an­ge­kle­ckert kom­me!«



Von der Stra­ße aus ge­se­hen, macht die Heil­an­stalt kei­nen schlech­ten Ein­druck, mein Herz fängt et­was leich­ter zu schla­gen an. Auf ei­ner leich­ten An­hö­he ge­le­gen, von ho­hen, al­ten, reich­lau­bi­gen Bäu­men um­stan­den, liegt sie statt­lich da wie ein großes Schloss oder eine al­ter­tüm­li­che Burg. Gro­ße Fens­ter blin­ken im Licht der Abend­son­ne.



Aber als wir nä­her­kom­men, sehe ich die ho­hen ro­ten Mau­ern dar­um, oben noch mit Ei­sen und Sta­chel­draht be­wehrt, ich sehe auch die Git­ter­tral­jen

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 vor den großen blit­zen­den Fens­tern, und mein Beglei­ter hat es gar nicht nö­tig, mir er­klä­rend zu sa­gen: »Frü­her war dies ein­mal ein Zucht­haus.« Nein, das sehe ich auch so, dass dies nicht wie ein Kran­ken­haus, son­dern wie ein Zucht­haus aus­sieht.

 



Ein rich­ti­ger brei­ter Wall­gra­ben läuft um den gan­zen Kom­plex, fried­lich schwim­men En­ten und Gän­se auf ihm, aber auf der Brücke, die wir über­schrei­ten, steht ein be­waff­ne­ter Pos­ten in grü­ner Uni­form, und das Büro, in das ich ge­führt wer­de, ist kein biss­chen an­ders als das Ge­fäng­nis­bü­ro, aus dem ich vor an­dert­halb Stun­den ent­las­sen wur­de. So­gar die Be­am­ten drin schei­nen von ge­nau der glei­chen Art zu sein, der­sel­be ge­lang­weil­te, teil­nahms­lo­se und doch prü­fen­de Blick, der »die Neu­auf­nah­me« streift, die­sel­be lang­sa­me Um­ständ­lich­keit, mit der dem Trans­por­teur für mich quit­tiert wird, mit der mei­ne Per­so­na­li­en ein­ge­tra­gen wer­den.



An die­sem Abend gab es nur einen kur­z­en Licht­blick für mich: Ich war we­gen Mord­ver­suchs ver­haf­tet, we­gen Tot­schlag­ver­suchs hat­te der alte Amts­ge­richts­di­rek­tor mei­ne Über­wei­sung in eine Heil­an­stalt an­ge­ord­net, jetzt wur­de ich mit dem Ver­merk »we­gen Be­dro­hung« ein­ge­lie­fert. Ohne dass ich et­was dazu ge­tan hat­te, ver­min­der­te sich die Last des mir Vor­ge­wor­fe­nen be­stän­dig, einen Au­gen­blick sag­te ich mir, dass man un­mög­lich we­gen ei­nes so ge­rin­gen Ver­ge­hens mich län­ger hier­hal­ten, mir mein gan­zes Le­ben zer­stö­ren konn­te.



Aber dann, als ich wie­der hin­ter ei­nem mei­ner Füh­rer in grü­ner Uni­form mit ei­nem dick­li­chen, trau­ri­gen Ge­sicht über all die trost­lo­sen Stein­hö­fe ging, auf die nur ver­git­ter­te Fens­ter schau­ten, als ich in ei­nem Rie­sen­stein­kas­ten, durch zwei ei­ser­ne Tü­ren ge­las­sen, ein düs­te­res Trep­pen­haus hin­auf­stieg, als ich be­griff, dass das er­war­te­te Kran­ken­haus sich in nichts von ei­nem Ge­fäng­nis un­ter­schied, dass es hier wie dort Git­ter gab und Wacht­meis­ter und ei­ser­ne Dis­zi­plin und blin­den Ge­hor­sam, da dach­te ich nicht mehr an den großen Schritt, den ich vom Mord­ver­such bis zur Be­dro­hung ge­macht hat­te, da glaub­te ich nicht mehr an ein ge­rin­ges Ver­ge­hen – da hielt ich al­les für mög­lich, da fühl­te ich, wie hilf­los ich großen Mäch­ten ohne Gna­de aus­ge­lie­fert war, Mäch­ten, die kein Herz ha­ben, die kein Mit­leid ken­nen, die nichts Men­sch­li­ches ha­ben. In eine große Ma­schi­ne war ich ge­ra­ten, und nichts be­deu­te­te es mehr, was ich tat oder fühl­te, die Ma­schi­ne lief un­ab­än­der­lich ih­ren Lauf, ich moch­te wei­nen oder la­chen, das merk­te die Ma­schi­ne gar nicht!



1 La­dung ei­nes Heu­wa­gens

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2 (franz.) ›trail­la­ge‹: Git­ter­werk, Git­ter­stä­be

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Ein Ei­sen­git­ter und noch ein Ei­sen­git­ter, und nun tre­ten wir auf einen lan­gen, düs­tern Gang, der voll steht von fah­len Ge­stal­ten. Es stinkt hier, stinkt durch­drin­gend nach Ab­ort, nach Kohl, nach schlech­tem Ta­bak. Hin­ter dem Gang­fens­ter drau­ßen ver­glüht das letz­te Aben­d­rot. Ich sehe über die hohe, ei­sen­spie­ßi­ge Mau­er hin­weg in das fried­lich-abend­li­che Land mit Wie­sen und schon lang­sam rei­fen­den Fel­dern, bis fern am Ho­ri­zont zum nied­ri­gen Wald­strei­fen. Um mich ste­hen schwei­gend die fah­len Ge­stal­ten, leh­nen an den Wän­den. Ich kann manch­mal ein Stück von ih­rem Ge­sicht er­ken­nen, wenn die Glut in ih­rer Pfei­fe auf­leuch­tet.



Ein Mann, ein un­ter­setz­ter, kräf­ti­ger Mann in wei­ßer Ja­cke, holt mich in einen Ver­schlag am Ende des Gan­ges, sein Hei­lig­tum, »der Glas­kas­ten«, wie die­ser Ver­schlag ge­nannt wird. Von die­sem Glas­kas­ten aus kann der Stäm­mi­ge, der »Herr Ober­pfle­ger« ti­tu­liert wird, al­les be­ob­ach­ten, was auf dem Gang ge­schieht, und er be­ob­ach­tet sehr scharf, wie ich noch er­fah­ren soll. Er sieht so­gar Din­ge, die er gar nicht se­hen kann, er weiß, was in den Zel­len ge­schieht, er kennt al­les, was bei der Ar­beit pas­siert – er ist das stren­ge Ge­wis­sen der Sta­ti­on 3, der Nach­rich­ten­dienst des Arz­tes.



»Set­zen Sie Ihren Kof­fer erst ein­mal hier ab, Som­mer«, sagt der Ober­pfle­ger zu mir. »Mor­gen früh gebe ich Ih­nen An­stalts­zeug, Zi­vil ist hier ver­bo­ten. Und jetzt zei­ge ich Ih­nen Ihr Bett, es ist Schla­fens­zeit, hier wird um halb acht Uhr abends ins Bett ge­gan­gen, mor­gens um drei­vier­tel sechs Uhr ste­hen wir aber auch schon wie­der auf …«



»Darf ich viel­leicht noch um et­was Abendes­sen bit­ten?«, fra­ge ich. »Ich habe dort kei­nes be­kom­men …« Ich habe er­war­tet, dass ich ein »Nein« höre, wie da­mals bei mei­ner ers­ten Ein­lie­fe­rung ins Ge­fäng­nis. Ich habe ei­gent­lich gar nicht fra­gen wol­len, ich habe es doch nun ge­lernt: Ein Ge­fan­ge­ner darf nichts sa­gen, nichts fra­gen, nichts bit­ten.



Aber – o Wun­der – der Ober­pfle­ger nickt mit dem Kopf und sagt: »Das sol­len Sie ha­ben, Som­mer. Set­zen Sie sich so­lan­ge in den Ta­ges­raum.«



In den Ta­ges­raum wer­de ich ge­setzt, es ist ein lan­ger, drei­fenst­ri­ger Raum, der nichts ent­hält wie ab­ge­scheu­er­te, ein­mal weiß la­ckiert ge­we­se­ne Holz­ti­sche, pri­mi­ti­ve Holz­bän­ke ohne Leh­ne und eine Art Kü­chen­uhr an der Wand. Ich set­ze mich auf eine Bank – die Kü­chen­uhr zeigt kurz nach halb acht Uhr.



Drau­ßen er­tönt der Ruf: »Schla­fen ge­hen! Sa­chen raus!« Ein hef­ti­ges Ge­schlur­fe be­ginnt (wie un­glaub­lich viel Men­schen auf die­ser einen Sta­ti­on schon zu le­ben schei­nen), Tü­ren schla­gen; in ei­nem Ne­ben­raum, in dem wohl die Ab­or­te un­ter­ge­bracht sind, be­ginnt un­un­ter­bro­chen Was­ser zu rau­schen. Halb acht Uhr und ins Bett, wie die Kin­der, frü­her als die Kin­der!



Wie wer­de ich die­se Nacht hin­brin­gen? Wie die sechs­und­drei­ßig Näch­te der Beo­b­ach­tungs­zeit? Und viel­leicht vie­le, vie­le Näch­te da­nach? Die un­end­li­che Län­ge ei­ner end­lo­sen Zeit, in der nichts ge­schieht, legt sich wie ein Blei­ge­wicht auf mich. Die­ser kah­le Raum, in dem nichts als das Al­ler­not­wen­digs­te ist, er­scheint mir wie ein Ab­bild mei­nes künf­ti­gen Le­bens. Nichts mehr zu er­war­ten, nichts mehr zu wün­schen, nichts mehr zu hof­fen … Le­ben und war­ten, ein Le­ben, das sich nur auf das Künf­ti­ge rich­tet, in dem jede Stun­de leer ist, und auch das Künf­ti­ge wird leer sein …



Eine Alu­mi­ni­um­schüs­sel wird vor mich hin­ge­stellt, ein Löf­fel da­zu­ge­legt … Ein klei­ner Mensch in schmut­zi­ger Lei­nen­ja­cke ist es, der das tut. Sein Ge­sicht ist häss­lich, und es wird be­son­ders häss­lich da­durch, dass ihm vor­ne im Ober­kie­fer alle Zäh­ne feh­len, bis auf die bei­den hau­er­ar­ti­gen, gelb­schwärz­lich ver­färb­ten Eck­zäh­ne. Der Mann sieht wie ein bö­ses Tier aus. »Was bist denn du für ei­ner?«, fragt er mit ei­ner fre­chen, ho­hen Stim­me. »Wo­her kommst du? Was hast du aus­ge­fres­sen? Was ist mit dei­ner Nase pas­siert?«



Ich ant­wor­te ihm gar nicht, schwei­gend be­gin­ne ich, in der Alu­mi­ni­um­schüs­sel zu löf­feln. Es ist nichts wie Was­ser und Kohl, war­mes ge­sal­ze­nes Was­ser mit we­nig Kohl. »Ist das euer Abendes­sen?«, fra­ge ich. »Gar kein Brot?«



Um mich schlei­chen, ob­wohl doch jetzt Schla­fens­zeit ist, schon meh­re­re Ge­stal­ten, in ei­ner bräun­li­chen, ver­schlis­se­nen Tracht, die bei man­chen völ­lig zer­lumpt ist …



Der Klei­ne mit den Hau­er­zäh­nen lacht schrill auf. »Ob das un­ser Abendes­sen ist?« lacht er böse. »Das fragt der? Der denkt wohl, für ihn wird be­son­ders ge­kocht! Der denkt, er ist in ein Re­stau­rant ge­kom­men! Der ist so fein, der re­det nicht mit un­serei­nem! Gar kein Brot, sagt der!« Er lacht noch ein­mal, und plötz­lich ist al­les still.



Sechs, sie­ben Ge­stal­ten sind es jetzt schon, die um mich schlei­chen, an den Wän­den leh­nen, stumm. Ich lege den Löf­fel in die Schüs­sel zu­rück – was hat es für Zweck, sich den Bauch mit war­mem Was­ser zu fül­len? Ich ste­he auf, ma­che einen Schritt nach der Tür hin. Im glei­chen Au­gen­blick ent­steht in mei­nem Rücken Ge­tüm­mel. Sie ha­ben sich auf mei­ne kaum halb ge­leer­te Schüs­sel ge­stürzt, sie kämp­fen um sie wie die Tie­re. Un­ter­drück­te Aus­ru­fe wer­den laut … das klat­schen­de Geräusch von Schlä­gen … O du mein lie­ber Gott, sie prü­geln sich um einen hal­b­en Li­ter hei­ßes Kohl­was­ser wie die Tie­re!



Da, ein tri­um­phie­ren­des, ho­hes, gel­len­des Ge­wie­her! Das ist der Klei­ne mit den Hau­er­zäh­nen – er ist Sie­ger ge­wor­den!



»Wollt ihr ma­chen, dass ihr fort­kommt! Ich mel­de euch beim Ober­pfle­ger! Ich habe dem Neu­en die Schüs­sel ge­bracht, mir ge­hört sie! Nicht wahr, Neu­er, du gibst mir dein Es­sen?«



Ich ma­che, dass ich aus der Tür kom­me, ich ste­he wie­der auf dem Gang beim Glas­kas­ten.



Der Ober­pfle­ger kommt her­aus. »Na, dann kom­men Sie mal mit, Som­mer. Ist Ihr Ver­band noch in Ord­nung? Mor­gen früh sehe ich ihn nach.«



Auf dem lan­gen Gang lie­gen jetzt vor je­der Zel­len­tür Klei­der­bün­del. »Sie le­gen Ihre Klei­der dann auch vor die Tür, nur Ihr Hemd dür­fen Sie drin be­hal­ten.«



»Darf ich mir nicht einen Schlaf­an­zug aus mei­nem Kof­fer ho­len?«



»Schlaf­an­zug, Nacht­hemd – so et­was gibt es hier nicht. Sie be­kom­men ein an­stän­di­ges An­stalts­hemd, das reicht eine Wo­che.«



Wir tre­ten in eine lan­ge, schma­le Zel­le, die Luft ist schon jetzt er­sti­ckend, stin­kend. Acht Bet­ten ste­hen in dem en­gen Raum, vier un­ten, vier dar­über ge­baut. »Sie ha­ben das Bett un­ten rechts am Fens­ter. Ma­chen Sie es rasch zu­recht und le­gen Sie Ihre Sa­chen vor die Tür. Es ist so­fort Ein­schluss.«



Hin­ter mir schlägt die Tür zu, ich gehe zu mei­nem Bett hin. Ich füh­le vie­le Au­gen mus­ternd auf mich ge­rich­tet, aber nie­mand sagt ein Wort. Das Bett ist bes­ser als im Ge­fäng­nis. Es gibt hier kei­nen Stroh­sack, son­dern rich­ti­ge Ma­trat­zen, stein­har­te, aber es liegt sich bes­ser dar­auf. Es gibt auch ein La­ken und eine schö­ne, wei­ße Woll­de­cke, die ich un­ge­schickt ge­nug in einen Be­zug ste­cke. Auch ein Kopf­keil ist da. Die Bett­wä­sche ist blau ge­wür­felt. Ich füh­le bei all mei­nem Tun die mus­tern­den Au­gen auf mir, aber kein Mensch sagt ein Wort. Ei­lig schlüp­fe ich aus mei­nen Klei­dern, bün­de­le sie un­ge­schickt ge­nug zu­sam­men und lau­fe im Hemd wie­der zu mei­nem Bett. Ich krie­che hin­ein, dicht über mir ist der Bret­ter­bo­den des obe­ren Bet­tes, ich kann nicht auf­recht sit­zen. Das Bett über mir scheint leer. Ich wick­le mich fest in mei­ne De­cken, stre­cke mich lang aus. In mei­nem Ma­gen kul­lert un­an­ge­nehm das war­me Kohl­was­ser.



Eine Stim­me sagt laut: »Sagt nicht ein­mal Gu­ten Abend und stellt sich nicht vor. So ein Schleim­schei­ßer!« Bei­stim­men­des Ge­mur­mel wird laut.



Ich fah­re in mei­nem Bett hoch – ich darf es mit die­sen Leu­ten nicht schon am ers­ten Abend ver­der­ben. Ich habe von mei­nem ge­spann­ten Ver­hält­nis mit Düs­ter­mann ge­nug. Ich habe mir den Kopf kräf­tig an den Bret­tern des obe­ren Bet­tes ge­sto­ßen.



Die bei­den in den Bet­ten drü­ben, die es ge­se­hen ha­ben, la­chen. Der eine ruft: »Hat sich den Dez ein­ge­rannt!« in den Schlaf­saal. Und der an­de­re: »Hat sei­ne schö­ne Tuch­ho­se ganz ver­würgt ins Jackett ge­stopft, der muss noch viel ler­nen, der Speck­jä­ger, der!« Wie­der bei­stim­men­des Ge­mur­mel.



Ich krie­che aus mei­nem Bett. »Mei­ne Her­ren«, sage ich, »ent­schul­di­gen Sie, wenn ich mich falsch be­nom­men habe, ich woll­te Sie nicht krän­ken. Wenn ich nichts ge­sagt habe, so dar­um, weil mir vor­kam, als schlie­fen ei­ni­ge schon …«



Eine Stim­me aus ei­nem Ober­bett ruft: »Das ist der Zie­se, der ist taub­stumm, der hört doch nichts!«



Ich fah­re eif­rig fort: »Ich bin all das hier noch nicht ge­wohnt. Ich war nur gut vier­zehn Tage in Un­ter­su­chungs­haft. We­gen Mord­ver­suchs an mei­ner Frau …«



Bei­stim­men­des, sehr viel wohl­wol­len­de­res Ge­mur­mel. Ich habe rich­tig ge­tippt: Mord­ver­such macht hier bes­se­ren Ein­druck als Be­dro­hung.



»Ich hei­ße Er­win Som­mer, habe ein Pro­duk­ten­ge­schäft und bin hier nur sechs Wo­chen zur Beo­b­ach­tung …«



»Dann pass man gut auf, dass kei­ne sechs Jah­re dar­aus wer­den!«, ruft eine la­chen­de Stim­me. »Der Me­di­zi­nal­rat hat uns alle so lieb, der will kei­nen von uns ent­beh­ren.« Wie­der La­chen, aber das Eis ist ge­bro­chen, der schlech­te Ein­druck wie­der­gut­ge­macht.



Ich gehe von Bett zu Bett und höre die Na­men: Bull, Mei­er­hold, Bra­cho­wi­ak, Mar­quardt, Hei­ne und Drä­ger. Ich wer­de sie nie be­hal­ten, be­son­ders, weil es un­ter­des fast dun­kel ge­wor­den ist und ich die Ge­sich­ter der ein­zel­nen in ih­ren Bett­kis­ten nicht mehr er­ken­nen kann. Dann krie­che ich in mein Bett zu­rück.

 



Eine Stim­me ruft: »Du, Neu­er, er­zähl mal, wie du zu dem Ding mit dei­ner Frau ge­kom­men bist.«



Eine an­de­re ruft hit­zig: »Halt dei­nen Sab­bel, Drä­ger! Musst du im­mer so neu­gie­rig sein? Über­lass doch dem Mann, was er er­zäh­len will! Du möch­test dich ja doch nur mor­gen im Glas­kas­ten beim Ober be­liebt ma­chen!«



Ein hit­zi­ger Streit be­ginnt, wer der »Ohr­wurm« des Ober­pfle­gers ist. An­de­re Bet­tin­sas­sen grei­fen ein, ein wüs­tes Ge­schimp­fe wird laut. Ich bin froh, dass sie mich we­nigs­tens zu­frie­den­las­sen. Ich bin müde, mei­ne Nase schmerzt sehr. Gera­de fängt der Streit we­gen Man­gels an Stoff an ab­zu­flau­en, da wird drau­ßen auf dem Gang Ge­schimp­fe laut, klat­schen­des Geräusch wird laut, Ge­jam­mer. Un­se­re Zel­len­tür fliegt auf, eine Ge­stalt fliegt hin­ein.



Eine kräf­ti­ge Stim­me ruft: »Wirst du ma­chen, dass du in dein Bett kommst, dich nicht in frem­den Zel­len her­um­trei­ben, du war­mer Sack, du!«



Und eine jam­mern­de, gel­le Stim­me – ich er­ken­ne sie so­fort, es ist der Hau­er­zäh­ni­ge: »Herr Wacht­meis­ter, Sie ha­ben mich ja so ge­hau­en! Herr Wacht­meis­ter, ich kann mor­gen nicht ar­bei­ten!«



»War­mer Sack, du«, klingt drau­ßen die Stim­me noch ein­mal grol­lend, »mach, dass du schnells­tens in dei­ne Fal­le rollst! Sonst gib­t’s noch mal was!«



Der Hau­er­zäh­ni­ge fährt mit sei­nem Ge­sicht in mein Bett. »Na, Neu­er, liegs­te un­ter mir? Das sage ich dir aber, wenn du nachts nicht stil­le liegst und wa­ckelst, ich kom­me run­ter und ver­wa­cke­le dich!«



»Ich lie­ge schon still«, ver­si­che­re ich und den­ke be­sorgt an mein Rö­cheln und Schnar­chen.



Der Klei­ne zieht sich mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit aus und »feu­ert sei­ne Lum­pen« vor die Tür. Dann be­nutzt er mit ei­ner scham­lo­sen Un­ge­niert­heit den Kü­bel an der Tür.



»Hät­t’s­te auch drau­ßen er­le­di­gen kön­nen, Lexer!« ruft eine un­wil­li­ge Stim­me.



»Bis­te zu fein, mei­nen Ge­stank auf­zu­rie­chen?«, schreit so­fort die gel­le, fre­che Stim­me. »Jetzt wird’s wohl fein hier bei uns, wo der Neue ge­kom­men ist? So blau, jetzt schei­ße ich erst recht hier!« Und er lässt don­nernd einen fah­ren.



›Die Höl­le‹, den­ke ich. ›Ich bin in die Höl­le ge­ra­ten. Wie soll ich hier je le­ben kön­nen? Und schla­fen? Das sind ja kei­ne Men­schen mehr, das sind Tie­re! Und hier soll ich sechs Wo­chen le­ben, viel­leicht län­ger? Vi­el­leicht lan­ge? In die­ser Höl­le? Der Lexer, oder wie er heißt, ist ein wah­rer Teu­fel!‹



Sie ver­su­chen, mich noch aus­zu­fra­gen. Aber ich mag von ih­nen nichts mehr hö­ren noch se­hen. Ich stel­le mich schla­fend. Und all­mäh­lich wer­den auch sie ru­hig, die ver­hass­te gel­le Stim­me ver­stummt. Es wird im­mer dunk­ler, die meis­ten schla­fen wohl schon. Ich höre eine Uhr schla­gen, drei­mal. Was wird es sein? Drei­vier­tel neun? Drei­vier­tel zehn? Hof­fent­lich zeigt der Glo­cken­schlag auch die vol­len Stun­den an. Das ver­kürzt die Nacht. Über mir der Lexer wälzt sich un­ru­hig hin und her, je­des Mal kommt dann mein Bett ins Schwan­ken. Und ich soll mich nicht rüh­ren! Ich lie­ge ganz still, mein Ge­sicht im Arm ver­bor­gen.



Ich bin völ­lig al­lein mit mir. Ich bin mir klar: Ich wer­de von nun an im­mer völ­lig al­lein mit mir sein. Ich bin dort, wo­hin we­der Lie­be noch Freund­schaft rei­chen. Ich bin in der Höl­le … Ich habe eine kur­ze Zeit ge­sün­digt, und ich wer­de da­für eine lan­ge Zeit un­glaub­lich hart be­straft! Aber man hät­te es wis­sen müs­sen, be­vor man sün­dig­te, wie hart die Stra­fe aus­fällt. Es hät­te ei­nem vor­her ge­sagt wer­den müs­sen, dann hät­te man nicht ge­sün­digt … Gott, das biss­chen Schnapstrin­ken, ist das nun wirk­lich so schlimm? Die­se Kab­be­lei mit Mag­da – nun gut, ju­ris­tisch ha­ben sie eine Be­dro­hung dar­aus ge­macht, aber muss ich dar­um bei le­ben­di­gem Lei­be in der Höl­le sein? Wenn Mag­da wüss­te, wie ich lei­de – sie wür­de we­nigs­tens Mit­leid mit mir ha­ben, aus Mit­leid wür­de sie mir hel­fen, wenn sie mich auch nicht mehr liebt.



Es gibt noch eine ein­zi­ge Hoff­nung, das ist der Arzt. Die­ser Me­di­zi­nal­rat Stie­bing, er hat­te kei­nen so schlech­ten Ein­druck auf mich ge­macht, da­mals bei je­ner Au­to­fahrt. Er hat­te mit Dr. Mans­feld ge­scherzt und ge­lacht, wie ein rich­ti­ger Mensch. Vi­el­leicht war er ein rich­ti­ger Mensch, nicht bloß ein Ma­schi­nen­teil. Ich wer­de wie mit ei­nem Men­schen mit ihm re­den, um mei­ne See­le wer­de ich mit ihm kämp­fen, mei­ne See­le wer­de ich aus die­ser Höl­le er­ret­ten.



›Herr Me­di­zi­nal­rat‹, wer­de ich zu ihm spre­chen, ›ich tra­ge die vol­le Verant­wor­tung für al­les, was ich ge­tan habe. Ich war nie so be­rauscht, dass ich nicht wuss­te, was ich tat. Ich will hart be­straft wer­den, ein Jahr, zwei Jah­re will ich ger­ne ins Ge­fäng­nis ge­hen, ger­ne will ich das tun. Aber las­sen Sie mich nicht in die­sem Haus, in die­ser Höl­le, in die man hin­ein­ge­bracht wird, und nicht weiß, wann man wie­der hin­aus­geht; viel­leicht wird man erst auf dem Rücken hin­aus­ge­tra­gen.‹



›Herr Me­di­zi­nal­rat‹, wer­de ich noch spre­chen, ›Sie ken­nen un­se­ren Haus­arzt, den Herrn Dr. Mans­feld, ich habe es ge­se­hen. Sie ha­ben mit ihm ge­scherzt und ge­plau­dert im Auto. Fra­gen Sie Herrn Dr. Mans­feld, er kennt mich seit vie­len Jah­ren; er wird Ih­nen be­stä­ti­gen, dass ich ein an­stän­di­ger, so­li­der, nüch­ter­ner Mensch bin. Das jetzt war nur ein An­fall, ich weiß selbst nicht, wie ich dazu ge­kom­men bin. – Nein‹, un­ter­brach ich mich, ›das darf ich dem Me­di­zi­nal­rat nicht sa­gen, sonst er­klärt er mich für geis­tes­krank. Aber Dr. Mans­feld wird be­stä­ti­gen, dass ich im­mer an­stän­dig war: Ich habe Mag­da in die zwei­te Klas­se im Kran­ken­haus ge­legt, und ich habe ohne Mur­ren die ho­hen Ope­ra­ti­ons­kos­ten be­zahlt und nie et­was an ih­rer Pfle­ge ge­spart. Im­mer war ich an­stän­dig, Herr Me­di­zi­nal­rat