Hans Fallada – Gesammelte Werke

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30

Es war am drit­ten Tage mei­ner Haft, und ich ar­bei­te­te noch nicht auf dem Holz­hof, als Ober­wacht­meis­ter Sp­litt­stö­ßer nach­mit­tags um vier Uhr auf der Zel­le er­schi­en und zu mir sag­te: »Kom­men Sie mit, Som­mer. Zie­hen Sie Ihr Jackett an und kom­men Sie mit.«

Ich ging hin­ter dem »Ober« her und war da­mals noch so un­er­fah­ren in Ge­fäng­nis­din­gen, dass ich ihn höf­lich frag­te: »Wo­hin brin­gen Sie mich denn, Herr Ober­wacht­meis­ter?«

Ich wuss­te da­mals noch nicht, dass ein Ge­fan­ge­ner nie fra­gen soll, dass er auf Fra­gen nie Ant­wort be­kommt, dass er nur zu war­ten hat, was das Schick­sal, das ein Wacht­meis­ter, das aber auch ein Staats­an­walt sein kann, über ihn be­schließt.

Ich be­kam denn auch die recht gro­be Ant­wort: »Was geht das Sie an? Das wer­den Sie ja al­les er­le­ben!«

Drü­ben auf dem Land­ge­richt herrsch­te eine rich­ti­ge Som­mer­nach­mit­tags­stim­mung: Vie­le Zim­mer­tü­ren stan­den of­fen, und ich sah auf un­be­setz­te, auf­ge­räum­te Schreib­ti­sche. Es stell­te sich her­aus, dass der Jus­tiz­wacht­meis­ter des Land­ge­richts zur Post ge­gan­gen, also auch nicht im­stan­de war, mich aus den Hän­den mei­nes Ge­fäng­nis­be­am­ten zu über­neh­men; mein Be­am­ter aber hat­te es ei­lig, wie­der in sei­nen Bau zu­rück­zu­kom­men, und es er­hob sich ein klei­ner Streit zwi­schen ei­ner di­cken, ält­li­chen Bü­ro­an­ge­stell­ten und mei­nem Wacht­meis­ter.

»Ich bin nicht dazu da, auf eure Ge­fan­ge­nen auf­zu­pas­sen«, sag­te die An­ge­stell­te är­ger­lich. »Im­mer ver­sucht ihr sol­che Sa­chen. Wenn ei­ner fort­läuft, bin ich nach­her schuld.«

»Ja, aber euer Jus­tiz­wacht­meis­ter braucht auch nicht ge­ra­de im­mer fort­zu­lau­fen, er weiß doch, dass der Ge­fan­ge­ne um vier zur Ver­neh­mung be­stellt ist.«

So ging der Streit eine Wei­le hin und her, kei­ner woll­te mich ha­ben, bis schließ­lich das ält­li­che Fräu­lein ganz über­ra­schend sag­te: »Na ja, heu­te will ich’s noch mal tun, Herr Som­mer wird mir schon nicht weg­lau­fen.« Und da­mit sah sie mit ei­nem freund­li­chen Lä­cheln auf mich, sie kann­te mich also.

Ich wur­de auf einen Stuhl ge­setzt, Sp­litt­stö­ßer zog ab, und zum ers­ten Mal seit Ta­gen sah ich wie­der durch un­ver­git­ter­te Fens­ter auf eine Stra­ße mei­ner Va­ter­stadt, sah die Kin­der spie­len, und jetzt roll­te gar ein Wa­gen des Bier­ver­lags Trap­pe vor­über. Der mir sehr gut be­kann­te, fast be­freun­de­te Trap­pe saß selbst auf dem Bock.

Nun ging ein jun­ges Mäd­chen, wohl auch eine An­ge­stell­te, durch das Zim­mer, in das ich ge­setzt war, es sah mich an, lä­chel­te freund­lich und sag­te: »Gu­ten Tag, Herr Som­mer.«

Sie kann­te mich also, sie war freund­lich zu mir, ob­gleich ich un­ter der Be­schul­di­gung des Mord­ver­suchs an mei­ner ei­ge­nen Frau in Haft saß.

Die ält­li­che An­ge­stell­te eben war auch freund­lich ge­we­sen, sie hat­te ge­sagt: »Herr Som­mer läuft nicht weg« – alle wa­ren freund­lich zu mir, der bes­te Be­weis, dass mei­ne Sa­che gut­stand. Wahr­schein­lich er­ließ der Un­ter­su­chungs­rich­ter kei­nen Haft­be­fehl ge­gen mich, viel­leicht war ich schon in ei­ner hal­b­en Stun­de frei! Mein Herz klopf­te stark und froh.

Nun kam ein äl­te­rer Mann ins Zim­mer, ein lan­ger, dür­rer, grau­haa­ri­ger Herr, der et­was zer­streut und et­was sor­gen­voll blick­te.

»Das ist Herr Som­mer, Herr Di­rek­tor!«, sag­te die ält­li­che An­ge­stell­te und deu­te­te mit dem Kopf auf mich.

»So, so«, hüs­tel­te der ält­li­che Herr, der der Amts­ge­richts­di­rek­tor war, wie ich spä­ter er­fuhr. Er sah mich einen Au­gen­blick mit sei­nen mü­den, et­was sor­gen­vol­len Au­gen an und gab mir dann die Hand. »Dann kom­men Sie mal mit, Herr Som­mer.«

Wie­der ei­tel Freund­lich­keit, Hän­de­ge­ben, mit »Herr« an­re­den, ach, all dies Ge­tue hat mich Uner­fah­re­nen ge­wal­tig ge­täuscht, ich ver­gaß voll­kom­men, dass dies al­les mei­ne Fein­de wa­ren, nur ge­son­nen, mich zu ver­ur­tei­len, mich ge­fan­gen zu hal­ten, mich zu über­lis­ten. Ich ver­gaß den eben erst ge­lern­ten Satz: »Du kommst leicht hin­ein, aber schwer raus.« Ich mein­te, das Heraus­kom­men wer­de mir noch leich­ter als das Hin­ein­kom­men ge­macht, ich öff­ne­te dem Herrn Amts­ge­richts­di­rek­tor ganz mein Herz, sag­te al­les so, wie es wirk­lich ge­we­sen war, und dann soll­te ich es ja er­fah­ren, was für Fol­gen mei­ne Ver­trau­ens­se­lig­keit hat­te!

Der Herr Amts­ge­richts­di­rek­tor ging mir vor­an in ein ganz be­hag­lich ein­ge­rich­te­tes Ar­beits­zim­mer mit vie­len, vie­len Bü­chern an den Wän­den, ich wur­de auf einen Stuhl vor den Schreib­tisch ge­setzt, der Di­rek­tor setz­te sich hin­ter ihn, eine Dame mitt­le­ren Al­ters er­schi­en und spann­te einen großen Bo­gen in die Schreib­ma­schi­ne, der Di­rek­tor fuhr sich mit der Hand durch die Haa­re, rück­te an sei­ner Bril­le hin und her, sah mich an und sag­te: »Sie ma­chen uns vie­le Sor­gen, Herr Som­mer«, hüs­tel­te und gab dem Fräu­lein auf: »Nun neh­men Sie mal die Per­so­na­li­en von Herrn Som­mer auf.«

Die­ses Ge­fra­ge war leicht ge­nug be­ant­wor­tet, nur den Ge­burts­tag Mag­das habe ich viel­leicht falsch an­ge­ge­ben (ich ge­nier­te mich, zu ge­ste­hen, dass ich ihn nicht ge­nau wuss­te), und als ich ge­fragt wur­de, ob Ver­mö­gens- und Ein­kom­mens­ver­hält­nis­se ge­ord­net sei­en, ant­wor­te­te ich schlank­weg mit »Ja«, wor­über ich nach­träg­lich schwe­re Be­den­ken be­kam. Denn es schi­en mir jetzt doch zwei­fel­haft, wie Mag­da nach mei­ner Ent­nah­me von fünf­tau­send Mark mit dem Ge­schäft zu­recht­kom­men wür­de. Ich kam aber nicht mehr dazu, das rich­tig­zu­stel­len, denn nun fing der Herr Di­rek­tor an zu fra­gen, oder viel­mehr, er nahm einen großen Bo­gen, der eng mit Schreib­ma­schi­ne be­tippt war, zur Hand, fuhr sich wie­der durch die Haa­re, rück­te wie­der an sei­ner Bril­le, hüs­tel­te und sag­te: »Sie sind also un­ter dem Ver­dacht, einen Mord­ver­such an Ih­rer Frau be­gan­gen zu ha­ben, fest­ge­nom­men, Herr Som­mer. Was ha­ben Sie dazu zu sa­gen?«

Zu die­sem Zeit­punkt hat­te ich schon ein sol­ches Zu­trau­en zu al­len Leu­ten hier ge­won­nen, dass ich ganz harm­los rief: »Um Got­tes wil­len, wird denn das noch im­mer auf­recht­er­hal­ten, dass ich mei­ne Frau habe er­mor­den wol­len? Nie im Le­ben habe ich dar­an ge­dacht. Ich lie­be doch mei­ne Frau, und wenn ich auch …«

»Nein, nein, Herr Som­mer«, sag­te der Amts­ge­richts­di­rek­tor be­ru­hi­gend, »ein Mord­ver­such kommt na­tür­lich nicht in­fra­ge. Es war ein ver­such­ter Tot­schlag, nicht wahr? Sie ha­ben im Af­fekt ge­han­delt, Sie wa­ren be­trun­ken, nicht wahr?«

»Aber, Herr Di­rek­tor, ich habe mei­ne Frau doch auch nicht tot­schla­gen wol­len, das war doch nur so be­trun­ke­nes Ge­re­de, weil ich gern den Kof­fer ha­ben woll­te und weil mei­ne Frau doch stär­ker als ich ist.«

»Nun, nun«, mein­te der Di­rek­tor und lä­chel­te dünn. »Ein biss­chen mehr als eine harm­lo­se be­trun­ke­ne Katz­bal­ge­rei war es wohl doch. Sie ha­ben in der letz­ten Zeit ein biss­chen viel ge­trun­ken, nicht wahr, Herr Som­mer? Nun er­zäh­len Sie mir mal, was Sie so al­les ge­trun­ken hat­ten, ehe Sie den nächt­li­chen Be­such bei Ih­rer Frau mach­ten.«

So ka­men wir lang­sam in die Ver­neh­mung hin­ein, ich er­zähl­te al­les, wie es ge­we­sen war, ich zer­grü­bel­te mei­nen Kopf, um auch nicht eine ein­zi­ge Fla­sche Korn zu ver­ges­sen, ich sag­te die un­ge­schmink­te Wahr­heit, und ich Narr glaub­te, ich kön­ne es mit sol­cher Wahr­heits­lie­be schaf­fen. Ich be­harr­te aber da­bei, dass ich nie die Ab­sicht ge­habt habe, mei­ner Frau ernst­lich et­was zu tun, ich woll­te nur die Sa­chen ha­ben, so sag­te ich.

Der Amts­ge­richts­di­rek­tor hüs­tel­te stär­ker, er las in dem ma­schi­nen­ge­schrie­be­nen Bo­gen, er sag­te: »Ich will Ih­nen da doch ein­mal vor­hal­ten, was Ihre Frau aus­ge­sagt hat. Hier: ›Er würg­te mich am Hal­se und ver­such­te, mir mit den Fü­ßen in den Leib zu tre­ten!‹ Und hier: ›Er flüs­ter­te mir ins Ohr: Mor­gen Nacht be­su­che ich dich und brin­ge dich um!‹ Das klingt doch aber al­les ge­wal­tig nach et­was mehr als blo­ßen Dro­hun­gen, nicht wahr, Herr Som­mer?«

Ich war sprach­los über Mag­das Ge­mein­heit, das al­les so dar­zu­stel­len; zum Min­des­ten hät­te sie doch hin­zu­set­zen müs­sen, dass sie dies nur für blo­ßes be­trun­ke­nes Ge­re­de ge­hal­ten habe. Ich ver­such­te, es dem Di­rek­tor so zu er­klä­ren, ich wies ihn auch dar­auf hin, dass auch Mag­da er­regt ge­we­sen sei und vie­les viel­leicht in ih­rer Er­re­gung schwe­rer ge­nom­men habe, als es ge­meint ge­we­sen sei.

Der Di­rek­tor nick­te und seufz­te, wisch­te an sei­ner Bril­le, ob ich ihn über­zeugt habe, weiß ich nicht. Schließ­lich sag­te er: »Nun gut, ich will Sie heu­te auch gar nicht län­ger ver­neh­men. Das wird erst ein­mal ge­nü­gen.«

»Sie er­las­sen also kei­nen Haft­be­fehl ge­gen mich?!«, frag­te ich in über­strö­men­der Freu­de.

Der Di­rek­tor hüs­tel­te schon wie­der. »Nein, kei­nen ei­gent­li­chen Haft­be­fehl, so­zu­sa­gen. So­zu­sa­gen. Se­hen Sie, Herr Som­mer, Sie wa­ren nach Ihren ei­ge­nen Aus­sa­gen über­mä­ßig be­trun­ken …«

»Nicht über­mä­ßig be­trun­ken, Herr Di­rek­tor. Ich ver­tra­ge sehr viel.«

»Sie hat­ten«, fuhr der Di­rek­tor, sich ver­bes­sernd, fort, »über­mä­ßig viel ge­trun­ken, und da be­steht nun ein­mal der Ver­dacht, dass Sie bei Be­ge­hung Ih­rer Tat nicht im Voll­be­sitz Ih­rer Geis­tes­kräf­te wa­ren. Was wol­len Sie jetzt zu Haus? Sie wür­den wie­der mit Ih­rer Frau Streit an­fan­gen, Sie wür­den wie­der zu trin­ken an­fan­gen. Nein, Herr Som­mer, erst müs­sen Sie wie­der rich­tig ge­sund wer­den. Ich wer­de Sie erst ein­mal in eine Heil- und Pfle­gean­stalt ein­wei­sen, da wer­den Sie un­ter ärzt­li­cher Be­treu­ung ste­hen und rich­tig ge­sund wer­den …«

 

»Ich dan­ke Ih­nen, ich dan­ke Ih­nen, Herr Di­rek­tor«, rief ich Trot­tel und wäre am liebs­ten dem al­ten Herrn um den Hals ge­fal­len. Für sei­ne große Güte, ja­wohl, für sei­ne große Güte.

31

Von Mord­horst hör­te ich es dann, zwei oder drei Tage spä­ter (sie lie­ßen sich Zeit mit mei­ner Über­wei­sung in eine Heil- und Pfle­gean­stalt; auf dem Ge­richt ha­ben über­haupt alle Zeit, bloß die Ge­fan­ge­nen nicht, de­nen doch die Zeit so lang­sam ver­geht) – also, von Mord­horst hör­te ich es, dass ich mich wie ein voll­kom­me­ner Idi­ot be­nom­men hat­te.

»Mensch«, sag­te er, »wie konn­test du nur so däm­lich sein? Der alte Fuchs hat sich ins Fäust­chen über dich ge­lacht, als du eine Fla­sche Korn nach der an­de­ren aus­pack­test. Der hat dich fein mit sei­ner ver­stell­ten Freund­lich­keit ge­fan­gen! Sa­gen hät­test du müs­sen, schwö­ren hät­test du müs­sen: Ich bin gar nicht be­sof­fen ge­we­sen, kei­ne Spur war ich an­ge­trun­ken! Ich hab’s bei vol­lem Be­wusst­sein, nach reif­li­cher Über­le­gung ge­tan, was ich ge­tan habe! Und warum muss­test du so sa­gen? Weil du so am we­nigs­ten ris­kier­test! Sieh mal, für einen ver­such­ten Tot­schlag be­kommst du ein hal­b­es, höchs­tens ein Jahr Kitt­chen. Die reißt du ab und stehst wie­der drau­ßen als frei­er Mann, und kei­ner kann dir an den Wa­gen fah­ren.

Und was ge­schieht dir nun? Erst kommst du auf sechs Wo­chen in die An­stalt zur Beo­b­ach­tung auf dei­nen Geis­tes­zu­stand. Denkst du, die An­stalt ist bes­ser als ein Kitt­chen? Schlech­ter ist sie! Al­les Drum und Dran ist ge­nau wie hier, Fres­sen und Ar­beit und Wacht­meis­ter, aber du bist nicht mehr mit ver­nünf­ti­gen Men­schen zu­sam­men, son­dern mit lau­ter Idio­ten! Und dann gibt der Arzt sein Gut­ach­ten ab, und du kriegst den § 51, und das Ver­fah­ren ge­gen dich wird ein­ge­stellt. Aber du wirst für geis­tes­krank und ge­mein­ge­fähr­lich er­klärt und dei­ne dau­ern­de Un­ter­brin­gung in sol­cher Heil­an­stalt an­ge­ord­net, und da sitzt du, fünf Jah­re, zehn Jah­re, zwan­zig Jah­re, kein Hahn kräht nach dir, und lang­sam wirst du un­ter all den Idio­ten auch ein Idi­ot. Das ist es ja aber wohl auch, was sie von dir wol­len. Wie du mir er­zählt hast, hat dei­ne Alte viel fürs Ge­schäft üb­rig; dann hat sie das Ge­schäft und al­les, was dir ge­hör­te. Du bist dann bloß noch ein ar­mer ent­mün­dig­ter Trot­tel, und wenn sie dir zu Weih­nach­ten ein Stück Ku­chen und eine Rol­le Priem schickt, so ist das schon viel …«

So re­de­te Mord­horst, der Er­fah­re­ne, zu mir, und zu je­dem sei­ner Wor­te sag­te es in mei­nem In­nern »Ja«. Wie ein Trot­tel hat­te ich mich be­nom­men, aufs Glatteis hat­te ich mich lo­cken las­sen, und nun saß ich drin. Ich hat­te es doch im­mer schon ge­ahnt, was Mag­da plan­te, von al­lem An­fang an, aber dann hat­te ich es ver­ges­sen; ich hat­te nicht mehr dran den­ken wol­len. Ich hat­te mir et­was vor­ge­lo­gen, dass sie mei­ne Frau sei, dass sie mich doch ein­mal lieb ge­habt habe und mich nicht ver­ra­ten wür­de … Aber sie hat­te mich ver­ra­ten, schon lan­ge hat­te sie auf die­ses Ziel hin­ge­ar­bei­tet! Erst hat­te sie mir die Ärz­te nach­ge­schickt, und dann hat­te sie die­se ver­hee­ren­de Aus­sa­ge über mich ge­macht, in der sie all mein be­trun­ke­nes Ge­schwätz wie pu­ren Ernst be­han­delt hat­te!

Und wie hat­te sie sich zu mir be­nom­men, seit ich im Kitt­chen saß? Hat­te sie da so ge­han­delt, wie es ei­ner Ehe­frau ge­ziemt, de­ren Mann im Un­glück sitzt? Hat­te sie nur ein ein­zi­ges Mal den Ver­such ge­macht, Spre­cher­laub­nis mit mir zu be­kom­men, mich zu be­su­chen und da­bei Ge­le­gen­heit zu Auss­pra­che und Ver­söh­nung zu ge­ben? Nichts von al­le­dem! Ich hat­te an Mag­da ge­schrie­ben. Ich hat­te einen erns­ten, freund­li­chen Brief an sie ge­schrie­ben, ich muss­te ja an sie schrei­ben. Ich brauch­te fri­sche Wä­sche und Toi­let­ten­zeug, ich brauch­te eine De­cke auf mei­nem Stroh­sack, ein Lei­nen­tuch und ein Kopf­kis­sen. Ich brauch­te auch eine Zei­tung und et­was zu es­sen. Ja­wohl, sie hat­te mir die Sa­chen, die ich brauch­te, ge­schickt, aber von Ess­wa­ren und Zei­tung war nichts in dem Kof­fer! Und nicht mit ei­ner Zei­le hat­te sie mir geant­wor­tet!

Jetzt saß ich in Num­mer Si­cher, jetzt ließ sie die Mas­ke fal­len, jetzt fühl­te sie sich schon als die Be­sit­ze­rin mei­nes Ei­gen­tums, jetzt glaub­te sie mich schon für ewig auf­ge­ho­ben in ei­ner Ir­ren­an­stalt!

Aber sie soll­te sich in mir ge­irrt ha­ben, noch gab ich den Kampf nicht auf! Nein, ich fing ihn erst an! Ich war klar­se­hend ge­wor­den, ich war das Kind nicht mehr, das sich von Mag­das Tüch­tig­keit gän­geln ließ, jetzt be­riet mich Mord­horst, und den bes­ten Rechts­an­walt der Stadt, den Herrn Dr. Hus­ten, ließ ich mir auch kom­men!

32

Der Herr Rechts­an­walt Dr. Hus­ten, den ich bis­lang nur vom An­se­hen kann­te, war ein Mann Ende der Drei­ßi­ger, eine schon et­was be­hä­bi­ge Ge­stalt mit dem fal­ti­gen und fah­len Ge­sicht ei­nes er­folg­rei­chen Mi­men. Er prak­ti­zier­te noch nicht lan­ge in mei­ner Va­ter­stadt und galt für ge­ris­sen, ein we­nig un­be­denk­lich und sehr teu­er. In mei­nen ge­schäft­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten hät­te ich ihn na­tür­lich nie zum Be­ra­ter ge­wählt, aber in ei­ner sol­chen Strafsa­che schi­en er mir ge­ra­de der rech­te Mann.

Ich wur­de von mei­ner Holz­ar­beit her­ein­ge­ru­fen und fand Herrn Dr. Hus­ten im Büro des In­spek­tors mei­ner war­tend; er war fast so­fort mei­nem brief­li­chen Ruf ge­folgt. Dr. Hus­ten schüt­tel­te mir fast em­pha­tisch die Hand, ver­si­cher­te mir mit ei­ner tie­fen Stim­me, die das »R« roll­te, er freue sich un­ge­mein, mei­ne Be­kannt­schaft zu ma­chen, und wand­te sich dann an den In­spek­tor mit der scherz­haft vor­ge­tra­ge­nen Bit­te, uns ein lau­schi­ges Plätz­chen zu ver­trau­li­cher Auss­pra­che an­zu­wei­sen. Der In­spek­tor grins­te und gab dem Wacht­meis­ter den Auf­trag, uns in mei­ne Zel­le zu füh­ren.

Der em­pör­te Düs­ter­mann wur­de so­lan­ge auf den Hof zum Spa­zie­ren­ge­hen ge­jagt. »Dass ihr mir nicht an mei­ne Sa­chen rührt!« Mit die­sen Wor­ten ging er.

Statt sich nun mei­ner Sa­che zu wid­men, er­kun­dig­te sich Dr. Hus­ten flüs­ternd, wer der im­po­san­te, gro­be Herr eben ge­we­sen sei, und nick­te, als ich ihn kurz ori­en­tiert hat­te, tief­sin­nig mit dem Kopf: »Ach, der ist das! Ich habe von ihm ge­hört. Wer macht denn sei­ne Ver­tei­di­gung – der Kerl hat Geld wie Heu. Aus der Sa­che ist was zu ma­chen.«

Mich in­ter­es­sier­te mehr, was aus mei­ner Sa­che zu ma­chen sei, und ich er­laub­te mir, den Dr. Hus­ten et­was ge­reizt dar­an zu er­in­nern.

»Ach, Ihre Sa­che?«, rief er er­staunt und voll­tö­nig aus. »Ihre Sa­che ist in bes­ter Ord­nung! Ich habe be­reits die Ak­ten ein­ge­se­hen – Sie be­kom­men den § 51 und ge­hen straf­frei aus, da­für las­sen Sie mich nur sor­gen, mein lie­ber Herr Som­mer!«

Ich frag­te noch ge­reiz­ter: »Und was wird aus mir, wenn ich den § 51 be­kom­men habe?«

Er­staunt rief der An­walt: »Was aus Ih­nen wird? Straf­recht­lich ist die Sa­che für Sie dann end­gül­tig zu Ende. Und per­sön­lich? Ich neh­me an, dass Sie dann für ein Weil­chen in eine Heil- und Pfle­gean­stalt ge­hen wer­den, und das ist Ih­nen ja schon aus Ge­sund­heits­grün­den nur zu wün­schen!«

»Und wie lan­ge wird das ›Weil­chen‹ in ei­ner sol­chen An­stalt für mich dau­ern, Herr Dr. Hus­ten?« frag­te ich böse. »Fünf Jah­re? Zehn Jah­re? Le­bens­läng­lich?«

Der An­walt lach­te. »Aha! Ir­gend­ein Mit­ge­fan­ge­ner hat Ih­nen einen Floh ins Ohr ge­setzt! Le­bens­läng­lich! Wenn ich so et­was nur höre! Für Sie kommt das doch nie in­fra­ge. Sie sind doch ein ver­nünf­ti­ger Mensch, im Voll­be­sitz Ih­rer Geis­tes­kräf­te …«

»Ganz mei­ne An­sicht«, stimm­te ich ihm bei, »und dar­um kommt eben der § 51 nicht für mich in­fra­ge. Nein, Herr Dr. Hus­ten, ich tra­ge die vol­le Verant­wor­tung für al­les, was ich ge­tan habe, und bin be­reit, alle Fol­gen zu tra­gen.«

»Aber, mein lie­ber Herr Som­mer!«, rief er be­schwö­rend. »Sie wür­den dann auf ein Jahr ins Ge­fäng­nis ge­hen müs­sen, min­des­tens auf ein Jahr! Sie kehr­ten als ent­ehr­ter Mann zu­rück! Die Leu­te wür­den mit den Fin­gern auf Sie zei­gen!«

»Trotz­dem!« be­harr­te ich als ge­treu­er Schü­ler Mord­horsts. »Trotz­dem zie­he ich ein Jahr im Ge­fäng­nis ei­nem un­be­grenz­ten Auf­ent­halt in der Heil­an­stalt bei Wei­tem vor …«

»Un­be­grenzt! Sie wer­den ein hal­b­es Jahr, ein Jahr dort blei­ben müs­sen, Herr Som­mer …«

»Wür­den Sie mir das schrift­lich ge­ben, Herr Dr. Hus­ten? Mit Ihrem Wort als An­walt …?«

»Das kann ich na­tür­lich nicht, mein lie­ber Freund«, sag­te der An­walt. Er schi­en jetzt auch reich­lich ver­är­gert und trom­mel­te mit den Fin­gern ner­vös auf dem Tisch. »Ich bin kein Arzt. Nur ein Arzt kann be­ur­tei­len, wie weit der Al­ko­ho­lis­mus bei Ih­nen vor­ge­schrit­ten ist, wie viel Zeit für eine völ­li­ge, rück­fall­si­che­re Hei­lung not­wen­dig ist. – Aber, mein lie­ber Herr Som­mer!« rief er und riss sich wie­der zu­sam­men, ließ den ein­ge­lern­ten sieg­haf­ten Op­ti­mis­mus wie­der die Ober­hand ge­win­nen, »ge­ben Sie die­ses fins­te­re Miss­trau­en auf. Ver­trau­en Sie sich un­be­denk­lich den hei­len­den Hän­den der Ärz­te an. Be­den­ken Sie auch, dass Sie so­wohl see­lisch wie kör­per­lich kaum den An­for­de­run­gen ei­ner län­ge­ren Ge­fäng­nis­haft ge­wach­sen sein wer­den. Ich glau­be auch kaum, dass ein sol­cher Auf­ent­halt, dass die­se Wahl im Sin­ne Ih­rer lie­ben Frau sein wür­de …«

Das war ein falsches Wort am falschen Ort!

»Herr Dr. Hus­ten!«, rief ich, em­pört auf­sprin­gend. »Was ver­tre­ten Sie hier: mei­ne In­ter­es­sen oder die In­ter­es­sen mei­ner Frau? Wo­her wis­sen Sie, was im Sin­ne mei­ner Frau ist? Ha­ben Sie etwa vor un­se­rer Rück­spra­che mei­ne Frau auf­ge­sucht?« Ich zit­ter­te am gan­zen Lei­be vor Er­re­gung.

»Aber, mein lie­ber Herr Som­mer«, sag­te er be­ru­hi­gend und leg­te mir die Hand auf die Schul­ter. »Wa­rum er­re­gen Sie sich so? Na­tür­lich habe ich Ihre Frau auf­ge­sucht; das war für mich als Ihren An­walt doch ganz selbst­ver­ständ­lich. Und ich kann Ih­nen mit­tei­len, dass Ihre Frau wohl mit Trau­er, aber doch ohne ei­gent­li­chen Groll an Sie denkt. Ich bin über­zeugt, dass sie Ihr Schick­sal auf das Leb­haf­tes­te be­dau­ert …«

»Ja, und die­ses groll­freie Be­dau­ern spricht sich am deut­lichs­ten in dem Pro­to­koll aus, das von ihr bei den Ak­ten ist!«, rief ich im­mer em­pör­ter. »Ha­ben Sie denn das Pro­to­koll nicht ge­le­sen, Herr Dr. Hus­ten? Nein, ich fin­de es ein­fach un­ver­ant­wort­lich, dass Sie als mein Ver­tei­di­ger, ohne mich zu fra­gen, die Haupt­be­las­tungs­zeu­gin auf­ge­sucht ha­ben.«

»Aber ich muss­te es doch, mein lie­ber Freund«, wi­der­setz­te der An­walt, über mei­ne Welt­fremd­heit mil­de lä­chelnd. »Ich muss­te mich doch auch über den Punkt ori­en­tie­ren, wer das Ho­no­rar für Sie be­zahlt. Sie sind im Au­gen­blick ge­wis­ser­ma­ßen mit­tel­los …«

»Sie ir­ren sich, Herr Dr. Hus­ten«, sag­te ich jetzt ganz kalt. »Al­les da drau­ßen: das Ge­schäft, das Bank­gut­ha­ben, die aus­ste­hen­den For­de­run­gen, das Haus, all das ge­hört mir, mir al­lein. Nicht mei­ner Frau. Noch bin ich in kei­ner Heil­an­stalt, noch bin ich nicht ent­mün­digt …«

»Ge­wiss, ge­wiss«, sag­te der An­walt be­ru­hi­gend. »Das ist na­tür­lich voll­kom­men rich­tig. Ich habe mich lei­der falsch aus­ge­drückt, ich hät­te nicht ›mit­tel­los‹ sa­gen dür­fen. Drücken wir es so aus, dass Sie in der Ver­fü­gung über Ihr Ver­mö­gen im Au­gen­blick ge­wis­ser­ma­ßen ein we­nig be­hin­dert sind, wäh­rend Ihre Frau als Ihre ge­treue Sach­wal­te­rin …«

»Ich wer­de da­für sor­gen, Herr Dr. Hus­ten«, sag­te ich und stand end­gül­tig auf, »dass mei­ne Frau nicht mehr lan­ge die­sen Pos­ten als Sach­wal­te­rin aus­üben kann. Dann ver­min­dert sich wahr­schein­lich auch ihr In­ter­es­se ra­pi­de, mich auf Le­bens­zei­ten in ein Ir­ren­haus zu sper­ren. Ich wer­de mei­ner Frau mit­tei­len, dass Ihr Be­such mich völ­lig von der Not­wen­dig­keit ei­ner so­for­ti­gen Schei­dung über­zeugt hat.«

»Mein lie­ber Freund«, sag­te der An­walt voll­tö­nend und schüt­tel­te das große Mi­men­haupt. »Wie jung Sie doch sind mit Ihren vier­zig Jah­ren! (Nicht wahr, Sie sind doch vier­zig Jah­re?) Im­mer mit dem Kopf durch die Wand! Im­mer das Kind mit dem Bade aus­schüt­ten! Nun, nun, Sie wer­den un­ter ge­eig­ne­ter ärzt­li­cher Pfle­ge auch noch ru­hi­ger wer­den!« Sein wi­der­lich freund­li­ches Grin­sen hat­te jetzt et­was un­aus­sprech­lich Höh­ni­sches. »Im Üb­ri­gen gehe ich wohl nicht fehl in der An­nah­me, dass ich mich nicht als der An­walt Ihres Ver­trau­ens be­trach­ten darf?«

 

»Ganz rich­tig, Herr Dr. Hus­ten.«

»Ich be­dau­re es auf­rich­tig, ich be­dau­re es nicht für mich (Ihr Fall ist nur ein klei­ner Fall für mich, Herr Som­mer, ein sehr klei­ner Fall), ich be­dau­re es für Sie und für Ihre Frau! Sie ren­nen blind­lings in Ihr Un­glück, Herr Som­mer, und wenn Ih­nen die Au­gen auf­ge­hen, wird es zu spät für Sie sein. Scha­de.« Er fass­te schnell mei­ne Hand und schüt­tel­te sie. »Aber wir schei­den nicht als Fein­de, Herr Som­mer. Wir ha­ben uns ken­nen­ge­lernt, wir ha­ben uns be­grüßt, wir tren­nen uns wie­der. ›Schif­fe, die sich nachts be­geg­nen‹ – Sie ken­nen doch die­ses vor­züg­li­che Buch der Bri­tin Bea­tri­ce Har­ra­den?1 – Es möge Ih­nen gut ge­hen, Herr Som­mer!« Da­mit ver­ließ Herr Dr. Hus­ten er­ho­be­nen Haup­tes mei­ne Zel­le.

Ich aber folg­te ihm erst in ei­ni­gem Ab­stand und be­gab mich wie­der zu mei­ner Sä­ge­rei auf den Holz­hof. Dort be­rich­te­te ich Mord­horst haarklein die statt­ge­hab­te Un­ter­re­dung, wur­de von ihm zum ers­ten Male be­lobt und in mei­ner Ab­sicht be­stärkt, eine ei­li­ge Schei­dung von Mag­da zu be­trei­ben und ihr die Ver­wal­tung mei­nes Ei­gen­tums zu ent­zie­hen.

1 Bea­tri­ce Har­ra­den (1864–1936), bri­ti­sche Frau­en­recht­le­rin und Au­to­rin. <<<