Hans Fallada – Gesammelte Werke

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19

Ich hat­te na­tür­lich kei­ne Ah­nung da­von, in wel­che Rich­tung Po­la­kow­ski ge­gan­gen war, und zu An­fang sah ich ziem­lich be­sorgt um mich. Als ich aber erst, aus »Klein-Russ­land« her­aus, durch die sau­be­ren Stra­ßen mei­ner Hei­mat­stadt ging, fühl­te ich mich si­che­rer. Ich ging, ohne zu zö­gern, di­rekt zum Bahn­hof und setz­te mich dort in den War­te­saal zwei­ter Klas­se. Ich wuss­te, ich wag­te viel; war schon et­was von mei­ner Ge­schich­te durch­ge­si­ckert, so war ich ver­lo­ren. Aber ich muss­te an die­sem Mor­gen noch viel mehr wa­gen, die­ses Sit­zen im War­te­saal war eine Vor­pro­be für kom­men­de an­de­re wich­ti­ge Un­ter­neh­mun­gen.

Na­tür­lich hät­te ich mich auch mit we­ni­ger Ri­si­ko ein paar Stun­den in den An­la­gen der Stadt ver­ber­gen kön­nen, aber in mei­ner ver­wan­del­ten Stim­mung lieb­te ich es nun ein­mal, der Ge­fahr zu trot­zen, muss aber auch ge­ste­hen, dass der Al­ko­hol mich ein we­nig dazu ver­führ­te. So ganz ohne ihn woll­te ich nun doch nicht sein, und so be­stell­te ich beim Kell­ner au­ßer ei­nem er­gie­bi­gen Früh­stück mit Set­zei­ern, Wurst und Käse auch eine Kar­af­fe Ko­gnak, den ich, zum zwei­ten Mal be­hag­lich und nicht ohne Ap­pe­tit früh­stückend, mei­nem Kaf­fee zu­setz­te.

Ich ver­tief­te mich bei die­sem lan­ge dau­ern­den Es­sen in die Zei­tun­gen mei­ner Va­ter­stadt, die ich lan­ge nicht stu­diert, las sämt­li­che Hei­mat­nach­rich­ten ein­schließ­lich der Fa­mi­li­en­an­zei­gen und hat­te nun die Ge­wiss­heit, dass über mich auch noch nicht der ge­rings­te Hin­weis ins Blät­tel ge­langt war. Es wäre doch im­mer­hin mög­lich ge­we­sen, dass Mag­da in ih­rer »Be­sorg­nis um mein Wohl­er­ge­hen« eine No­tiz ins Blatt hät­te set­zen las­sen, etwa des In­halts: Der Ge­schäfts­mann E. S. sei so und so lan­ge nicht ge­se­hen wor­den und irre ver­mut­lich in ei­nem Zu­stand geis­ti­ger Ver­wir­rung in der Ge­gend um­her. Wer Nach­richt von ihm ge­ben kön­ne usw. usw. Aber nichts von al­le­dem.

Bei mei­nem Früh­stück wur­de ich wirk­lich zehn Mi­nu­ten lang von dem Bäcker­meis­ter Stretz ge­stört, von dem ich eben in der Zei­tung ge­le­sen, dass er sein fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­ges Ge­schäfts­ju­bi­lä­um be­gan­gen habe. Er ist un­ser Sem­mel-, ich bin dann und wann sein Wei­zen­mehl­lie­fe­rant, wir ken­nen uns seit vie­len Jah­ren. So setz­te er sich zu mir an den Tisch, und er ver­wun­der­te sich dar­über, dass wir uns so lan­ge nicht ge­se­hen, auch, dass ich hier auf dem Bahn­hof die Sem­meln der Kon­kur­renz und nicht fried­lich da­heim sei­ne ei­ge­nen früh­stück­te. Es war das al­les aber ganz arg­los ge­sagt, wie ich so­fort merk­te. Mit dem Hin­weis auf eine Rei­se er­klär­te ich al­les und war nun si­cher, dass über den engs­ten Kreis der Be­tei­lig­ten noch kein Gerücht von mei­ner ver­än­der­ten Le­bens­wei­se ge­drun­gen war.

Spä­ter ka­men noch ent­fern­te­re Be­kann­te durch den War­te­saal, ich grüß­te sie, si­cher ge­wor­den, mit kur­z­em freund­li­chem Kopf­ni­cken und ei­ner Be­we­gung der Hand. Der Kell­ner aber muss­te mir, je nä­her der Uhr­zei­ger der Neun rück­te, noch eine und schließ­lich eine drit­te Kar­af­fe Ko­gnak brin­gen – moch­te er von mir den­ken, was er woll­te. So bald wür­de ich wohl kaum wie­der sein Gast.

Fünf Mi­nu­ten vor neun hat­te ich be­zahlt, stand auf, nahm mei­nen Kof­fer und ging in die Stadt. Ich ging die Bahn­hof­stra­ße ent­lang, dann ohne Scheu durch un­se­re Haupt­pro­me­na­de, die Ul­me­n­al­lee, bis zum Markt­platz, an dem die Bank liegt. Hier war ich mit­ten in Fein­des­ge­län­de: Gera­de ge­gen­über der Bank liegt das Rat­haus, in des­sen Erd­ge­schoss sich die Po­li­zei­wa­che be­fin­det, die heu­te Nacht mei­net­we­gen wohl alar­miert wur­de, und eine Mi­nu­te vom Markt­platz ent­fernt mein ei­ge­nes Ge­schäft, dem viel­leicht die­ser mit Korn­sä­cken be­la­de­ne Bau­ern­wa­gen zu­roll­te. Ich war doch recht auf­ge­regt und trock­ne­te mir, ehe ich die Bank be­trat, mei­ne schweiß­nas­sen Hän­de mit dem Ta­schen­tuch ab. Dann trat ich ein.

Im Schal­ter­raum wa­ren, wie mich ein Blick be­lehr­te, zu die­ser Zeit di­rekt nach Öff­nung erst ein paar be­lang­lo­se Bü­ro­jüng­lin­ge und -mäd­chen, mit Pa­pie­ren in den Hän­den. Ich setz­te den Kof­fer ab, häng­te mei­nen Hut an den Ha­ken und ging zu dem noch frei­en Schal­ter, an dem der Buch­hal­ter saß, der mein Kon­to führ­te. Ich sag­te ihm lä­chelnd »Gu­ten Mor­gen«, teil­te mit, dass ich eben von ei­ner län­ge­ren Rei­se zu­rück­ge­kehrt sei (wo­bei ich auf mei­nen Kof­fer an der Tür deu­te­te) und dass ich mich ger­ne über den Stand mei­nes Kon­to­kor­rent-Gut­ha­bens un­ter­rich­tet hät­te. Und wäh­rend ich das al­les leicht­hin, ohne je­des Sto­cken sag­te, prüf­te ich, in­ner­lich zit­ternd, sein Ge­sicht, such­te nach ir­gend­ei­nem An­zei­chen von Miss­trau­en, Arg­wohn, Zwei­fel.

Aber nichts von al­le­dem war dem jun­gen Men­schen an­zu­se­hen, wil­lig schlug er das Buch auf, rech­ne­te einen Au­gen­blick mit dem Blei­stift ei­ni­ge Zah­len zu­sam­men und sag­te dann ganz gleich­gül­tig, dass der Stand mei­nes Gut­ha­bens sich au­gen­blick­lich auf Sie­ben­tau­sen­dacht­hun­dert und ei­ni­ge Mark und Pfen­ni­ge be­lau­fe.

Kaum konn­te ich eine Ge­bär­de freu­di­ger Über­ra­schung ver­ber­gen. So viel hat­te ich in mei­nen kühns­ten Träu­men nicht er­war­tet. Wie Mag­da das fer­tig­ge­bracht hat­te, war mir ei­ni­ger­ma­ßen rät­sel­haft; wahr­schein­lich war be­reits die Zah­lung der Ge­fäng­nis­ver­wal­tung für ge­lie­fer­tes Tau­werk ein­ge­gan­gen, aber auch sie konn­te nicht an­nä­hernd so viel aus­ma­chen. Nun, je­den­falls war, sag­te ich mir, mei­ne freu­di­ge Er­re­gung un­ter­drückend, Geld ge­nug da, ge­nug für das Ge­schäft und ge­nug vor al­lem für mich und mei­ne Plä­ne. Ei­nen Au­gen­blick kämpf­te ich mit der Ver­su­chung, den gan­zen Be­trag ab­zu­he­ben. Aber ich be­zwang mich. Ich woll­te doch nicht ge­mein ge­gen Mag­da und das Ge­schäft han­deln, so ge­mein sie sich auch ge­gen mich be­nom­men hat­te. Au­ßer­dem wäre eine so voll­stän­di­ge Ent­nah­me, die ei­ner Auf­lö­sung mei­nes Kon­tos gleichsah, doch wohl auf­fäl­lig ge­we­sen.

All das war blitz­schnell durch mei­nen Kopf ge­gan­gen, nun sag­te ich fast bei­läu­fig, dass ich heu­te eine grö­ße­re Zah­lung zu leis­ten habe, und bat um Tin­te und Fe­der. Am Schal­ter ste­hen­blei­bend, schrieb ich in dem Scheck­buch, das ich aus mei­ner Ta­sche ge­zo­gen, einen Über­brin­ger­scheck auf fünf­tau­send Mark aus und reich­te ihn dem Buch­hal­ter. Mit ei­nem letz­ten Rest von Furcht prüf­te ich wie­der sein Ge­sicht, aber ohne auch nur einen Au­gen­blick zu zö­gern, mach­te er die nö­ti­gen Bu­chun­gen, stem­pel­te den Scheck und brach­te ihn per­sön­lich zum Kas­sen­schal­ter. Auch ich ging dort­hin.

Ein Ge­fühl un­end­li­cher Freu­de, ein stol­zer Tri­umph be­se­lig­te mich. Da hat­te ich Mag­da bild­schön her­ein­ge­legt! Dass sie so dumm ge­we­sen war, dass sie der Bank nicht einen klei­nen Wink ge­ge­ben hat­te, das ließ erst mei­ne gren­zen­lo­se Über­le­gen­heit im rech­ten Lich­te er­schei­nen. Ich hät­te tan­zen und schrei­en mö­gen vor Freu­de, nur mit Mühe be­zwang ich eine Art Lach­krampf, der mich an­kam.

»Wie möch­ten Sie das Geld, Herr Som­mer?«, frag­te der Kas­sie­rer mich.

»Groß, groß«, sag­te ich ei­lig. »Das heißt in Fünf­zig- und Hun­dert­mark­schei­nen. Etwa zwei­hun­dert Mark dann in klei­ne­ren Schei­nen.«

In zwei Mi­nu­ten hat­te ich mein Geld, ver­wahr­te es sorg­fäl­tig in mei­ner Brust­ta­sche, nahm den Kof­fer und trat als stol­zer Sie­ger wie­der auf den Markt­platz. Gera­de wäh­rend ich durch die Dreh­tür ging, kam mir der Ein­fall, dass die­ser Tri­umph un­be­dingt ge­fei­ert wer­den müss­te. Ich woll­te trotz der frü­hen Mor­gen­stun­de in eine klei­ne Wein­stu­be am Markt­platz ge­hen und dort zu ei­ner oder zwei Fla­schen Bur­gun­der einen Hum­mer es­sen oder Aus­tern oder was Rohloff eben der Jah­res­zeit ent­spre­chend da­hat­te. Ich tre­te aus der Tür, und vor mir steht der un­ver­meid­li­che, der wi­der­li­che Po­la­kow­ski, die­se Pest mei­nes Le­bens, und sieht mich schlei­mig lä­chelnd an.

20

Wenn es nicht der of­fe­ne Markt­platz ge­we­sen wäre, ich hät­te die­sen Kerl er­würgt! So sah ich ihn nur einen Au­gen­blick fins­ter dro­hend an, fass­te dann mei­nen Kof­fer fes­ter und schlug, ohne ihn zu be­ach­ten, den Weg zum Bahn­hof ein. Aber ich hör­te wohl, dass er hin­ter mir her­ging, und nun ver­nahm ich auch schon sei­ne ver­hass­te schmei­cheln­de und flüs­tern­de Stim­me: »Las­sen Sie mich doch den Kof­fer tra­gen, Herr! – Bit­te, las­sen Sie mich doch den Kof­fer tra­gen, Herr!«

Ich tat, als habe ich ihn nicht ge­hört, und schritt schnel­ler aus. Aber plötz­lich fühl­te ich eine Hand ne­ben der mei­nen am Kof­fer­griff, und nun hat­te schon am hel­len Tage auf of­fe­ner Stra­ße Po­la­kow­ski mir den Kof­fer aus der Hand ge­nom­men! Wü­tend dreh­te ich mich um und schrie: »Wol­len Sie mir auf der Stel­le den Kof­fer wie­der­ge­ben, Po­la­kow­ski!!«

Er lä­chel­te de­mü­tig. »Nicht so laut, Herr«, bat er flüs­ternd. »Die Leu­te gu­cken ja schon, das ist für Sie pein­lich, Herr. Nicht für einen ar­men Ar­bei­ter, wie ich es bin, aber für Sie, Herr …«

»Sie wer­den mir so­fort den Kof­fer zu­rück­ge­ben, Po­la­kow­ski«, wie­der­hol­te ich, aber lei­ser, denn die Leu­te guck­ten wirk­lich schon.

»Nach­her, nach­her«, sag­te er be­ru­hi­gend. »Ich tra­ge ihn ger­ne, Herr. Zur Bahn, nicht wahr?« Und ohne eine Ant­wort ab­zu­war­ten, ging er an mir vor­bei und jetzt mir vor­aus, dem Bahn­hof zu.

Mit ei­nem Ge­fühl hilflo­ser Ohn­macht folg­te ich ihm. Mit ei­nem Hass sah ich auf die leicht vorn­über­ge­beug­te Ge­stalt in ei­nem dun­kelblau­en Jackett und auf das schlicht zu­rück­ge­kämm­te, leicht gol­di­ge Haar, das einen röt­lich gol­de­nen Schim­mer hat­te. Wie ei­nem Mör­der di­rekt vor sei­ner Tat zu­mu­te ist, das weiß ich seit je­nen Mi­nu­ten, die ich hin­ter Po­la­kow­ski zum Bahn­hof ge­gan­gen bin. Und ich konn­te ihm nichts tun, gar nichts, er war stär­ker als ich, so­wohl phy­sisch wie mo­ra­lisch. Er brauch­te nur den nächs­ten Po­li­zis­ten an­zu­ru­fen, und ich war ver­lo­ren, das ahn­te er gut, der Schur­ke.

 

Wäre ich in je­nen Mi­nu­ten ein we­nig kalt­blü­ti­ger und über­leg­ter ge­we­sen, ich hät­te Po­la­kow­ski ru­hig im Be­sitz mei­nes Kof­fers ge­las­sen und hät­te mich lei­se in eine Sei­ten­stra­ße ver­drückt. Im Be­sitz ei­ner so großen Geld­sum­me, wie ich sie in der Ta­sche hat­te, war der Ver­lust des Kof­fers schon zu ver­schmer­zen, er war das Lö­se­geld, durch das ich mich von die­sem elen­den Kerl frei­kauf­te. Aber ich kam gar nicht auf die­sen Ge­dan­ken, mein Blut koch­te, es war nicht kalt, ich konn­te nicht über­le­gen.

Auf dem Platz vor dem Bahn­hof an­ge­kom­men, ging Po­la­kow­ski nicht in ihn hin­ein, son­dern, ohne sich nach mir um­zu­se­hen, si­cher, dass ich ihm wie ein Hünd­lein fol­gen wür­de, in die Be­dürf­nis­an­stalt, die lin­ker Hand, et­was von Bü­schen ver­steckt, da­liegt. In ihr an­ge­kom­men, setz­te er den Kof­fer nie­der, zog an den Fin­gern, dass die Knö­chel knack­ten, und sag­te: »So, Herr, hier kön­nen wir in al­ler Ruhe re­den.«

Ich sah mich um: Das Was­ser rausch­te schon in dem hal­b­en Dut­zend Be­cken, aber die Kund­schaft fehl­te noch zu die­ser frü­hen Stun­de. Po­la­kow­ski hat­te recht: Hier konn­ten wir in al­ler Ruhe spre­chen. »Und das wol­len wir auch!«, rief ich zor­nig. »Was bil­den Sie sich ei­gent­lich ein, Po­la­kow­ski, dass Sie mir stän­dig nach­lau­fen und nach­spio­nie­ren. Heu­te Nacht schon und nun wie­der …«

»Nach­spio­nie­ren?« wie­der­hol­te er wi­der­lich vor­wurfs­voll. »Aber Herr, ich habe Ih­nen Ihren Korn nach­ge­bracht.« Und er zog wirk­lich die Fla­sche aus der Ho­sen­ta­sche. »Sie ha­ben ihn heu­te Mor­gen ver­ges­sen. Ich aber bin ein ehr­li­cher Mann. Ich habe zu mei­ner Frau ge­sagt: ›Der Herr hat den Korn be­zahlt, er soll ihn auch be­kom­men.‹ So bin ich.« Er hielt mir die Fla­sche hin. »Trin­ken Sie doch, Herr. Ich habe schon auf­ge­korkt, der Pfrop­fen sitzt ganz lose.«

Ich mach­te eine wü­ten­de Ge­bär­de.

Er ließ sich nicht ent­mu­ti­gen, er hielt mir die Fla­sche wie­der hin. »Trin­ken Sie doch«, schmei­chel­te er wie­der, »Sie sind ein so net­ter Herr, wenn Sie ein biss­chen ge­trun­ken ha­ben; es be­kommt Ih­nen gar nicht, wenn Sie nüch­tern sind, dann sind Sie im­mer so ge­reizt …« Er zog den Pfrop­fen selbst aus der Fla­sche und rieb mit sei­nem feuch­ten Ende am Fla­schen­hals hin und her. »Hö­ren Sie, Herr«, sag­te er la­chend, »der Schnaps ruft nach Ih­nen …«

Und wahr­haf­tig, es ist mir heu­te un­be­greif­lich, aber mit sei­nem al­ber­nen Ge­tue hat­te mich doch der Kerl wirk­lich wie­der her­um­ge­kriegt. Sel­ber jetzt la­chend, griff ich zur Fla­sche, rief: »Sie elen­der Schur­ke, Sie!«, und trank, trank viel und lan­ge. Dann setz­te ich die Fla­sche ab, kork­te sie zu, ver­wahr­te sie nun in der ei­ge­nen Ho­sen­ta­sche und frag­te: »Also, was willst du ei­gent­lich von mir, Po­la­kow­ski? Hast du nicht al­les be­kom­men, was du zu krie­gen hast?«

»Da­von re­den wir nicht, Herr«, rief Po­la­kow­ski eif­rig. »Von sol­chen Klei­nig­kei­ten re­den wir nicht. Ich weiß, Sie sind ein Ehren­mann, Sie sind ein wirk­lich no­b­ler Mann. Sie kön­nen’s nicht übers Herz brin­gen, einen ar­men Ar­bei­ter im Elend ver­kom­men zu las­sen …«

»Was heißt das, Po­la­kow­ski?«, frag­te ich sehr auf­merk­sam. »Ich glau­be doch, du hast schon ge­nug und über­ge­nug an mir ver­dient. Wenn ich an mei­ne Gold­sa­chen den­ke …«

Er ach­te­te nicht dar­auf. »Se­hen Sie, Herr«, fing er mit sei­ner ein­schmei­chelnds­ten Stim­me an und ließ die Fin­ger knacken, dass es ein Ekel war, »so ein Mensch wie ich ist bloß wie ein Stück Vieh, im Mist ge­bo­ren und kommt nie aus dem Mist her­aus; so ein fei­ner Mann wie Sie kann sich das gar nicht recht vor­stel­len.«

»Ich kann mir eine gan­ze Men­ge von dir vor­stel­len, Po­la­kow­ski«, sag­te ich grim­mig. »Und mit Mist hat das tat­säch­lich zu tun.«

Wie­der ach­te­te er nicht auf mich. Wirk­lich ein­dring­lich und über­zeugt sag­te er: »Und wenn so ein Stück Vieh, Herr, ein Ge­schäft sieht, das ihn aus dem Mist her­aus­holt für sein gan­zes Le­ben, ja, Herr, da kann’s kein Be­sin­nen ge­ben, da wird das Ge­schäft ge­macht, Herr!« Er sah mich an und wie­der­hol­te – dies­mal aber war nichts Sanf­tes und Ein­schmei­cheln­des in sei­ner Stim­me: »Das Ge­schäft wird ge­macht, Herr, und gehe es auf Le­ben und Tod!«

In­ner­lich er­zit­ter­te ich vor der wil­den Dro­hung in sei­ner Stim­me, äu­ßer­lich aber frag­te ich ganz ru­hig: »Und wie soll denn die­ses Ge­schäft aus­se­hen, Po­la­kow­ski?«

Er fuhr sich mit der Hand über die Au­gen, als wi­sche er dort ein bö­ses Bild fort. Er fing an zu lä­cheln, schmei­chelnd und sanft, er hat­te sich wie­der in der Ge­walt. »Wie das Ge­schäft aus­se­hen soll, Herr?« Er lä­chel­te noch stär­ker, sei­ne Fin­ger knack­ten. »Der Herr weiß am bes­ten, wie viel Geld er von der Bank ab­ge­holt hat und was er mir da­von ge­ben will.«

Ich war starr über die­se Frech­heit, ich hat­te er­war­tet, dass er das Sil­ber für sich be­an­spru­chen wür­de, und war schon halb und halb be­reit ge­we­sen, es ihm zu­zu­ge­ste­hen, aber dass er einen An­teil von mei­nem kost­ba­ren Geld ver­lan­gen wür­de, das hat­te ich nicht er­war­tet. »Sie sind ein Narr, Po­la­kow­ski«, lach­te ich. »Au­ßer­dem ha­ben Sie schlecht auf­ge­passt, ich habe auf der Bank nicht einen Pfen­nig Geld be­kom­men, mei­ne Frau hat das Kon­to für mich sper­ren las­sen, ich darf dort kein Geld mehr ab­he­ben, ver­ste­hen Sie?«

Er hör­te mir mit düs­te­rem Schwei­gen zu.

Ich griff in die Sei­ten­ta­sche des Jacketts und zog den Rest des Gel­des her­vor, das ich aus Mag­das Kas­set­te ge­nom­men hat­te. »Da, se­hen Sie selbst, das ist al­les Geld, das ich noch be­sit­ze.« Ich hielt ihm das Geld hin.

Sein dunk­ler arg­wöh­ni­scher Blick wan­der­te von mei­nem Ge­sicht zu dem Geld in mei­ner Hand. »Wie viel Geld ist das?«, frag­te er mit sto­cken­der Stim­me. »Zei­gen Sie mal!« Er stand ganz nahe vor mir, die Au­gen nahe über dem Geld.

Dann, mit ei­ner mich völ­lig über­ra­schen­den, plötz­li­chen Be­we­gung, griff er in mei­ne Brust­ta­sche und riss die Geld­pa­ke­te her­aus. Ein oder zwei fie­len zur Erde, auf den nas­sen, schmie­ri­gen Stein­bo­den des Pis­soirs – wir bück­ten uns gleich­zei­tig nach ih­nen. Sei­ne Hän­de wa­ren schnel­ler, aber ich griff, das Ver­geb­li­che mei­ner Nach­su­che ein­se­hend, nach sei­nem Hals, ich krall­te mich an ihm fest, ich war ent­schlos­sen, nicht eher los­zu­las­sen, bis er nach­ge­ge­ben, bis ich das Geld zu­rück­hat­te … Er ver­such­te, sich zu weh­ren, aber an der Ab­wehr hin­der­te ihn sei­ne Gier, in bei­den Hän­den hielt er Geld, das er nicht wie­der los­las­sen woll­te … Er schnell­te das Knie hoch, ge­gen mei­nen Bauch … Ei­nen Au­gen­blick spä­ter wälz­ten wir uns bei­de am Bo­den, ich im­mer noch an sei­nem Hals hän­gend, er wild mit den Glie­dern zu­ckend, wie ein Fisch, den der Ang­ler an Land ge­zo­gen … Dann wur­den sei­ne Glie­der schlaff, aus sei­ner Keh­le kam ein schreck­li­ches Rö­cheln … Ich ließ ihn los und müh­te mich, sei­ne Hand auf­zu­bre­chen …

Ich möch­te wohl wis­sen, was der bie­de­re Post­vor­ste­her Win­der sich ge­dacht hat, als er da zwei Män­ner auf dem Bo­den des Pis­soirs vor­fand, in wil­dem Kampf be­grif­fen, wäh­rend er doch nur ein fried­li­ches Mor­gen­ge­schäft ver­rich­ten woll­te! »Aber mei­ne Her­ren! Ich bit­te Sie!« rief er mit ho­her er­schro­cke­ner Stim­me aus. »Hier auf der Toi­let­te! Mei­ne Her­ren!«

Po­la­kow­ski, der wie­der Luft be­kom­men hat­te, sah sei­ne Chan­ce – mit ei­nem Satz war er hoch, griff sich den Kof­fer und war, den Post­vor­ste­her zur Sei­te sto­ßend, aus der Toi­let­te, kei­ner hat­te bis drei zäh­len kön­nen, so schnell ging das.

Ich stand tau­me­lig und be­nom­men auf, zu ir­gend­ei­nem ra­schen Ent­schluss un­fä­hig. Ich trat an ei­nes der Be­cken, dem ver­stör­ten und em­pör­ten Vor­ste­her den Rücken keh­rend. Der sag­te: »Herr Som­mer, wenn ich nicht irre? Ich wun­de­re mich, Herr Som­mer, ich muss mich sehr über Sie wun­dern!« Ei­nen Au­gen­blick fühl­te ich noch sei­nen ste­chen­den Blick in mei­nem Rücken, dann klapp­te eine Lo­kus­tür, ein Rie­gel klirr­te, Klei­der ra­schel­ten – ich war al­lein, mei­nen Ab­gang zu be­werk­stel­li­gen.

Und ge­ra­de in die­sem Mo­ment, da ich, völ­lig ver­zwei­felt, ohne Geld, die An­stalt ver­las­sen woll­te, fiel mein Blick seit­lich auf ein blau­es Bün­del, und – sie­he da – hier lag, ver­drückt und be­schmutzt, ein Pa­ket Hun­dert­mark­schei­ne, ein runder Tau­sen­der in zehn Hun­dert­mark­schei­nen!

21

Kei­ner, der so­eben einen schö­nen rinds­le­der­nen Hand­kof­fer mit sei­nen bes­ten Sa­chen und al­lem Sil­ber, kei­ner, der so­eben von fünf­tau­send Mark vier­tau­send ver­lo­ren hat, kann sich auch nur eine lei­se Vor­stel­lung da­von ma­chen, ein wie glück­li­cher Mann in ei­nem Ab­teil zwei­ter Klas­se eine Vier­tel­stun­de spä­ter von sei­ner Hei­mat­stadt fort­fuhr. Weiß es der Him­mel, wie das in mir funk­tio­nier­te, aber ich bil­de­te mir wahr­haf­tig ein, ich sei den elen­den Po­la­kow­ski aus­neh­mend bil­lig los­ge­wor­den und kön­ne dem Him­mel gar nicht ge­nug dan­ken, dass ich we­nigs­tens noch tau­send Mark aus die­sem Zu­sam­men­bruch ge­ret­tet hat­te.

Frei­lich darf ich nicht ver­schwei­gen, dass zu die­sem Glücks­ge­fühl ganz we­sent­lich der Um­stand bei­trug, dass ich in mei­ner Ho­sen­ta­sche trotz des Ring­kamp­fes die Korn­fla­sche heil und un­aus­ge­lau­fen vor­ge­fun­den hat­te. Ich hat­te be­reits einen kräf­ti­gen Schluck aus ihr ge­nom­men, und die­ser Schluck trug wohl we­sent­lich zu mei­ner op­ti­mis­ti­schen Be­ur­tei­lung der Sach­la­ge bei. Ich sah be­hag­lich in das vor­über­glei­ten­de grü­ne Land mit wei­den­den Kü­hen und ru­hen­den Wäl­dern und mach­te mir über mei­ne Zu­kunft auch nicht die ge­rings­ten Sor­gen mehr. Vor­der­hand hat­te ich ge­nug zu le­ben (und zu trin­ken), und was dann kam, wür­de sich auch fin­den. Ir­gend­wie wür­de ich schon durch­kom­men; ich bil­de­te mir näm­lich ein, dass ich die Aben­teu­er des heu­ti­gen Ta­ges mit vol­lem Er­folg be­stan­den hät­te, wo­bei ich die Be­su­che im War­te­saal und auf der Bank als Sie­ge zu mei­nen Guns­ten buch­te, wäh­rend ich die Nie­der­la­ge bei Po­la­kow­ski als un­ver­meid­ba­res Na­tur­er­eig­nis mit ge­las­se­nem Ach­sel­zu­cken hin­nahm.

Ge­gen Mit­tag war ich an mei­nem Be­stim­mungs­ort (den ich nur ge­wählt hat­te, um et­wai­ge Nach­for­scher ir­re­zu­füh­ren) an­ge­langt. Es war ein klei­ner, noch we­nig be­kann­ter, aber sehr ge­pfleg­ter Luft­kur­ort. Ich aß in ei­nem Ho­tel am Was­ser grü­nen Aal mit ei­ner Dill­sau­ce und Gur­ken­sa­lat, wo­bei ich mir die Son­ne, ohne zu rücken, aufs Haupt schei­nen ließ, trank einen schö­nen, voll aus­ge­reif­ten Bur­gun­der und stell­te Be­trach­tun­gen dar­über an, ein wie be­hag­li­ches Le­ben ich doch jetzt als ein von den Ge­schäf­ten zu­rück­ge­zo­ge­ner Pri­vat­mann und hal­ber Jung­ge­sel­le füh­ren könn­te.

Nach dem Es­sen bum­mel­te ich durch das Städt­chen, kauf­te eine Ak­ten­ta­sche, zwei bun­te sei­de­ne Py­ja­mas, wie ich sie nie so pa­pa­gei­en­haft be­ses­sen, raf­fi­nier­tes­tes Toi­let­ten­zeug, eine wohl­rie­chen­de Sei­fe und ein fran­zö­si­sches her­bes Par­füm, mit dem ich mich ver­suchs­wei­se gleich be­gie­ßen ließ – und scherz­te da­bei in ei­ner so welt­män­nisch über­le­ge­nen, lie­bens­wür­di­gen Art mit den jun­gen Ver­käu­fe­rin­nen, dass ich je­den­falls einen leb­haf­ten Re­spekt vor mei­nen bis­lang un­ge­nütz­ten Ta­len­ten als Her­zens­bre­cher und Schwe­re­nö­ter be­kam. Als lo­gi­sche Fol­ge­rung kauf­te ich mir so­fort da­nach in ei­ner Dro­ge­rie wie­der ein­mal wohl­rie­chen­de Mund­pil­len.

Dann such­te ich das an­ge­se­hens­te Ho­tel am Plat­ze auf, das auch mit ei­ner Wein­hand­lung ver­bun­den war, um dort ei­ni­gen Schnaps zu kau­fen. Ich hat­te das Glück, den Be­sit­zer selbst an­zu­tref­fen, einen wohl­be­leib­ten, weiß­haa­ri­gen Mann, des­sen blü­hend ro­tes Ge­sicht von man­cher in stil­ler Be­hag­lich­keit ge­leer­ten Bur­gun­der­fla­sche Zeug­nis ab­leg­te. Er lä­chel­te ein we­nig über mei­nen pri­mi­ti­ven Korn­wunsch, emp­fahl und ver­kauf­te mir einen bern­stein­gel­ben säch­si­schen Korn und lenk­te dann mei­ne Auf­merk­sam­keit auf ein sehr hoch­pro­zen­ti­ges Schwarz­wäl­der Zwetsch­gen­was­ser, einen rich­ti­gen Holz­fäl­ler­schnaps bei ei­si­ger Win­ter­käl­te, wie er ihn nann­te.

 

Er schenk­te mir ein Pro­be­gläs­chen ein, und ich muss ge­ste­hen, die­ser Pro­be­schluck be­geis­ter­te mich so, dass ich dem ers­ten Glas in ra­scher Fol­ge eine gan­ze Rei­he wei­te­rer fol­gen ließ. Dies war ge­ra­de das Rich­ti­ge für mich, eine Stei­ge­rung weit über mei­ne bis­he­ri­gen pri­mi­ti­ven Er­fah­run­gen hin­aus: Bren­nend und scharf und doch et­was von der Süße rei­fen Obs­tes in sich ber­gend. Ich kauf­te gleich fünf Fla­schen, ein hand­li­ches Pa­ket wur­de aus mei­nem Ein­kauf ge­macht, und so wan­der­te ich, nach­dem ich in ei­nem La­den noch einen be­son­ders kräf­ti­gen Kor­ken­zie­her er­stan­den hat­te, wohl­aus­ge­rüs­tet und in mun­ters­ter Stim­mung wie­der dem Bahn­hof zu.

Wie­der reis­te ich und fuhr die­sel­be Stre­cke, die ich heu­te früh ge­kom­men war; ich fuhr wie­der mei­ner Va­ter­stadt zu. Eine Sta­ti­on vor­her aber stieg ich aus und mar­schier­te, schon fiel die Nacht ein, kaum eine hal­be Stun­de weit zu je­nem Land­g­ast­hof, in dem Eli­nor, die Kö­ni­gin des Al­ko­hols, wohn­te. Ver­ges­sen war die miss­glück­te Nacht in ih­rer Kam­mer, ver­ges­sen das be­schä­men­de Ge­la­ge, in dem mich vor den Au­gen der Ärz­te alle mei­ne Zech­kum­pa­ne ver­las­sen hat­ten, ver­ges­sen wa­ren die so bos­haft ins Auto hin­ein­ge­reich­ten Schu­he! Der Al­ko­hol hat kein Ge­dächt­nis, macht er zor­nig, so kann ein Wort, ein Gläs­chen schon die­sen Zorn wie­der aus­lö­schen – ich wuss­te nur, dass nach mei­nen Er­fah­run­gen mit Mag­da und Po­la­kow­ski jetzt Eli­nor mei­ne Zuf­lucht war. Bei ihr woll­te ich blei­ben, oder mit ihr woll­te ich rei­sen – das war al­les, was ich noch an Le­bens­glim­men hat­te, und es schi­en mir völ­lig ge­nug.