16
Ich stehe in Strümpfen auf der Diele meines Hauses, die Schuhe habe ich schon im Vorplatz gelassen. Es ist noch dunkel, aber nun tastet meine Hand nach dem Schalter, ein leises Knacken, und es wird hell. Ja, hier bin ich wieder bei mir zu Hause, hier gehöre ich her, in diese Ordnung und Sauberkeit! Mit einer fast andächtigen Scheu betrachte ich diese kleine schmucke Diele mit dem resedafarbenen Teppich, von dem längst die hässlichen Spuren jener Novembernacht getilgt sind; ich sehe den Kleiderständer an, an dem ordentlich auf Bügeln nebeneinander Magdas grüne Kostümjacke und ein bläulicher Sommermantel hängen …
Und nun schleiche ich mich zum Spiegel, zu dem großen, langen Spiegel, in dem man sich von oben bis unten sehen kann, und ich betrachte mich von oben bis unten. Und ein fürchterlicher Schrecken packt mich, wie ich mich da stehen sehe in meinen ausgebeulten, beschmutzten Kleidern, mit dem grauschwarzen Halskragen, dem stoppligen fahlen Gesicht, den rotgeränderten Augen.
›Das ist aus mir geworden!‹, schreit es in mir, und mein erster Impuls ist es, hinüberzustürzen zu Magda, vor ihr auf die Knie zu fallen und sie anzuflehen: ›Rette mich! Rette mich vor mir selbst! Birg mich an deinem Herzen!‹ Aber diese Regung verfliegt; ich lächle mein Spiegelbild listig-verschlagen an. ›Das möchte sie‹, denke ich. ›Und dann ab mit dem Mann in eine Trinkerheilanstalt und rein in Geschäft und Vermögen!‹
Listig sein. Immer listig sein. Und ich rücke mir eilig einen Stuhl an den großen Kleiderschrank in der Diele, ich lange hinauf und hole mir einen Handkoffer herunter, den besten Handkoffer, den wir besitzen, einen vollrindledernen; eigentlich gehört er sogar Magda, ich habe ihn ihr einmal zum Geburtstag geschenkt. Aber darauf kommt es jetzt nicht an, außerdem – gehört nicht Eheleuten alles gemeinsam?
In der nächsten Viertelstunde entfalte ich eine fieberhafte Tätigkeit, ich packe meinen Mantel ein, zwei Anzüge, Wäsche. Aus dem Badezimmer hole ich mein Toilettenzeug. Magda wird sich morgen früh wundern! Aus dem Schuhschrank hole ich zwei Paar Schuhe, Hausschuhe – ich richte alles wie zu einer großen Reise. Und jetzt ist mir wirklich so, als würde ich eine große Reise antreten, vielleicht, vielleicht ist Elinor diesmal zugänglicher.
Nun bin ich mit all diesen Dingen fertig, und ehe ich jetzt an das Schwerste gehe, setze ich mich einen Augenblick auf die Diele, trinke und ruhe mich aus. Ich merke doch sehr, wie schwach ich in den letzten Wochen geworden bin, dies bisschen Packen hat mich über Gebühr angestrengt, mein Herz flattert, ich bin von Schweiß bedeckt.
Dann mache ich mich wieder ans Werk. Bis jetzt ist alles ausgezeichnet gegangen, ich habe kein Geräusch gemacht, das einen normalen Schläfer erwecken könnte, nichts fiel mir aus den Händen. Aber, wie gesagt, das Schwerste steht mir noch bevor. Ich ziehe die Schublade unter dem Spiegel auf, und siehe, da liegt wirklich die elektrische Taschenlampe! Ich knipse, und siehe, sie brennt tatsächlich! Es geht doch nichts über einen gut geordneten Haushalt – heil dir, Magda!
Ich knipse alles Licht aus und schleiche mit der Taschenlampe in unser Wohnzimmer. Es liegt direkt neben dem Schlafzimmer und ist von ihm nur durch eine zweiflüglige, mit bunten Glasscheiben verzierte Tür getrennt, durch die jeder Lichtschein und jedes Geräusch dringen. Im Dunkeln taste ich mich zum Schreibtisch hin, in dessen Mittelfach in einer kleinen Geldkassette unser Bargeld liegt. Im Allgemeinen ist dort nur das für den Haushalt notwendige Geld, also nur wenig; haben wir abends aber noch Einnahmen im Geschäft gehabt, die zur Bank zu bringen es zu spät war, so nahmen wir das Geld mit hierher. Ich war doch sehr gespannt, wie viel ich finden würde.
Es gelang mir, das Fach ohne jedes Geräusch zu öffnen und die Kassette herauszuholen; ich brauchte nicht einmal die Taschenlampe anzuknipsen. Ebenso fand ich im völlig Dunklen das neben der Kassette liegende Scheckbuch. Ich schob es in die Tasche und trug die Kassette behutsam Schritt für Schritt in die Diele, setzte sie erst ab, schloss die Tür und knipste das Licht an.
Es klingt seltsam, aber ich habe so etwas wie ein Gebet verrichtet, ehe ich die Kassette aufschloss. Ich betete zu dem so lange vergessenen lieben Gott, er möge es doch bewirken, dass recht viel Geld in der Kasse sei. Viel Geld, um dieses Leben zwischen Trunkenheit und Übelkeit noch lange fortzusetzen, noch viel mehr Geld, um Elinor, la reine d’alcool, zu verführen, mit mir auf Reisen zu gehen. Mit keinem Gedanken beschäftigte mich die Lage, in die ich mein eigenes Geschäft durch solch eine Entnahme bringen würde. Ja, ich glaube, wenn ich daran gedacht hätte, ich hätte umso mehr frohlockt, je größer der Schaden für meinen eigenen Betrieb geworden wäre.
Ich hatte also mein Gebet verrichtet und öffnete die Kassette. Ich hob das obere Fach an, in dem nur Hartgeld lag, und sah gierig nach den Scheinen. Meine Enttäuschung war grenzenlos. Nur ganz wenige Scheine lagen da; als ich sie durchzählte, waren es nicht viel mehr als fünfzig Mark.
Ich sehe mich noch dastehen, die wenigen Scheine in der Hand, ein eisiges Gefühl im Herzen. ›Dies ist das Ende‹, dachte ich, ›das reicht weder für Elinor noch für Polakowski. In zwei, drei Tagen ist dies Geld zu Ende, und dann gibt es nur ergeben, zu Kreuze kriechen, die Kaltwasserheilanstalt, die endgültige Aufgabe aller Hoffnungen.‹ So stand ich da, den Tod im Herzen, lange, o so lange …
Dann kam wieder Leben in mich. Ich sah wieder Polakowskis gelbliches Gesicht vor mir mit dem dunklen Vollbart; ich hörte seine sanfte Stimme etwas von Schmuck und Silber flüstern … Schmuck kam nicht infrage. Das bisschen Schmuck, das Magda besaß, war kaum etwas wert, außerdem bewahrte sie ihn im Toilettentisch des Schlafzimmers auf. Aber Silber – ja, Silber hatten wir. Schönes, schweres, altes Tafelsilber, ein Gelegenheitskauf auf einer Auktion. Im Koffer war noch Platz genug …
Ich trank schnell und viel, ich trank die ganze Flasche auf einmal leer. Es war noch gut ein Drittel in ihr gewesen. Einen Augenblick überschwemmte die plötzliche starke Alkoholzufuhr meinen Körper wie mit einer roten Woge, ich schloss die Augen, ich zitterte. Würde ich brechen müssen? Aber der Anfall ging vorüber, ich hatte mich wieder in meiner Gewalt.
Rasch ging ich ins Speisezimmer und knipste dort den Kronleuchter an. Die eben noch so ängstlich gewahrte Vorsicht brauchte ich nun nicht mehr. Ich schloss das Büfett auf und nahm das Silber, das dutzendweise in Flanellfutteralen steckte (wir brauchen es nur bei festlichen Gelegenheiten), heraus. Ich häufte es erst neben mir auf, dann trug ich es fort, große Löffel, Messer und Gabeln, die kleinen Bestecke, die Fischbestecke … Ich stopfte alles in den Koffer, wie es kam. Nun fehlten nur noch die silbernen Auffülllöffel, das Salat- und das Tranchierbesteck, die lose in einer besonderen Schieblade lagen. Ich nahm sie eilig heraus; plötzlich hetzte mich etwas, ich musste fort aus diesem Haus! Ein Löffel fiel klirrend zu Boden, ich fluchte laut, griff nach ihm und ließ einen zweiten Löffel fallen.
Ungeduldig riss ich an der Schieblade, um sie ganz herauszuziehen und das Einzelsilber in ihr zum Koffer zu tragen. Die Schieblade gab überraschend schnell nach und fiel polternd auf das Silbergeschirr, das hell ertönte. Ich raffte alles zusammen, wie ich es fassen konnte, jetzt ohne jede Rücksicht auf den Lärm, den ich machte, und eilte damit zum Koffer. Im Gehen fielen zwei, drei Löffel. Ich warf das Mitgebrachte obenauf in den Koffer und lief zurück, das Verlorene zu holen.
Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte auf Magda, die mitten im Speisezimmer vor ihrem aufgerissenen Büfett stand!
17
Sie wendete den Kopf und sah mich an, lange. Ich merkte, wie sie erschrak, wie sie schnell atmete, sich zu sammeln versuchte. »Erwin«, sagte sie dann mit stockender Stimme, »Erwin! Wie siehst du aus!? Wo kommst du her in diesem Zustand? Wo bist du so lange gewesen? Ach, Erwin, Erwin, wie ich mich geängstigt habe um dich! Dass wir uns so wiedersehen müssen! Erwin, denke daran, dass wir uns einmal lieb gehabt haben! Zerstöre doch nicht alles! Komm wieder zu mir. Ich will dir helfen, so gut ich kann. Ich will so geduldig sein, nie wieder werde ich mich mit dir streiten …« Sie hatte immer schneller geredet, atemlos hielt sie inne und sah mich flehend an.
Mich aber bewegten ganz andere Gefühle. Mit Zorn, mit Hass, mit Abneigung sah ich auf diese gepflegte, vom Schlaf gerötete Frau in ihrem seidenen blauen Schlafrock, ich, der aussah, als hätte ich mich in der Gosse gewälzt, ich, der stank wie ein Wiedehopf. Ich glaube, es muss die Mahnung an unsere Liebe von ehemals gewesen sein, die mich in eine so sinnlose Wut versetzte. Ihre Worte, statt mich zu rühren, hatten mich nur den Abstand gegen das längst versunkene Damals fühlen gemacht. Wir waren gleichgestellt, und da stand sie und hatte alles, und hier war ich, ein Kandidat des Nichts.
Zornig stolperte ich auf Magda los, ich fiel dabei beinahe über einen silbernen Auffülllöffel, sah mich wütend nach ihm um, tat einen Schritt zurück und zertrat ihn. Magda schrie leise auf. Ich aber eilte auf sie zu, hob meine Fäuste gegen sie und schrie: »Ja, das möchtest du, dass ich zu dir zurückkomme! Und was wird dann? Was wird dann?!« Ich schüttelte die Fäuste nahe vor ihrem Gesicht. »Dann bringst du mich ins Bett und siehst schön zu, dass ich schlafe, und wenn ich erst schlafe, dann lässt du die Ärzte kommen und lässt mich wegbringen, für Lebenszeit in eine Trinkerheilstätte, und dann lachst du dir ins Fäustchen und tust mit meinem Eigentum, was du willst. – Ja, das möchtest du.«
Ich starrte sie an, auch ich jetzt atemlos. Und Magda sah mich wieder an. Sie war jetzt sehr blass geworden, aber ich sah wohl, dass sie trotz meines wilden Gebarens und Drohens keine Angst vor mir hatte. Plötzlich schlug meine Stimmung um; meine Erregung war gewichen, und kalt und ruhig sagte ich: »Ich will dir sagen, was du bist. Ein ganz gemeines Aas bist du, ins Gesicht sage ich dir das.«
Sie zuckte nicht, sah mich nur an.
»Eine Verräterin bist du, unsere ganze Ehe hast du verraten, als du die Ärzte hinter mir herschicktest. Ins Gesicht müsste ich dir speien, pfui Deibel!«
Wieder sah sie mich an. Dann sagte sie rasch: »Ja, ich habe die Ärzte hinter dir dreingeschickt, aber nicht um dich zu verraten, sondern um dich zu retten – wenn das noch möglich ist. Wenn du noch einen Funken Vernunft hättest, Erwin, müsstest du das einsehen. Du müsstest verstehen, dass du so nicht einen Monat weiterleben kannst, vielleicht nicht eine Woche mehr …«
Ich unterbrach sie. Ich lachte höhnisch. »Nicht einen Monat mehr? Keine Woche? Noch Jahre kann ich so leben, ich halte alles aus, und gerade dir zum Trotz werde ich so weiterleben, gerade dir zum Trotz.« Ich beugte mich ganz nahe zu ihr. »Soll ich dir sagen, was ich tun werde, wenn ich das nächste Mal ganz betrunken bin? Dann werde ich vor dein Fenster ziehen, und ich werde es vor allen Leuten ausschreien, dass du eine Verräterin bist, ein gieriges Aas, gierig nach meinem Geld, gierig nach meinem Verrecken …«
»Ja«, sagte sie böse, »das glaube ich wohl, dass du dazu imstande bist. Dann aber wirst du nicht nur in eine Heilanstalt, sondern sogar in ein Gefängnis kommen – und ich weiß nicht«, sagte auch sie jetzt sehr höhnisch, »ob dir das nicht sehr gut wäre.«
»Was?«, schrie ich, und meine Wut war jetzt auf dem Höhepunkt, »jetzt willst du mich auch noch ins Gefängnis bringen?! Warte, das sollst du nicht noch einmal sagen! Ich will dir zeigen …« Ich fasste nach ihr, ich sah rot. Ich wollte nach ihrem Halse greifen, aber sie widersetzte sich kräftig. Sie war wirklich fast ebenso stark wie ich, und in meinem jetzigen Zustand war sie vielleicht sogar erheblich stärker. Wir rangen miteinander, es war ein süßes Gefühl, diesen einst so geliebten Leib nun feindlich, aber doch so nahe zu spüren, jetzt die Brust, einen sich gegen mich stemmenden Schenkel.
Der Gedanke schoss mir durch den Kopf: ›Wenn du sie jetzt plötzlich küssen, wenn du ihr Liebesbeteuerungen ins Ohr flüstern würdest! Ob du sie herumbekämst?‹ Ich flüsterte ihr ins Ohr: »Nächste Nacht komme ich und bringe dich um. Ganz leise komme ich …«
Laut rief Magda: »Nein, nein, es ist gut, Else, ich werde schon allein mit ihm fertig! Rufen Sie Dr. Mansfeld an und die Polizeiwache, ich halte ihn hier schon!«
Ich drehte mich überrascht um. Wirklich, da stand Else, vom Geräusch unseres Kampfes herbeigelockt, bildhübsch anzusehen; und jetzt verschwand sie in der Diele zum Telefon.
Mit einem Ruck riss ich mich frei. »Mich bekommst du noch lange nicht, Magda!« Ich gab ihr einen Stoß, dass sie rücklings hinfiel. Laufend raffte ich die noch verstreuten Silbersachen auf, auch den zerbrochenen Auffülllöffel, und rannte auf die Diele. Ich warf alles in den Koffer und mühte mich ab, den Deckel zu schließen.
Schon war Magda wieder da. »Die Sachen schleppst du nicht weg! Mein Silber bleibt hier, das versäufst du nicht auch noch!«
Einen Meter ab telefonierte Else eifrig. Ich hörte den Satz: »Er will seine Frau ermorden!«
›Gott, du Kind!‹, dachte ich.
Wir beide rissen am Koffer. Dann ließ ich ihn überraschend los, und wieder taumelte Magda zur Erde. Ich riss den Koffer aus ihrer Hand, schlug ein- oder zweimal nach ihr, rannte auf den Vorplatz, fasste meine Schuhe und lief in Strümpfen auf die Straße. Einen Augenblick stutzte ich …
»Geben Sie mir den Koffer, Herr!«, sagte die einschmeichelnde sanfte Stimme Polakowskis. »Ich laufe immer schon vor. Los, da kommen die Frauen!« Ganz mechanisch gab ich Polakowski den Koffer, er lief los, und ich rannte hinter ihm drein, in die Nacht hinaus, auf Strümpfen …
18
Polakowski rannte mit dem Koffer, er wich vom nächsten Wege ab, stürzte sich in die Altstadt, lief durch Gassen und Gässchen, wobei er überraschend um Ecken bog; ich lief ihm nach. Es war sehr dunkel, nur weil er Schuhe trug und dadurch beim Laufen Lärm machte, konnte ich ihm überhaupt folgen. Ich bin ganz sicher, dass Polakowski die Absicht gehabt hatte, mit dem ganzen Koffer erst einmal völlig zu verschwinden und mich hilflos auf der Straße zu lassen, und er glaubte ja auch wirklich, mich abgeschüttelt zu haben: Meinen leisen Schritt auf Strümpfen hatte er nicht gehört. Aber als er schließlich atemholend doch stillstand, war ich neben ihm und fragte ihn, warum er denn so sinnlos gelaufen sei, es wäre uns ja doch niemand nachgelaufen!
Der Schurke war nicht einen Augenblick verlegen, wusste auch seine Enttäuschung über mein Auftauchen gut zu verbergen und fragte dagegen: »Es hat doch Krach mit den Weibern gegeben? Die Weiber haben doch geschrien? Was haben Sie den Weibern getan?«
»Nichts, was Sie mir nicht geraten haben, Polakowski«, lachte ich. »Ich habe sie auf eure ›Arbeiterart‹ zu ängstigen versucht, nämlich mit Schlägen. Aber es ist nicht viel draus geworden. Übrigens ist es wohl selbstverständlich, dass eine Frau sich widersetzt, wenn man ihr das Silber fortnimmt. Ich habe das Silber, Polakowski.«
»So, haben Sie es?«, antwortete der Abgefeimte. »Nun kommt es drauf an, ob es auch etwas bringt. Das meiste Silber ist leicht und hohl, oder die Fasson ist unmodern. Silber, das nur zum Einschmelzen taugt, ist kaum ein paar Mark wert.«
»Sie brauchen sich darum nicht zu sorgen, Polakowski«, sagte ich böse. »Ich werde mein Silber ohne Sie verwerten – wenn ich es überhaupt verkaufe, was ich noch nicht weiß. So, und nun möchte ich meinen Koffer allein weitertragen.«
Ich hatte während unserer Unterhaltung meine Schuhe angezogen und nahm jetzt den Koffer auf, trotz der flehentlichen Proteste Polakowskis. Endlich hatte ich gerade den rechten Ton ihm gegenüber getroffen, der Alkohol, der ja immer neue, immer andere Stimmungen heraufspült, hatte ihn mir eingegeben. Jetzt war Polakowski wieder ganz Ohrwurm, er beteuerte, er sei nur ein armer Arbeiter, unfähig, mit einem wirklich gebildeten Menschen umzugehen. Natürlich würde mein Silber gut sein, sehr gut, ich möge es seiner Dummheit zugutehalten, wenn er geglaubt habe, ein Mann wie ich könne minderwertiges Silber haben. Ich verharrte in einem vorgeblichen finsteren Schweigen, das ihn immer unruhiger machte, über das ich mich selbst aber innerlich vor Lachen schüttelte. Zu Hause angekommen, trug Polakowski, ohne sich erst bitten zu lassen, die wirklich bereitgehaltene Flasche Korn herbei; ich griff in die Tasche und fragte nur: »Wie viel?«
»Zwei Mark fünfzig«, flüsterte er, sehr demütig.
»Hier haben Sie Ihr Geld, und dass Sie mir nie wieder einen so schlechten Fusel bringen! Habe ich sonst noch was zu zahlen?«
Er versicherte, dass alles beglichen sei.
»Gut, dann machen Sie, dass Sie herauskommen! Ich will jetzt schlafen.«
Er schob sich aus der Tür, ich hatte es fertiggebracht, ihn verlegen und demütig zu machen.
Mir aber war weder nach Schlafen noch nach Trinken zumute. Der Durst nach Betäubung hatte ausgesetzt, ich bekam aus rätselhaften Gründen eine kurze Schonzeit, während der ein Stück des tätigeren Menschen, der ich einst gewesen, wieder auftauchte. Vielleicht kam das von der eben überstandenen Szene mit Magda, die mich doch sehr aufgewühlt hatte – freilich mühte ich mich, so wenig wie nur möglich an sie zu denken.
Eine Weile saß ich grübelnd auf dem Sofa. Mit unerbittlicher Klarheit stand vor mir, dass ich nach dem Geschehenen nie wieder nach Hause kommen konnte. Mein alter Plan, mich selbst des Alkohols zu entwöhnen und als ein Gesunder vor Magda und die Ärzte zu treten, war endgültig zusammengebrochen – übrigens hatte ich in meinen nüchternen Stunden selbst nie recht an ihn geglaubt. Es war aber auch unmöglich, es widerstand mir bis zum Ekel, hier noch länger bei Polakowski zu hausen; das Ende konnte nur Irrsinn heißen. Ich musste einen anderen Weg finden, und ich glaubte, auch eine Ahnung von der Art dieses Weges zu haben. Vieles musste ich wagen in den nächsten vierundzwanzig Stunden, nicht als berauschter Mann durfte ich an mein Werk gehen.
Es mag morgens zwischen drei und vier Uhr gewesen sein, als ich von meinem Sofa aufstand und anfing, den Koffer auszupacken. Ich wusch mich dann von Kopf bis zu Füßen, zog mich halb an und rasierte mich mit größter Sorgfalt. Alles ging unendlich langsam. Das Zittern meiner Hände war so stark, dass ich ein paarmal daran verzweifelte, mich rasieren zu können, aber schließlich gelang es doch. Aus unbekannten Urgründen meines Seins war eine neue Energie in mir aufgestiegen, sie ließ mich aushalten, sie gab es nicht zu, dass ich mehr als ganz kleine Schlucke in langen Zeitabständen zu mir nahm.
Als ich schließlich völlig frisch angezogen und gewaschen mich im Spiegel musterte, war ich selbst erstaunt, wie gut ich noch aussah. Gewiss, meine Augen waren gerötet, mit stecknadelkleinen Pupillen, und die Backen hingen etwas, aber niemand konnte mir einen Trinker ansehen. Ich konnte es morgen früh wagen, und ich würde es wagen.
Ich ging nicht mehr ins Bett. Ich schlug die Decke um mich und setzte mich auf das Sofa, den Morgen zu erwarten. Dabei lauschte ich in das Haus. Es war ganz still, aber ich hatte die feste Überzeugung, dass Polakowski nicht schlief, sondern mich belauerte. Nun, ich würde warten, und ich traute mir auch zu, ihn zu überlisten.
Ich hatte ein Wasserglas mit Korn gefüllt, ehe ich mich auf das Sofa gesetzt hatte, und die Flasche mit dem ganzen Rest in die fernste Ecke meiner Stube gestellt: Mit diesem Wasserglas Korn musste ich bis zum Morgen auskommen, hatte ich bestimmt. Aber ich nippte nur daran; nach der ungewohnten Beschäftigung dieser Nacht war ich todmüde, ich lehnte mich zurück, und schon war ich eingeschlafen.
Ich erwachte von einem leise klirrenden Geräusch. Ich öffnete halb die Augen und blinzelte in die Stube, in der das Licht der Morgensonne bereits die Überhand über den Schein der Glühlampe gewonnen hatte. Über meinen Koffer gebeugt stand Polakowski, er hatte aus einem Futteral ein Tafelmesser gezogen, musterte es kritisch und wog es in der Hand. Eine ganze Weile sah ich zwischen zusammengekniffenen Lidern dem Schurken zu, wie er zwischen dem Silber herumwühlte, dann rekelte ich mich, gähnte laut, wie jemand, der eben erwacht, und sah in mein Zimmer: Es war leer. Eben sah ich noch, wie sich die Klinke der Tür in die Ruhestellung hob. Ein Blick in den Koffer überzeugte mich davon, dass Polakowski sich vorläufig noch mit einer Musterung des Silbers begnügt hatte, das eigentliche Klauen war wohl für betrunkenere Stunden von mir vorbehalten.
Ich öffnete das Fenster, sah über die Stadt und nach dem Stand der Sonne. Sie hatte sich noch nicht viel über den Horizont erhoben, es mochte zwischen sechs und sieben Uhr sein. Ich rief aus der Tür nach Polakowski; der gute Listenreiche ließ sich eine ganze Weile Zeit, bis er sich meldete. Ich rief ihm nur hinunter, dass ich mein Frühstück haben wollte. Er brachte es sehr rasch, seine zage, sonst fast schafsmäßig sanfte Miene konnte dieses Mal doch ein Gefühl lebhafter Beunruhigung über mein völliges Verändertsein nicht verbergen. Ich tat, als sähe ich nichts, und machte mich zum ersten Mal mit einigem Appetit ans Essen. Der Kaffee war überraschend gut, die Semmeln knusprig und die Butter frisch und kühl – dieser Schurke von Polakowski verstand es entschieden, zu leben.
Während ich aß, brachte Polakowski den Waschtisch und mein Bett in Ordnung, wobei er es nicht lassen konnte, immer wieder heimliche Seitenblicke auf mich abzuschießen. Dazu hüstelte er immer häufiger. Die Kornflasche, die er im Stubenwinkel stehen fand, gab ihm endlich den ersehnten Anlass, ein Gespräch anzuknüpfen. »Sie haben ja fast gar nichts getrunken, Herr!«, sagte er und hielt die Flasche beweisend gegen das Licht.
»Ja, mein lieber Herr Polakowski«, sagte ich spöttisch, aber in bester Laune und bestrich dabei eine Semmel dick mit Butter, »wenn du mir weiter solchen Fusel bringst, werde ich mir das Trinken noch ganz abgewöhnen.«
Er nahm mein »du« ohne zu zucken an. »Es war ein Irrtum, Herr«, knurrte er, »ein Irrtum vom Kaufmann. So wahr ich hier stehe, ich selbst habe vier Mark fünfzig für die Flasche bezahlt, der Kaufmann hat sich vergriffen. Aber ich habe Ihnen natürlich nur den wirklichen Preis berechnet, ich selbst legte die zwei Mark drauf, obgleich ich nur ein armer Mann bin. Ich bin ehrlich, Herr …«
»Rede keinen Blödsinn, Polakowski«, antwortete ich grob. »Du bist so wenig ehrlich, wie du arm bist. Ein alter Gauner bist du, oder vielmehr ein junger, aber gerissen genug für einen alten. Vielleicht mag ich dich darum gerade gerne. – Nimm die Flasche mit«, schrie ich in plötzlich gespieltem Zorn, »und sauf sie selber aus. Und sorge dafür, dass in fünf Minuten eine anständige Sorte hier ist. Da hast du Geld!« Und ich warf ihm einen Schein auf den Tisch.
Er griff eilig nach ihm. »Sofort, wenn die Läden offen sind«, versicherte er.
»Nein, nicht, wenn die Läden offen sind!«,