Hans Fallada – Gesammelte Werke

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72. Anna Quangels Wiedersehen

Die Mo­na­te ka­men, und die Mo­na­te gin­gen, die Jah­res­zei­ten wech­sel­ten, und Frau Anna Quan­gel saß noch im­mer in ih­rer Zel­le und war­te­te auf das Wie­der­se­hen mit Otto Quan­gel.

Manch­mal sag­te die Auf­se­he­rin, de­ren Lieb­ling Frau Anna jetzt war, zu ihr: »Ich glau­be, Frau Quan­gel, die ha­ben Sie ganz ver­ges­sen.«

»Ja«, ant­wor­te­te die Ge­fan­ge­ne 76 freund­lich. »Es scheint bei­na­he so. Mich und mei­nen Mann. Wie geht es Otto?«

»Gut!«, ant­wor­te­te die Auf­se­he­rin rasch. »Er lässt auch grü­ßen.«

Sie wa­ren sich alle ei­nig ge­wor­den, die gute, im­mer flei­ßi­ge Frau den Tod des Man­nes nicht er­fah­ren zu las­sen. Sie be­stell­ten ihr re­gel­mä­ßig Grü­ße.

Und die­ses Mal mein­te es der Him­mel gnä­dig mit Frau Anna: kein mü­ßi­ges Ge­schwätz, kein pflicht­be­wus­s­ter Pas­tor zer­stör­ten ihr den Glau­ben an das Le­ben Otto Quan­gels.

Fast den gan­zen Tag saß sie an ih­rer klei­nen Hand­strick­ma­schi­ne und strick­te St­rümp­fe, St­rümp­fe für die Sol­da­ten drau­ßen, strick­te tag­aus, tagein.

Manch­mal sang sie lei­se da­bei. Sie war jetzt fest da­von über­zeugt, dass Otto und sie sich nicht nur wie­der­se­hen, nein, dass sie auch lan­ge mit­ein­an­der noch le­ben wür­den. Ent­we­der wa­ren sie wirk­lich ver­ges­sen, oder man hat­te sie im Ge­hei­men be­gna­digt. Es konn­te nicht mehr lan­ge dau­ern, und sie wa­ren frei.

Denn so we­nig die Auf­se­he­rin­nen da­von auch spra­chen, das hat­te Anna Quan­gel doch ge­merkt: es stand schlecht drau­ßen mit dem Krieg, und die Nach­rich­ten wur­den von Wo­che zu Wo­che schlech­ter. Sie merk­te es auch an dem sich rasch wei­ter ver­schlech­tern­den Es­sen, an dem oft feh­len­den Ar­beits­ma­te­ri­al, durch den zer­bro­che­nen Teil ih­rer Strick­ma­schi­ne, des­sen Er­satz wo­chen­lang dau­er­te, dass al­les im­mer knap­per wur­de. Aber wenn es schlecht mit dem Krie­ge stand, so stand es gut für die Quan­gels. Bald wa­ren sie frei.

So sitzt sie und strickt. Sie strickt ihre Träu­me, Hoff­nun­gen, die sich nie er­fül­len wer­den, Wün­sche, die sie frü­her nie ge­habt, in die St­rümp­fe. Sie malt sich einen ganz an­de­ren Otto aus, als der ist, an des­sen Sei­te sie ge­lebt hat, einen hei­te­ren, ver­gnüg­ten, zärt­li­chen Otto. Sie ist fast zu ei­nem jun­gen Mäd­chen ge­wor­den, dem das gan­ze Le­ben noch früh­lings­froh winkt. Träumt sie nicht manch­mal so­gar da­von, noch Kin­der zu ha­ben? Ach, Kin­der …!

Seit Anna Quan­gel das Zy­an­ka­li ver­nich­te­te, als sie be­schlos­sen hat­te, nach schwers­tem Kampf, aus­zu­hal­ten bis zum Wie­der­se­hen mit Otto, es möge ihr ge­sche­hen, was wol­le – seit­dem ist sie frei und jung und fröh­lich ge­wor­den. Sie hat sich selbst über­wun­den.

Und nun ist sie frei. Furcht­los und frei.

Sie ist es auch in den im­mer schwe­re­ren Näch­ten, die der Krieg jetzt über die Stadt Ber­lin ge­bracht hat, wenn die Si­re­nen heu­len, die Flie­ger in stets dich­teren Schwär­men über der Stadt zie­hen, die Bom­ben fal­len, die Mi­nen zer­rei­ßend schrei­en und Feu­ers­brüns­te über­all auf­glü­hen.

Auch in sol­chen Näch­ten blei­ben die Ge­fan­ge­nen in ih­ren Zel­len. Man wagt nicht, sie in Schutz­räu­me zu füh­ren, aus Furcht vor Meu­te­rei. Sie schrei­en in ih­ren Zel­len, sie to­ben, sie bit­ten und fle­hen, wer­den wahn­sin­nig vor Angst, aber die Gän­ge sind leer, kei­ne Wa­che steht noch dort, kei­ne er­bar­men­de Hand schließt die Zel­len­tü­ren auf, das Wacht­per­so­nal sitzt in den Luft­schutz­räu­men.

Anna Quan­gel ist ohne Furcht. Ihre klei­ne Rund­ma­schi­ne ti­ckert und tu­ckert, reiht Ma­schen­kreis an Ma­schen­kreis. Sie be­nutzt die­se Stun­den, in de­nen sie doch nicht schla­fen kann, zum Stri­cken. Und beim Stri­cken träumt sie. Sie träumt von dem Wie­der­se­hen mit Otto, und in einen sol­chen Traum bricht oh­ren­zer­rei­ßend die Mine ein, die die­sen Teil des Ge­fäng­nis­ses in Schutt und Asche legt.

Frau Anna Quan­gel hat kei­ne Zeit mehr ge­habt, aus ih­rem Wie­der­se­hens­traum mit Otto auf­zu­wa­chen. Sie ist schon bei ihm. Sie ist je­den­falls dort, wo auch er ist. Wo im­mer das nun auch sein mag.

73. Der Junge

Aber nicht mit dem Tode wol­len wir die­ses Buch be­schlie­ßen, es ist dem Le­ben ge­weiht, dem un­be­zwing­li­chen, im­mer von Neu­em über Schmach und Trä­nen, über Elend und Tod tri­um­phie­ren­den Le­ben.

Es ist Som­mer, es ist der Früh­som­mer des Jah­res 1946.

Ein Jun­ge, ein jun­ger Mann fast schon, kommt über den Hof ei­ner mär­ki­schen Sied­lung ge­gan­gen.

Eine äl­te­re Frau be­geg­net ihm. »Na, Kuno«, fragt sie. »Was gib­t’s heu­te?«

»Ich will in die Stadt«, ant­wor­tet der Jun­ge. »Ich soll un­sern neu­en Pflug ab­ho­len.«

»Na«, sagt sie, »ich schrei­be dir noch auf, was du mir mit­brin­gen kannst – wenn du’s kriegst!«

»Wenn’s nur da ist, dann krie­ge ich es auch schon, Mut­ter!«, ruft er la­chend. »Das weißt du doch!«

Sie se­hen sich la­chend an. Dann geht sie ins Häu­schen zu ih­rem Mann, dem al­ten Leh­rer, der längst das Pen­si­ons­al­ter hat und der noch im­mer sei­ne Kin­der lehrt – wie der Jüngs­te.

Der Jun­ge zieht das Pferd Toni, ih­rer al­ler Stolz, aus dem Schup­pen.

Eine hal­be Stun­de spä­ter ist Kuno-Die­ter Bark­hau­sen auf dem Wege zur Stadt. Aber er heißt nicht mehr Bark­hau­sen, rech­tens und mit al­len For­ma­li­tä­ten ist er von den Ehe­leu­ten Kien­schä­per ad­op­tiert, da­mals, als es klar wur­de, dass we­der Karl noch Max Klu­ge aus dem Krie­ge heim­keh­ren wür­den. Üb­ri­gens ist auch der Die­ter bei die­ser Ge­le­gen­heit aus­ge­merzt: Kuno Kien­schä­per klingt aus­ge­zeich­net und ist völ­lig ge­nug.

Kuno pfeift ver­gnügt vor sich hin, wäh­rend der Brau­ne Toni lang­sam in der Son­ne den aus­ge­fah­re­nen Feld­weg ent­lang­zu­ckelt. Soll er sich Zeit las­sen, der Toni, zum Mit­tag sind sie im­mer wie­der zu­rück.

Kuno sieht auf die Fel­der rechts und links, prü­fend, fach­män­nisch be­ur­teilt er den Saa­ten­stand. Er hat viel ge­lernt hier auf dem Lan­de, und er hat – gott­lob! – fast eben­so viel ver­ges­sen. Der Hin­ter­hof mit der Frau Otti, nein, an den denkt er fast nie mehr, und auch nicht mehr an einen drei­zehn­jäh­ri­gen Kuno-Die­ter, der eine Art Räu­ber war, nein, das al­les gibt es nicht mehr. Aber auch die Träu­me von der Mo­to­ren­schlos­se­rei sind auf­ge­scho­ben, vor­läu­fig ge­nügt es dem Jun­gen, den Tre­cker im Dorf bei der Pflü­ge­rei trotz sei­ner Ju­gend füh­ren zu dür­fen.

Ja, sie sind schön vor­an­ge­kom­men, der Va­ter, die Mut­ter und er. Sie sind nicht mehr von den Ver­wand­ten ab­hän­gig, sie ha­ben im vo­ri­gen Jahr Land be­kom­men, sie sind selbst­stän­di­ge Leu­te mit Toni, ei­ner Kuh, ei­nem Schwein, zwei Ham­meln und sie­ben Hüh­nern. Toni kann mä­hen und pflü­gen, er hat vom Va­ter das Säen ge­lernt und von der Mut­ter das Ha­cken. Das Le­ben macht ihm Spaß, er wird den Hof schon in die Höhe brin­gen, das tut er!

Er pfeift.

Am Stra­ßen­rand rich­tet sich eine ver­wahr­los­te, lan­ge Ge­stalt auf, zer­lumpt der An­zug, ver­wüs­tet das Ge­sicht. Das ist kei­ner der un­se­li­gen Flücht­lin­ge, das ist ein Ver­kom­me­ner, ein Pen­ner, ein Lump. Die ver­sof­fe­ne Stim­me krächzt: »He, Jung, nimm mich mit in die Stadt!«

Kuno Kien­schä­per ist beim Klan­ge die­ser Stim­me zu­sam­men­ge­zuckt. Er möch­te aus dem be­hag­li­chen Toni einen Ga­lopp her­aus­ho­len, aber da­für ist es zu spät, und so sagt er mit ge­senk­tem Kopf: »Sitz auf – nee, nicht hier bei mir! Hin­ten kannst du auf­sit­zen!«

»Wa­rum nicht bei dir?«, krächzt der Mann her­aus­for­dernd. »Bin dir wohl nicht fein ge­nug?«

»Schafs­kopp!«, ruft Kuno mit an­ge­nom­me­ner Grob­heit. »Weil du hin­ten auf dem Stroh wei­cher sitzt!«

Der Mann fügt sich brum­mend, kriecht hin­ten auf den Wa­gen, und Toni fängt jetzt an, ganz von sel­ber zu tra­ben.

Der Kuno hat den ers­ten Schreck dar­über ver­wun­den, dass er da sei­nen Va­ter, nein, aus­ge­rech­net den Bark­hau­sen aus dem Stra­ßen­gra­ben auf den Wa­gen hat la­den müs­sen, aus­ge­rech­net er, aus­ge­rech­net den! Aber viel­leicht war das gar kein Zu­fall, viel­leicht hat der Bark­hau­sen ihm auf­ge­lau­ert und weiß ge­nau, wer ihn da fährt.

Kuno schielt über die Schul­ter nach dem Mann.

Der hat sich ins Stroh ge­streckt und sagt jetzt, als habe er den Blick des Jun­gen ge­spürt: »Kanns­te mir wohl sa­gen, wo hier in der Dre­he ein Jun­ge wohnt, aus Ber­lin, muss so um die sech­zehn sind? Hier um die Dre­he rum muss er woh­nen …«

»Hier um die Dre­he rum woh­nen noch vie­le Ber­li­ner!«, ant­wor­tet Kuno.

»Das hab ich ge­merkt! Aber das mit dem Jun­gen, wo ich mei­ne, das ist ein Spe­zi­al­fall – der ist nicht eva­ku­iert da­mals im Krie­ge, der ist ge­türmt von sei­ne El­tern! Has­te von so ’nem Jun­gen mal ge­hört?«

»Nee!«, lügt Kuno. Und nach ei­ner Pau­se fragt er: »Wis­sen Sie denn nicht, wie der Jun­ge heißt?«

»Na ja, der heißt Bark­hau­sen …«

»Ei­nen Bark­hau­sen gib­t’s hier in der Dre­he nicht, das müss­te ich wis­sen.«

»Das ist ko­misch!«, sagt der Mann, tut, als müs­se er la­chen, und stößt dem Jun­gen die Faust schmerz­haft zwi­schen die Schul­tern. »Und ich hätt dar­auf ge­schwo­ren, ein Bark­hau­sen sitzt hier auf dem Wa­gen!«

»Da hät­ten Sie falsch ge­schwo­ren!«, ant­wor­tet Kuno, und jetzt, da die Ge­wiss­heit da ist, schlägt sein Herz ru­hig und kalt. »Ich heiß näm­lich Kien­schä­per, Kuno Kien­schä­per …«

»Nee, aber so wat!«, tut der Mann er­staunt. »Der, wo ich su­che, heißt näm­lich auch Kuno, Kuno-Die­ter näm­lich …«

 

»Ich hei­ße bloß Kuno Kien­schä­per«, sag­te der Jun­ge. »Und dann: wenn ich wüss­te, ein Bark­hau­sen sitzt auf mei­nem Wa­gen, dann dreh­te ich die Peit­sche um und prü­gel­te den Kerl so lan­ge, bis er run­ter wäre von mei­nem Wa­gen!«

»Nee, so wat! Nee, so wat! Jib­t’s denn so wat?«, wun­der­te sich der Pen­ner. »Ein Jun­ge, der den ei­ge­nen Va­ter vom Wa­gen prü­gelt?«

»Und wenn ich den Bark­hau­sen run­ter­ge­prü­gelt hät­te«, fuhr Kuno Kien­schä­per un­barm­her­zig fort, »dann füh­re ich in die Stadt zur Po­li­zei und sag­te de­nen: Passt auf, ihr! Da ist ein Mann hier in der Dre­he, der kann nichts wie Faul­sein und Steh­len und Scha­den stif­ten, der hat ge­ses­sen, der ist ein Ver­bre­cher, den langt euch!«

»So wat wirs­te doch nich ma­chen, Kuno-Die­ter«, rief Bark­hau­sen nun wirk­lich er­schro­cken aus. »Du wirst mir doch nicht die Po­len­te auf den Hals het­zen! Jetzt, wo ich end­lich mal wie­der raus bin aus dem Bun­ker und mir rich­tig ge­bes­sert habe? Ich hab ein Zeug­nis vom Pas­ter, ich hab mir wirk­lich ge­bes­sert, und ich fass nischt Ver­bo­te­nes mehr an mit mei­ne Hän­de, det schwör ick dir! Aber ick hab ge­dacht, wo du ’n Gut hast und so in der Fett­le­be sitzt, dass du dei­nen al­ten Va­ter auch mal ein biss­chen bei dir aus­ru­hen lässt! Es jeht mir jar­nich jut, Kuno-Die­ter, ich hab’s auf der Brust, ich muss mal ’n biss­chen pau­sie­ren …«

»Dein biss­chen Pau­sie­ren, das kenn ich!«, rief der Jun­ge er­bit­tert aus. »Ich weiß, wenn ich dich nur für einen Tag in un­ser Haus las­se, so machst du dich breit und bist nicht wie­der weg­zu­krie­gen, und mit dir ist Un­frie­de und Un­glück und Schma­rot­ze­rei ins Haus ge­zo­gen. Nein, jetzt machst du, dass du von mei­nem Wa­gen run­ter­kommst, sonst dre­he ich wirk­lich die Peit­sche um!«

Der Jun­ge hat­te den Wa­gen hal­ten las­sen und war von ihm ab­ge­sprun­gen. Jetzt stand er da, die Peit­sche in der Faust, zu al­lem be­reit, um den Frie­den des neu­er­wor­be­nen Heims zu ver­tei­di­gen.

Der ewi­ge Pech­vo­gel Bark­hau­sen sag­te kläg­lich: »Das wirs­te doch nich ma­chen! Dei­nen ei­ge­nen Va­ter wirs­te doch nich schla­gen!«

»Du bist ja gar nicht mein Va­ter! Das hast du mir frü­her lei­der oft ge­nug ge­sagt!«

»Det is doch een Witz je­we­sen, Kuno-Die­ter, va­steh det doch bloß!«

»Ich hab kei­nen Va­ter!«, schrie der Jun­ge, ra­send vor Zorn. »Ich hab eine Mut­ter, und ich fang ganz von Fri­schem an. Und wenn da Leu­te kom­men von frü­her und sa­gen dies und das, dann prü­ge­le ich sie so lan­ge, bis sie mich zu­frie­den las­sen! Ich lass mir mein Le­ben nicht von dir ver­der­ben!«

Er stand so dro­hend da mit der er­ho­be­nen Peit­sche, dass der Alte wirk­lich Furcht be­kam. Er kroch vom Wa­gen und stand nun auf der Stra­ße, fei­ge Angst im Ge­sicht.

Fei­ge dro­hend sag­te er: »Ick kann dir viel Scha­den ma­chen …«

»Da­rauf hab ich ge­war­tet!«, rief Kuno Kien­schä­per. »Auf das Bet­teln folgt das Dro­hen, so ist es im­mer bei dir ge­we­sen! Aber das sage ich dir, das schwör ich dir zu: Von hier fah­re ich di­rekt zur Po­li­zei und er­stat­te An­zei­ge, dass du mir ge­droht hast, un­ser Haus an­zu­zün­den …«

»Det ha ick ja jar­nich je­sagt, Kuno-Die­ter!«

»Aber ge­dacht hast du dar­an, das habe ich dei­nen Au­gen an­ge­se­hen! Da geht dein Weg! Und mer­ke dir, in ei­ner Stun­de sind die von der Po­li­zei hin­ter dir her! Mach also, dass du schnell fort­kommst!«

Kuno Kien­schä­per stand noch so lan­ge auf der Stra­ße, bis die ver­schlis­se­ne Ge­stalt zwi­schen den Korn­fel­dern ver­schwun­den war. Dann klopf­te er dem Brau­nen Toni auf den Hals und sag­te: »Was, Toni, wir las­sen uns von so ei­nem nicht noch mal das Le­ben ver­pfu­schen? Wir ha­ben’s neu an­ge­fan­gen. Wie die Mut­ter mich in das Was­ser ge­steckt und mit ih­ren ei­ge­nen Hän­den al­len Dreck von mir ab­ge­wa­schen hat, da hab ich mir’s ge­schwo­ren: Von nun an hal­te ich mich al­lei­ne sau­ber! Und das wird ge­hal­ten!«

In den nächs­ten Ta­gen wun­der­te sich Mut­ter Kien­schä­per man­ches Mal, dass der Jun­ge so gar nicht vom Hofe zu krie­gen war. Sonst war er im­mer der Ers­te bei der Feld­ar­beit ge­we­sen, und jetzt woll­te er nicht mal die Kuh auf der Wei­de tü­dern. Aber sie sag­te nichts, und der Jun­ge sag­te nichts, und als die Tage gin­gen in den rei­fen Som­mer hin­ein und die Rog­ge­nern­te an­fing, da ging der Jun­ge mit sei­ner Sen­se doch hin­aus …

Denn was man ge­sät hat, soll man auch ern­ten, und der Jun­ge hat­te gu­tes Korn ge­sät.

ENDE

Der Trinker

1

Ich habe na­tür­lich nicht im­mer ge­trun­ken, es ist so­gar nicht sehr lan­ge her, dass ich mit Trin­ken an­ge­fan­gen habe. Frü­her ekel­te ich mich vor Al­ko­hol; al­len­falls trank ich mal ein Glas Bier; Wein schmeck­te mir sau­er, und der Ge­ruch von Schnaps mach­te mich krank. Aber dann kam eine Zeit, da es mir schlecht zu ge­hen an­fing. Mei­ne Ge­schäf­te lie­fen nicht so, wie sie soll­ten, und mit den Men­schen hat­te ich auch man­cher­lei Miss­ge­schick. Ich bin im­mer ein wei­cher Mensch ge­we­sen, ich brauch­te die Sym­pa­thie und Aner­ken­nung mei­ner Um­welt, wenn ich mir das auch nicht mer­ken ließ und stets sehr selbst­be­wusst und si­cher auf­trat. Das Schlim­me­re war, dass ich das Ge­fühl be­kam, auch mei­ne Frau wen­de sich von mir ab.

Es wa­ren zu­erst un­merk­li­che Zei­chen, Din­ge, die ein an­de­rer ganz über­se­hen hät­te. Zum Bei­spiel ver­gaß sie, mir bei ei­nem Ge­burts­tag in un­se­rem Hau­se Ku­chen an­zu­bie­ten; ich esse zwar nie Ku­chen, aber frü­her bot sie mir trotz­dem stets wel­chen an. Und dann war ein­mal drei Tage lang ein Spinn­web in mei­nem Zim­mer über dem Ofen. Ich ging alle Zim­mer ab, aber in kei­nem gab es ein Spinn­web, nur in mei­nem. Ich woll­te ei­gent­lich ab­war­ten, wie lan­ge sie es so trei­ben wür­de mir zum Är­ger, aber am vier­ten Tage hielt ich es nicht mehr aus und sag­te es ihr. Da­rauf wur­de das Spinn­web ent­fernt. Ich sag­te es ihr na­tür­lich ziem­lich scharf. Ich woll­te mir um kei­nen Preis mer­ken las­sen, wie sehr ich un­ter die­sen Krän­kun­gen und mei­ner Ver­ein­sa­mung litt.

Aber es blieb nicht da­bei. Bald kam die Sa­che mit dem Fuß­ab­tre­ter. An je­nem Tage hat­te ich Schwie­rig­kei­ten auf mei­ner Bank ge­habt, zum ers­ten Male hat­ten sie mir eine Geld­aus­zah­lung ver­wei­gert; es hat­te sich wohl her­um­ge­spro­chen, dass ich Ver­lus­te er­lit­ten hat­te. Der Bank­vor­ste­her, ein Herr Alf, tat sehr lie­bens­wür­dig, sprach von vor­über­ge­hen­den Schwie­rig­kei­ten und er­bot sich so­gar, mit sei­ner Zen­tra­le we­gen ei­nes Son­der­kre­dits für mich zu te­le­fo­nie­ren. Ich lehn­te das na­tür­lich ab, ich war lä­chelnd und si­cher wie im­mer ge­we­sen. Aber ich hat­te gut ge­merkt, dass er mir die­ses Mal nicht wie sonst meist eine Zi­gar­re an­ge­bo­ten hat­te, die­ser Kun­de lohn­te ihm das wohl nicht mehr.

Sehr nie­der­ge­drückt ging ich durch einen schwer her­ab­rau­schen­den Herbst­re­gen nach Hau­se. Ich war noch gar nicht in ei­gent­li­chen Schwie­rig­kei­ten; es war nur eine ge­wis­se Sta­gna­ti­on in mei­nen Ge­schäf­ten ein­ge­tre­ten, die zu je­nem Zeit­punkt mit ei­ni­gem Elan si­cher noch zu über­win­den ge­we­sen wäre. Aber ge­ra­de die­sen Elan ver­moch­te ich nicht auf­zu­brin­gen, ich war zu nie­der­ge­drückt von all dem stum­men Miss­fal­len, dem ich be­geg­ne­te.

Als ich nach Hau­se kam (wir woh­nen et­was vor der Stadt in ei­ge­ner Vil­la, und die Stra­ße dort­hin ist noch nicht aus­ge­baut), woll­te ich vor der Tür mei­ne schmut­zi­gen Schu­he rei­ni­gen, doch ge­ra­de heu­te fehl­te der Fuß­ab­tre­ter. Är­ger­lich schloss ich auf und rief ins Haus nach mei­ner Frau. Es dun­kel­te schon, aber nir­gends sah ich Licht, und Mag­da kam auch nicht. Ich rief wie­der und wie­der, aber nichts er­folg­te. Ich be­fand mich in ei­ner höchst fa­ta­len Si­tua­ti­on: Ich stand im Re­gen vor der Tür mei­ner ei­ge­nen Vil­la und konn­te nicht ins Haus, woll­te ich nicht Vor­platz und Die­le är­ger­lich be­schmut­zen, und das al­les, weil mei­ne Frau ver­ges­sen hat­te, den Fuß­ab­tre­ter hin­aus­zu­le­gen, und zu ei­ner Zeit nicht zur Stel­le war, wo ich, wie sie ge­nau wuss­te, von der Ar­beit heim­kam.

Schließ­lich muss­te ich mich über­win­den: Ich ging vor­sich­tig auf Ze­hen­spit­zen ins Haus. Als ich mich auf einen Stuhl in der Die­le setz­te, um die Schu­he aus­zu­zie­hen, und da­für Licht mach­te, sah ich, dass all mei­ne Vor­sicht nichts genützt hat­te: Auf dem zart­grü­nen Dielen­tep­pich wa­ren die häss­lichs­ten Fle­cke ent­stan­den. Ich habe Mag­da im­mer ge­sagt, dass solch ein emp­find­li­ches Re­se­dagrün nichts für die Die­le sei, aber sie hat­te ja ge­meint, wir bei­de sei­en ja wohl alt ge­nug, ein biss­chen auf­zu­pas­sen, und die Else (un­ser Dienst­mäd­chen) be­nüt­ze ja so­wie­so den Hin­ter­ein­gang und sei ge­wohnt, im Hau­se auf Pan­tof­feln zu ge­hen. Ich zog sehr är­ger­lich mei­ne Schu­he aus, und ge­ra­de als ich den zwei­ten aus­zog, sah ich Mag­da, die eben aus der Tür kam, die die Kel­ler­trep­pe ver­deckt. Der Schuh ent­glitt mir und fiel mit Pol­tern auf den Tep­pich, einen wei­te­ren ab­scheu­li­chen Fleck ma­chend.

»Pass doch ein biss­chen auf, Er­win!«, rief Mag­da sehr är­ger­lich. »Wie der schö­ne Tep­pich wie­der aus­sieht. Kannst du dir nicht an­ge­wöh­nen, die Füße or­dent­lich ab­zu­tre­ten?!«

Die of­fe­ne Un­ge­rech­tig­keit in die­sem Vor­wurf em­pör­te mich, aber noch hielt ich an mich. »Wo in al­ler Welt hast du bloß ge­steckt?«, frag­te ich, sie noch im­mer an­star­rend. »Ich habe min­des­tens zehn­mal nach dir ge­ru­fen!«

»Ich war bei der Zen­tral­hei­zung im Kel­ler«, sag­te Mag­da kühl. »Aber was hat das mit mei­nem Tep­pich zu tun?«

»Es ist eben­so gut mein Tep­pich wie der dei­ne«, ant­wor­te­te ich er­regt. »Ich habe ihn wirk­lich nicht ger­ne be­schmutzt. Aber wenn kein Ab­tre­ter vor der Tür liegt …!«

»Es liegt kein Ab­tre­ter vor der Tür? Na­tür­lich liegt er vor der Tür!«

»Es liegt kei­ner da­vor!«, rief ich mit Nach­druck. »Bit­te, über­zeu­ge dich selbst!«

Aber sie dach­te gar nicht dar­an, vor die Tür zu ge­hen. »Wenn Else eben ver­ges­sen hat, ihn hin­zu­le­gen, so hät­test du die Schu­he gut auf dem Vor­platz aus­zie­hen kön­nen! Je­den­falls hät­test du nicht den einen Schuh hier mit sol­chem Plumps auf den Tep­pich zu wer­fen brau­chen!«

Ich sah sie, stumm vor Är­ger, nur em­pört an. »Ja«, sag­te sie, »da schweigst du. Wenn man dir Vor­wür­fe macht, schweigst du. Aber mir machst du stän­dig Vor­wür­fe …«

Ich fand kei­nen rech­ten Sinn in die­sen Wor­ten, aber ich sag­te doch: »Wann habe ich dir Vor­wür­fe ge­macht?«

»Eben erst«, ant­wor­te­te sie rasch. »Ein­mal, weil ich auf dein Ru­fen nicht ge­kom­men bin, und ich muss­te doch nach der Hei­zung se­hen, weil Else heu­te ih­ren frei­en Nach­mit­tag hat. Und dann, weil der Ab­tre­ter nicht vor der Tür liegt. Aber ich kann doch un­mög­lich bei all mei­ner Ar­beit auch noch jede Klei­nig­keit, die Else zu tun hat, kon­trol­lie­ren.«

Ich nahm mich zu­sam­men. Ich fand im stil­len, Mag­da hat­te in al­len Punk­ten un­recht, aber laut sag­te ich: »Wir wol­len uns nicht strei­ten, Mag­da. Ich bit­te dich, mir zu glau­ben, dass ich die Fle­cke nicht mit Ab­sicht ge­macht habe.«

»Und du glau­be mir«, ant­wor­te­te sie, noch im­mer ziem­lich scharf, »dass ich dich we­der mit Ab­sicht habe ru­fen noch mit Ab­sicht habe war­ten las­sen.«

Ich schwieg dazu. Bis zum Abendes­sen hat­ten wir uns bei­de wie­der ziem­lich in der Ge­walt, eine ganz ver­nünf­ti­ge Un­ter­hal­tung kam so­gar zu­stan­de, und plötz­lich hat­te ich den Ein­fall, eine Fla­sche Rot­wein, die mir ir­gend­je­mand mal ge­schenkt hat­te und die seit Jah­ren im Kel­ler stand, her­auf­zu­ho­len. Ich weiß wirk­lich nicht, wie­so ich auf die­se Idee kam. Vi­el­leicht lös­te das Ge­fühl un­se­rer Aussöh­nung bei mir den Ge­dan­ken an et­was Fest­li­ches wie Trau­ung oder Tau­fe aus. Mag­da war auch ganz über­rascht, lä­chel­te aber bei­fäl­lig.

Ich trank nur an­dert­halb Glas, ob­gleich mir an die­sem Abend der Wein nicht sau­er schmeck­te. Ich kam so­gar in eine hei­te­re Stim­mung und brach­te es fer­tig, Mag­da al­ler­lei vom Ge­schäft, das mir so viel Sor­gen mach­te, zu er­zäh­len. Na­tür­lich sprach ich kein Wort von die­sen Sor­gen, son­dern ich log im Ge­gen­teil mei­ne Mis­ser­fol­ge in Er­fol­ge um. Mag­da hör­te mir so in­ter­es­siert wie schon lan­ge nicht zu. Ich hat­te das Ge­fühl, dass die Ent­frem­dung zwi­schen uns völ­lig ge­schwun­den war, und in der Freu­de dar­über schenk­te ich Mag­da hun­dert Mark, da­mit sie sich et­was recht Hüb­sches kau­fen könn­te: ein Kleid oder einen Ring oder wo­nach sonst ihr Herz stand.