Hans Fallada – Gesammelte Werke

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67. Das Totenhaus

Das To­ten­haus in Plöt­zen­see be­her­bergt jetzt Otto Quan­gel. Die Ein­zel­zel­le des To­ten­hau­ses ist nun sei­ne letz­te Hei­mat auf die­ser Erde.

Ja, jetzt liegt er auf ei­ner Ein­zel­zel­le: Für die zum Tode Ver­ur­teil­ten gibt es kei­ne Ge­fähr­ten mehr, kei­nen Dr. Reich­hardt, nicht ein­mal einen »Hund«. Die zum Tode Ver­ur­teil­ten ha­ben nur noch den Tod zum Ge­fähr­ten, so will es das Ge­setz.

Es ist ein gan­zes Haus, in dem sie le­ben, die­se zum Tode Ver­ur­teil­ten, Dut­zen­de, viel­leicht Hun­der­te, Zel­le an Zel­le. Im­mer geht der Schritt der Wa­chen über den Gang, im­mer hört man Klir­ren, und die gan­ze Nacht bel­len die Hun­de auf den Hö­fen.

Aber in den Zel­len die Ge­s­pens­ter sind still, in den Zel­len ist Ruhe, man hört kei­nen Laut. Sie sind so still, die­se To­des­kan­di­da­ten! Aus al­len Tei­len Eu­ro­pas zu­sam­men­ge­holt, Män­ner, Jüng­lin­ge, fast noch Kna­ben, Deut­sche, Fran­zo­sen, Hol­län­der, Bel­gier, Nor­we­ger, gute Men­schen, schwa­che Men­schen, böse Men­schen, alle Tem­pe­ra­men­te vom San­gui­ni­ker bis zum Cho­le­ri­ker, bis zum Me­lan­cho­li­ker. Aber in die­sem Hau­se ver­wi­schen sich die Un­ter­schie­de, sie sind alle still ge­wor­den, nur noch Ge­s­pens­ter ih­rer selbst. Kaum je hört Quan­gel nachts ein Wei­nen, und wie­der Stil­le, Stil­le … Stil­le …

Er hat die Stil­le im­mer ge­liebt. Die­se letz­ten Mo­na­te hat­te er ein Le­ben füh­ren müs­sen, das sei­ner gan­zen We­sens­art ent­ge­gen­ge­setzt war: nie mit sich al­lein, so oft zum Spre­chen ge­zwun­gen, er, der doch al­les Spre­chen hass­te. Nun ist er noch ein Mal, ein letz­tes Mal, zu sei­ner Art des Le­bens zu­rück­ge­kehrt, in die Stil­le, in die Ge­duld. Der Dr. Reich­hardt war gut, er hat ihn vie­les ge­lehrt, aber nun, dem Tode so nahe, ist es noch bes­ser, ohne den Dr. Reich­hardt zu le­ben.

Von Dr. Reich­hardt hat er es über­nom­men, sich ein re­gel­mä­ßi­ges Le­ben hier in der Zel­le ein­zu­rich­ten. Al­les hat sei­ne Zeit: das sehr sorg­fäl­ti­ge Wa­schen, ei­ni­ge Frei­übun­gen, die er dem Zel­len­ge­fähr­ten ab­ge­lauscht hat, je eine Stun­de Spa­zier­gang am Vor- wie am Nach­mit­tag, das gründ­li­che Rei­ni­gen der Zel­le, das Es­sen, der Schlaf. Es gibt hier auch Bü­cher zum Le­sen, jede Wo­che wer­den ihm sechs Bü­cher auf die Zel­le ge­bracht; aber dar­in hat er sich nicht ge­än­dert, er sieht sie nicht an. Er wird doch auf sei­ne al­ten Tage nicht noch mit Le­sen an­fan­gen.

Aber noch ein an­de­res hat er von dem Dr. Reich­hardt über­nom­men. Wäh­rend sei­ner Spa­zier­gän­ge summt er vor sich hin. Er er­in­nert sich an alte Kin­der- und Volks­lie­der, von der Schu­le her. Aus sei­ner frü­he­s­ten Ju­gend tau­chen sie in ihm auf, Vers reiht sich an Vers – was für einen Kopf er doch hat, der dies al­les über vier­zig Jah­re hin noch weiß! Und dann die Ge­dich­te: Der Ring des Po­ly­kra­tes, Die Bürg­schaft, Freu­de, schö­ner Göt­ter­fun­ken, Der Erl­kö­nig. Aber das Lied von der Glo­cke be­kommt er nicht mehr zu­sam­men. Vi­el­leicht hat er nie alle Ver­se ge­konnt, das weiß er nun nicht mehr …

Ein stil­les Le­ben, aber den Haup­tin­halt des Ta­ges bie­tet doch die Ar­beit. Ja, hier muss er ar­bei­ten, ein be­stimm­tes Quan­tum Erb­sen muss er sor­tie­ren, wurm­sti­chi­ge Erb­sen aus­le­sen, hal­be, zer­bro­che­ne ent­fer­nen wie die Un­kraut­sa­men und die schwarz­grau­en Ku­geln der Wi­cken. Er tut die­se Ar­beit ger­ne, sei­ne Fin­ger sor­tie­ren flei­ßig Stun­de um Stun­de.

Und es ist gut, dass er ge­ra­de die­se Ar­beit be­kom­men hat, sie sät­tigt ihn. Denn nun sind die gu­ten Zei­ten, da er von den Spei­sen Dr. Reich­hardts mit­es­sen durf­te, end­gül­tig vor­bei. Was sie ihm in sei­ne Zel­le rei­chen, ist schlecht ge­kocht, Was­ser­ge­plem­per, nas­ses, kleb­ri­ges Brot mit Kar­tof­fel­bei­mi­schung, das un­ver­dau­lich schwer in sei­nem Ma­gen liegt.

Aber da hel­fen die Erb­sen. Er kann nicht viel ab­neh­men, denn sein Quan­tum wird ihm zu­ge­wo­gen, aber er kann so viel ab­neh­men, dass er ei­ni­ger­ma­ßen satt wird. Er weicht sich die­se Erb­sen in Was­ser ein, und wenn sie ge­quol­len sind, tut er sie in sei­ne Sup­pe, da­mit sie ein biss­chen warm wer­den, und dann kaut er sie. So ver­bes­sert er sein Es­sen, von dem das Wort gilt: Zum Le­ben zu we­nig, zum Ster­ben zu viel.

Er ver­mu­tet es bei­na­he, dass die Auf­se­her, die Ar­beits­in­spek­to­ren wis­sen, was er tut, dass er Erb­sen stiehlt, aber sie sa­gen nichts. Und sie sa­gen nichts, nicht weil sie den zum Tode Ver­ur­teil­ten scho­nen wol­len, son­dern weil sie gleich­gül­tig sind, stumpf ge­wor­den in die­sem Hau­se, in dem sie alle Tage so viel Elend er­le­ben.

Sie re­den nicht, schon da­mit der an­de­re nicht spricht. Sie wol­len kei­ne Kla­gen hö­ren, sie kön­nen ja doch nichts än­dern, bes­sern, hier geht al­les sei­nen star­ren Weg. Sie sind nur Rä­der­chen ei­ner Ma­schi­ne, Rä­der­chen aus Ei­sen, aus Stahl. Wenn das Ei­sen weich wür­de, müss­te das Räd­chen er­setzt wer­den, sie wol­len nicht er­setzt wer­den, sie wol­len wei­ter Räd­chen sein.

Da­rum kön­nen sie auch nicht trös­ten, sie wol­len es nicht, sie sind, wie sie sind: gleich­gül­tig, kalt, ohne alle Teil­nah­me.

Zu­erst, als Otto Quan­gel aus dem ihm vom Prä­si­den­ten Feis­ler ver­ord­ne­ten Dun­kelar­rest in die­se Zel­le hin­auf­kam, hat­te er ge­meint, es sei für ein, zwei Tage, er hat­te ge­meint, sie sei­en be­gie­rig dar­auf, das To­des­ur­teil rasch an ihm zu voll­stre­cken, es wäre ihm recht ge­we­sen.

Aber dann er­fährt er all­mäh­lich, dass es Wo­chen und Wo­chen mit der Voll­stre­ckung des Ur­teils dau­ern kann, Mo­na­te, ja, wo­mög­lich ein Jahr. Doch, es gibt zum Tode Ver­ur­teil­te, die schon ein Jahr auf ih­ren Tod war­ten, die sich je­den Abend zum Schla­fen hin­le­gen und die nicht wis­sen, ob sie in der Nacht aus die­sem Schlaf von den Hen­kers­ge­hil­fen ge­weckt wer­den; jede Nacht, jede Stun­de, den Bis­sen im Mun­de, beim Erb­sen­pa­len, auf dem Not­durft­kü­bel, stets kann die Tür sich auf­tun, eine Hand winkt, eine Stim­me spricht: »Komm! Jetzt ist es so weit!«

Es ist eine un­er­mess­li­che Grau­sam­keit, die in die­ser über Tage, Wo­chen, Mo­na­te ver­län­ger­ten To­des­angst liegt, und es sind nicht nur ju­ris­ti­sche For­ma­li­en, es ma­chen nicht nur die ein­ge­reich­ten Gna­den­ge­su­che, auf die der Ent­scheid erst ab­ge­war­tet wer­den muss, die die­se Ver­zö­ge­rung be­din­gen. Man­che sa­gen auch, der Hen­ker ist über­be­schäf­tigt, er kann es nicht mehr schaf­fen. Aber der Hen­ker ar­bei­tet nur an den Mon­ta­gen und an den Don­ners­ta­gen, an den an­de­ren Ta­gen nicht. Er ist über Land, über­all in Deutsch­land wird hin­ge­rich­tet, der Hen­ker ar­bei­tet auch aus­wärts. Aber wie kommt es dann, dass von Ver­ur­teil­ten der eine sie­ben Mo­na­te frü­her als sein in glei­cher Sa­che Mit­ver­ur­teil­ter hin­ge­rich­tet wird? Nein, hier ist wie­der die Grau­sam­keit am Werk, der Sa­dis­mus; in die­sem Hau­se wird nicht roh ge­schla­gen und nicht kör­per­lich ge­fol­tert, hier si­ckert das Gift un­merk­lich in die Zel­len, sie wol­len die See­len hier nicht eine Mi­nu­te aus dem To­des­griff der Angst ent­las­sen.

Je­den Mon­tag und Don­ners­tag wird das To­ten­haus un­ru­hig. Schon in der Nacht rüh­ren sich die Ge­s­pens­ter, sie hocken an den Tü­ren, ihre Glie­der zit­tern, sie lau­schen auf die Gän­ge hin­aus. Noch ge­hen die Schrit­te der Wa­chen, es ist erst zwei Uhr mor­gens. Aber bald … Vi­el­leicht heu­te noch. Und sie bit­ten, be­ten: Nur noch die­se drei Tage, nur noch die­se vier Tage bis zum nächs­ten Hin­rich­tungs­tag, dann wer­de ich mich wil­lig fü­gen, nur heu­te noch nicht! Und sie bit­ten, sie be­ten, sie bet­teln.

Eine Uhr schlägt vier. Schrit­te, Schlüs­sel­ge­klap­per, Mur­meln. Die Schrit­te nä­hern sich. Das Herz fängt an zu po­chen, Schweiß bricht aus über den gan­zen Kör­per. Plötz­lich klirrt ein Schlüs­sel im Schloss. Still doch, still doch, es ist ja die Zel­le ne­ben­an, die auf­ge­schlos­sen wur­de, nein, noch eine wei­ter! Du bist noch nicht dran. Ein rasch er­stick­tes: Nein! Nein! Hil­fe! Schar­ren von Fü­ßen. Stil­le. Der re­gel­mä­ßi­ge Schritt des Pos­tens. Stil­le. War­ten. Angst­vol­les War­ten. Ich er­tra­ge das nicht …

Und nach ei­ner end­lo­sen Frist, nach ei­nem Ab­grund vol­ler Angst, nach ei­ner un­er­träg­li­chen War­te­zeit, die doch er­tra­gen wer­den muss, nä­hert sich wie­der das Mur­meln, das Geräusch vie­ler Füße, das Schlüs­sel­ge­klap­per … Es kommt nä­her, nahe, nahe. O Gott, heu­te noch nicht, nur noch die drei Tage! Ruck­zuck! Schlüs­sel im Schloss – bei mir? Oh, bei dir! Nein, es ist die Nach­bar­zel­le, ein paar ge­mur­mel­te Wor­te, sie ho­len also den Nach­barn. Sie ho­len ihn, die Schrit­te ent­fer­nen sich …

Zeit zer­bricht lang­sam, we­nig Zeit zer­brö­ckelt lang­sam in un­end­lich vie­le klei­ne Stücke. War­ten. Nichts wie War­ten. Und der Schritt der Wa­chen auf dem Gang. O Gott, heu­te neh­men sie ein­fach Zel­le ne­ben Zel­le, als Nächs­ter kommst du dran. Als – Nächs­ter – kommst – du – dran! In drei Stun­den wirst du eine Lei­che sein, die­ser Kör­per ist tot, die­se Bei­ne, die dich jetzt noch tra­gen, tote Ste­cken, die­se Hand, die ge­ar­bei­tet, ge­strei­chelt, ge­kost und ge­sün­digt hat, wird nichts mehr sein wie ein ver­dor­be­nes Stück Fleisch! Es ist un­mög­lich, und doch ist es wahr!

War­ten – war­ten – war­ten! Und plötz­lich sieht der War­ten­de, dass durch sein Fens­ter der Tag däm­mert, er hört eine Glo­cke zum Auf­ste­hen ru­fen. Der Tag ist ge­kom­men, ein neu­er Ar­beits­tag – und er ist noch ein­mal ver­schont ge­blie­ben. Er hat noch drei Tage Frist, vier Tage Frist, wenn es ein Don­ners­tag ist. Das Glück hat ihm ge­lä­chelt! Er at­met leich­ter, end­lich kann er leich­ter at­men, viel­leicht ver­scho­nen sie ihn ganz. Vi­el­leicht kommt ein großer Sieg und da­mit eine Am­nes­tie, viel­leicht wird er zu le­bens­läng­li­chem Zucht­haus be­gna­digt wer­den!

 

Eine Stun­de leich­te­res At­men!

Und schon setzt die Angst neu ein, ver­gif­tet die­se drei, vier Tage: Sie ha­ben dies­mal gra­de bei dei­ner Zel­le Schluss ge­macht, am Mon­tag wer­den sie mit mir be­gin­nen. Oh, was tu ich nur? Ich kann doch noch nicht …

Und im­mer von Neu­em, im­mer von Neu­em, zwei­mal die Wo­che, alle Tage die Wo­che, jede Se­kun­de die Angst!

Und Mo­nat um Mo­nat: To­des­angst!

Manch­mal frag­te sich Otto Quan­gel, wo­her er al­les die­ses wuss­te. Er sprach doch ei­gent­lich nie mit je­man­dem, und ei­gent­lich sprach nie je­mand mit ihm. Ei­ni­ge dür­re Wor­te des Auf­se­hers: »Mit­kom­men! Auf­ste­hen! Schnel­ler ar­bei­ten!« Vi­el­leicht ge­ra­de noch beim Es­sen­ab­fül­len ein mehr mit den Lip­pen ge­bil­de­tes als ge­hauch­tes Wort: »Heu­te sie­ben Hin­rich­tun­gen«, das war al­les.

Aber sei­ne Sin­ne wa­ren so un­end­lich scharf ge­wor­den. Sie er­rie­ten, was er nicht sah. Sei­ne Ohren hör­ten je­des Geräusch auf dem Gang, ein Ge­sprächs­fet­zen der sich ab­lö­sen­den Pos­ten, ein Fluch, ein Schrei – al­les ent­hüll­te sich ihm, nichts blieb ihm ver­bor­gen. Und dann in den Näch­ten, in den lan­gen Näch­ten, die nach der Haus­ord­nung drei­zehn Stun­den dau­er­ten, die aber nie Näch­te wa­ren, weil in sei­ner Zel­le stets Licht bren­nen muss­te, dann wag­te er es manch­mal: er klet­ter­te zum Fens­ter hin­auf, er lausch­te in die Nacht. Er wuss­te, die Pos­ten un­ten auf dem Hof mit ih­ren ewig bel­len­den Hun­den hat­ten den Be­fehl, auf je­des Ge­sicht im Fens­ter zu schie­ßen, und nicht sel­ten fiel auch ein­mal ein Schuss – aber er wag­te es trotz­dem.

Er stand da auf sei­nem Sche­mel, er spür­te die rei­ne Nacht­luft (schon die­se Luft war be­loh­nend für jede Ge­fahr), und dann hör­te er dies Flüs­tern von Fens­ter zu Fens­ter, sinn­lo­se Wor­te zu­erst: »Den Karl hat’s mal wie­der!« Oder: »Die Frau von 347 hat heu­te den gan­zen Tag un­ten ge­stan­den«, aber mit der Zeit konn­te er sich auf al­les einen Vers ma­chen. Mit der Zeit wuss­te er, dass in der Zel­le ne­ben ihm ein Mann von der Spio­na­ge­ab­wehr saß, der sich dem Fein­de ver­kauft ha­ben soll­te und der schon zwei­mal ver­sucht ha­ben soll­te, sich um­zu­brin­gen. Und in der Zel­le hin­ter ihm saß ein Ar­bei­ter, der hat­te in ei­nem Elek­tri­zi­täts­werk die Dy­na­mos ver­schmo­ren las­sen, ein Kom­mu­nist. Und der Auf­se­her Brenne­cke be­sorg­te Pa­pier und Blei­stift­stum­mel und schmug­gel­te auch Brie­fe aus dem Bau, wenn er von au­ßen ge­schmiert wur­de, mit sehr viel Geld oder bes­ser noch mit Le­bens­mit­teln. Und … und … Nach­rich­ten über Nach­rich­ten. Auch ein To­ten­haus spricht, at­met, lebt, auch in ei­nem To­ten­haus er­lischt nicht das un­be­zwing­li­che Be­dürf­nis der Men­schen, sich mit­zu­tei­len.

Aber wenn auch Otto Quan­gel sein Le­ben – manch­mal – wag­te, um zu lau­schen, wenn sei­ne Sin­ne auch nie müde wur­den, auf jede Ver­än­de­rung zu ach­ten, so ganz ge­hör­te Quan­gel nicht zu den an­de­ren. Manch­mal ahn­ten sie, dass auch er am nächt­li­chen Fens­ter stand, ei­ner flüs­ter­te: »Na, wie ist’s denn mit dir, Otto? Gna­den­ge­such schon zu­rück?« (Sie wuss­ten al­les über ihn.) Aber nie ant­wor­te­te er mit ei­nem Wort, nie gab er zu, dass auch er lausch­te. Er ge­hör­te nicht zu ih­nen, wenn auch das glei­che Ur­teil über ihn ver­hängt war, er war ein ganz an­de­rer.

Und dass er ein ganz an­de­rer war als sie, das mach­te nicht sein Ein­zel­gän­ger­tum, wie es frü­her ge­we­sen, das mach­te nicht sein Be­dürf­nis nach Ruhe, das ihn bis­her von al­len ge­trennt hat­te, das kam nicht von sei­ner Ab­nei­gung ge­gen Re­den, die frü­her sei­ne Zun­ge schweig­sam ge­macht – son­dern das mach­te je­nes klei­ne Glas­röhr­chen, das ihm der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm ge­ge­ben.

Die­ses Röhr­chen mit der was­ser­hel­len Blau­säu­re­lö­sung hat­te ihn frei ge­macht. Die an­de­ren, sei­ne Lei­dens­ge­fähr­ten, sie muss­ten den letz­ten bit­te­ren Weg ge­hen; er hat­te die Wahl. Er konn­te in je­der Mi­nu­te ster­ben, er muss­te es nur wol­len. Er war frei. Er war, im To­ten­haus, hin­ter Git­tern und Mau­ern, er war, ge­hal­ten mit Ket­ten und Schel­len – er, Otto Quan­gel, Tisch­ler­meis­ter a.D., Werk­meis­ter a.D., Ehe­gat­te a.D., Va­ter a.D., Auf­rüh­rer a.D. – er war frei ge­wor­den. Das hat­ten sie be­wirkt, sie hat­ten ihn frei ge­macht, wie er es nie in sei­nem Le­ben ge­we­sen war. Er, der Be­sit­zer die­ses Glas­röhr­chens, fürch­te­te den Tod nicht. Der Tod war zu je­der Stun­de bei ihm, er war sein Freund. Er, Otto Quan­gel, brauch­te an den Mon­ta­gen und den Don­ners­ta­gen nicht lan­ge vor der Zeit zu er­wa­chen und angst­voll an der Türe lau­schen. Er ge­hör­te nicht zu ih­nen, nicht ganz. Er muss­te sich nicht quä­len, weil er das Ende al­ler Qual bei sich hat­te.

Es war ein gu­tes Le­ben, das er führ­te. Er lieb­te es. Er war nicht ein­mal ganz si­cher, dass er die­se Glasam­pul­le je ge­brau­chen wür­de. Vi­el­leicht war es noch bes­ser, bis zur letz­ten Mi­nu­te zu war­ten? Vi­el­leicht durf­te er Anna doch noch ein­mal se­hen? War es nicht rich­ti­ger, de­nen kei­ne Schan­de zu er­spa­ren?

Sie soll­ten ihn hin­rich­ten, bes­ser, viel bes­ser! Er woll­te es wis­sen, wie es da­bei zu­ging – ihm war, als käme es ihm zu, als sei es sei­ne Pf­licht, auch zu wis­sen, wie sie das mach­ten. Er glaub­te, bis die Sch­lin­ge um sei­nen Hals oder der Kopf un­ter dem Fall­beil lag, müss­te er al­les wis­sen. Er konn­te, in der letz­ten Mi­nu­te noch, de­nen doch einen Streich spie­len.

Und in der Ge­wiss­heit, dass ihm nichts mehr ge­sche­hen konn­te, dass er hier – viel­leicht zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben – ganz er selbst sein konn­te, un­ver­stellt er selbst, in die­ser Ge­wiss­heit fand er Ruhe, Hei­ter­keit, Frie­den. Sein al­tern­der Kör­per hat­te sich nie so wohl ge­fühlt wie in die­sen Wo­chen. Sein har­tes Vo­gel­au­ge hat­te nie so freund­lich ge­se­hen wie in der To­des­zel­le der Plöt­ze. Sein Geist hat­te nie so frei schwei­fen kön­nen wie hier.

Ein gu­tes Le­ben, die­ses Le­ben!

Hof­fent­lich ging es auch Anna gut. Aber der alte Rat Fromm war ein Mann, der Wort hielt. Auch Anna wür­de über alle Ver­fol­gun­gen hin­aus sein, auch Anna war frei, ge­fan­gen frei …

68. Die Gnadengesuche

Otto Quan­gel hat­te erst seit ei­ni­gen Ta­gen in der Dun­kel­zel­le ge­le­gen – ge­mäß Be­schluss des Volks­ge­richts­hofs –, er fror jäm­mer­lich in dem klei­nen Kä­fig aus Ei­sen­stan­gen, der am ehe­s­ten ei­nem sehr en­gen Af­fen­kä­fig im Zoo glich –, da tat sich die Tür auf, Licht ging an, und sein An­walt, Dr. Stark, stand in der Tür des Rau­mes, in dem der Git­ter­kä­fig auf­ge­baut war, und sah sei­nen Man­dan­ten an.

Quan­gel stand lang­sam auf und schau­te zu­rück.

Da war die­ser ge­schnie­gel­te und ge­bü­gel­te Herr also noch ein­mal zu ihm ge­kom­men, mit sei­nen ro­si­gen Fin­ger­nä­geln und der nach­läs­si­gen, schlep­pen­den Art zu re­den. Wahr­schein­lich, um sich den Ver­bre­cher in sei­ner Qual an­zu­se­hen.

Aber auch da schon hat­te Quan­gel die Zy­an­ka­liam­pul­le in sei­nem Mun­de ge­tra­gen, die­sen Ta­lis­man, der ihn Käl­te und Hun­ger er­tra­gen ließ, und so hat­te er ru­hig, ja, mit ei­ner hei­te­ren Über­le­gen­heit auf den »fei­nen Herrn« ge­blickt, er, in sei­ner Zer­lumpt­heit, vor Frost zit­ternd, der Ma­gen bren­nend vor Hun­ger.

»Nun?«, hat­te Quan­gel schließ­lich ge­fragt.

»Ich brin­ge Ih­nen das Ur­teil«, sag­te der An­walt und zog ein Pa­pier aus der Ta­sche.

Aber Quan­gel nahm es nicht. »Es in­ter­es­siert mich nicht«, sag­te er. »Ich weiß ja doch, dass es auf To­dess­tra­fe lau­tet. Auch mei­ne Frau?«

»Auch Ihre Frau. Und es gibt kei­ne Be­ru­fung da­ge­gen.«

»Gut«, ant­wor­te­te er.

»Aber Sie kön­nen ein Gna­den­ge­such ma­chen«, sag­te der An­walt.

»An den Füh­rer?«

»Ja, an den Füh­rer.«

»Nein, dan­ke.«

»Sie wol­len also ster­ben?«

Quan­gel lä­chel­te.

»Sie ha­ben kei­ne Angst?«

Quan­gel lä­chel­te.

Der An­walt sah zum ers­ten Mal mit ei­ner Spur von In­ter­es­se in das Ge­sicht sei­nes Man­dan­ten, er sag­te: »So wer­de ich für Sie ein Gna­den­ge­such ein­rei­chen.«

»Nach­dem Sie mei­ne Ver­ur­tei­lung ge­for­dert ha­ben!«

»Es ist so üb­lich, bei je­dem To­des­ur­teil wird ein Gna­den­ge­such ein­ge­reicht. Es ge­hört zu mei­nen Pf­lich­ten.«

»Zu Ihren Pf­lich­ten. Ich ver­ste­he. Wie Ihre Ver­tei­di­gung. Nun, ich neh­me an, Ihr Gna­den­ge­such wird we­nig Wir­kung ha­ben, las­sen Sie es lie­ber.«

»Ich wer­de es trotz­dem ein­rei­chen, auch ge­gen Ihren Wil­len.«

»Ich kann Sie nicht hin­dern.«

Quan­gel setz­te sich wie­der auf die Prit­sche. Er war­te­te, dass der an­de­re jetzt mit die­sem blö­den Ge­wäsch auf­hör­te, dass er gin­ge.

Aber der An­walt ging nicht, son­dern er frag­te nach ei­ner lan­gen Pau­se: »Sa­gen Sie, warum ha­ben Sie das ei­gent­lich ge­tan?«

»Was ge­tan?«, frag­te Quan­gel gleich­gül­tig, ohne den Ge­bü­gel­ten an­zu­se­hen.

»Die­se Post­kar­ten ge­schrie­ben. Sie ha­ben doch nichts genützt und kos­ten Ih­nen nun das Le­ben.«

»Weil ich ein dum­mer Mensch bin. Weil mir nichts Bes­se­res ein­ge­fal­len ist. Weil ich mit ei­ner an­de­ren Wir­kung rech­ne­te. Da­rum!«

»Und Sie be­dau­ern es nicht? Es tut Ih­nen nicht leid, we­gen solch ei­ner Dumm­heit das Le­ben zu ver­lie­ren?«

Ein schar­fer Blick traf den An­walt, der alte, stol­ze, har­te Vo­gelblick. »Aber ich bin we­nigs­tens an­stän­dig ge­blie­ben«, sag­te er. »Ich habe nicht mit­ge­macht.«

Der An­walt sah lan­ge auf den schwei­gend Da­sit­zen­den. Dann sag­te er: »Ich glau­be jetzt doch, mein Kol­le­ge, der Ihre Frau ver­tei­dig­te, hat recht ge­habt: Sie bei­de sind wahn­sin­nig.«

»Nen­nen Sie es wahn­sin­nig, dass man je­den Preis da­für be­zahlt, an­stän­dig zu blei­ben?«

»Sie hät­ten das auch ohne Kar­ten blei­ben kön­nen.«

»Das wäre schwei­gen­de Zu­stim­mung ge­we­sen. Was ha­ben Sie da­für be­zahlt, dass Sie so ein fei­ner Herr ge­wor­den sind mit so schön ge­bü­gel­ten Ho­sen, mit la­ckier­ten Fin­ger­nä­geln und mit ver­lo­ge­nen Ver­tei­di­gungs­re­den? Was ha­ben Sie da­für be­zahlt?«

Der An­walt schwieg.

»Da ha­ben Sie es!«, sag­te Quan­gel. »Und Sie wer­den im­mer mehr da­für be­zah­len, und viel­leicht wer­den Sie ei­nes Ta­ges auch den Kopf da­für las­sen müs­sen, ge­nau wie ich, aber dann las­sen Sie ihn für Ihre Un­an­stän­dig­keit!«

Noch im­mer schwieg der An­walt.

Quan­gel stand auf, er lach­te. »Se­hen Sie«, lach­te er. »Sie wis­sen gut, dass der hin­ter den Git­ter­stä­ben an­stän­dig ist und Sie da­vor der Lump, dass der Ver­bre­cher frei ist, aber der An­stän­di­ge zum Tode ver­ur­teilt. Sie sind kein Rechts­an­walt, nicht ohne Grund habe ich Sie Links­an­walt ge­nannt. Und Sie wol­len ein Gna­den­ge­such für mich ma­chen – ach, ge­hen Sie doch!«

»Und ich wer­de doch ein Gna­den­ge­such für Sie ein­rei­chen«, sag­te der An­walt.

Quan­gel ant­wor­te­te nicht.

»Also auf Wie­der­se­hen!«, sag­te der An­walt.

»Kaum – oder Sie se­hen bei mei­ner Hin­rich­tung zu. Sie sind herz­lich ein­ge­la­den!«

Der An­walt ging.

Er war ab­ge­brüht, ver­här­tet, er war schlecht. Aber er hat­te noch so viel Ver­stand, sich zu­zu­ge­ste­hen, dass der an­de­re der bes­se­re Mann war.

Das Gna­den­ge­such wur­de auf­ge­setzt, Irr­sinn war der An­lass, der den Füh­rer zur Gna­de be­stim­men soll­te, aber der An­walt wuss­te gut, dass sein Man­dant nicht irr­sin­nig war.

Auch für Anna Quan­gel wur­de ein Gna­den­ge­such un­mit­tel­bar an den Füh­rer ein­ge­reicht, aber die­ses Ge­such kam nicht aus der Stadt Ber­lin, es kam aus ei­nem klei­nen, ar­men mär­ki­schen Dorf, und un­ter dem Ge­such stand: Fa­mi­lie Heff­ke.

Die El­tern von Anna Quan­gel hat­ten einen Brief ih­rer Schwie­ger­toch­ter be­kom­men, von der Frau ih­res Soh­nes Ul­rich. In dem Brief stan­den nur schlim­me Nach­rich­ten, und sie wa­ren ohne Scho­nung in kur­z­en, har­ten Sät­zen nie­der­ge­schrie­ben. Der Sohn Ul­rich saß wahn­sin­nig in Wit­tenau, und Otto und Anna Quan­gel wa­ren dar­an schuld. Die aber wa­ren zum Tode ver­ur­teilt wor­den, weil sie ihr Land und ih­ren Füh­rer ver­ra­ten hat­ten. Das sind eure Kin­der, eine Schan­de ist es, Heff­ke zu hei­ßen!

 

Ohne ein Wort, ohne zu wa­gen, sich auch nur an­zu­se­hen, sa­ßen die bei­den al­ten Leu­te in ih­rer klei­nen, arm­se­li­gen Stu­be. Der Brief lag zwi­schen ih­nen, die­se Hiobs­post. Aber auch den Brief wag­ten sie nicht an­zu­se­hen.

Ihr Leb­tag hat­ten sie sich du­cken müs­sen, klei­ne Land­ar­bei­ter auf ei­nem großen Gut un­ter har­ten Ver­wal­tern, sie hat­ten ein kar­ges Le­ben ge­habt: viel Ar­beit, we­nig Freu­de. Die Freu­de wa­ren die Kin­der ge­we­sen, aus den Kin­dern war et­was Or­dent­li­ches ge­wor­den. Sie wa­ren mehr ge­wor­den als ihre El­tern, sie hat­ten sich nicht so schin­den müs­sen, Ul­rich, der Vor­ar­bei­ter in ei­ner op­ti­schen Fa­brik, und Anna, die Frau ei­nes Tisch­ler­meis­ters. Dass sie kaum schrie­ben, sich nicht se­hen lie­ßen, das stör­te die Al­ten kaum, das war die Art al­ler Vö­gel, die flüg­ge ge­wor­den sind. Wuss­ten sie doch, es ging den Kin­dern gut.

Und nun die­ser Schlag, die­ser er­bar­mungs­lo­se Schlag! Nach ei­ner Wei­le streckt sich die ver­ar­bei­te­te, dür­re Hand des al­ten Land­ar­bei­ters über den Tisch: »Mut­ter!«

Und plötz­lich stür­zen bei der Grei­sin die Trä­nen: »Ach, Va­ter! Un­se­re Anna! Un­ser Ul­rich! Nun sol­len sie un­sern Füh­rer ver­ra­ten ha­ben! Ich kann es nicht glau­ben, nie und nie!«

Drei Tage wa­ren sie so ver­wirrt, dass sie kei­nen Ent­schluss fas­sen konn­ten. Sie trau­ten sich nicht aus dem Hau­se, sie wag­ten nicht, je­man­dem ins Auge zu bli­cken, aus Furcht, die Schan­de kön­ne schon be­kannt ge­wor­den sein.

Dann, am vier­ten Tag, ba­ten Sie eine Haus­nach­ba­rin, ihr biss­chen Klein­vieh zu ver­sor­gen, und mach­ten sich auf den Weg nach der Stadt Ber­lin. Wie sie da die wind­ge­peitsch­te Chaus­see ent­lang­wan­der­ten, nach länd­li­cher Ge­wohn­heit der Mann vor­an, die Frau einen Schritt hin­ter­drein, gli­chen sie Kin­dern, die sich in der wei­ten Welt ver­irrt ha­ben, für die al­les zur Dro­hung wird: ein Wind­stoß, ein her­ab­fal­len­der dür­rer Ast, ein vor­über­fah­ren­des Auto, ein rau­es Wort. Sie wa­ren so völ­lig wehr­los.

Nach zwei Ta­gen wan­der­ten sie die glei­che Chaus­see zu­rück, noch klei­ner, noch ge­beug­ter, noch trost­lo­ser.

Sie hat­ten nichts er­reicht in Ber­lin. Die Schwie­ger­toch­ter hat­te sie nur mit Schmä­hun­gen über­häuft. Sie hat­ten den Sohn Ul­rich nicht se­hen dür­fen, weil kei­ne »Be­suchs­zeit« war. Die Anna und ihr Mann – kein Mensch konn­te ih­nen ge­nau sa­gen, in wel­chem Ge­fäng­nis sie la­gen. Sie hat­ten die Kin­der nicht ge­fun­den. Und der Füh­rer, der ge­lieb­te Füh­rer, von dem sie sich Hil­fe und Trost er­war­te­ten, des­sen Kanz­lei sie wirk­lich ge­fun­den hat­ten, der Füh­rer war nicht in Ber­lin ge­we­sen. Er war im Gro­ßen Haupt­quar­tier, da­mit be­schäf­tigt, Söh­ne um­zu­brin­gen, er hat­te kei­ne Zeit, El­tern zu hel­fen, die im Be­griff stan­den, ihre Kin­der zu ver­lie­ren.

Sie soll­ten nur ein Ge­such ma­chen, war ih­nen ge­sagt wor­den.

Sie wag­ten sich nie­man­dem an­zu­ver­trau­en. Sie fürch­te­ten sich vor der Schan­de. Sie, Par­tei­mit­glie­der seit vie­len Jah­ren, hat­ten eine Toch­ter, die den Füh­rer ver­ra­ten hat­te. Sie hät­ten hier nicht mehr le­ben kön­nen, wenn das be­kannt wur­de. Und sie muss­ten doch le­ben, um die Anna zu ret­ten. Nein, von kei­nem konn­ten sie sich bei die­sem Gna­den­ge­such hel­fen las­sen, nicht vom Leh­rer, nicht vom Bür­ger­meis­ter, selbst vom Pas­tor nicht.

Und müh­sam, in stun­den­lan­gen Ge­sprä­chen, Über­le­gun­gen, Schrei­ben mit zit­tern­der Hand brach­ten sie ein Gna­den­ge­such zu­stan­de. Es wur­de ge­schrie­ben und wie­der ab­ge­schrie­ben und noch ein­mal ins Rei­ne ge­schrie­ben und fing so an:

»Mein in­nig­ge­lieb­ter Füh­rer!

Eine ver­zwei­fel­te Mut­ter bit­tet Dich auf den Kni­en um das Le­ben ih­rer Toch­ter. Sie hat sich schwer an Dir ver­gan­gen, aber Du bist so groß, Du wirst Dei­ne Gna­de an ihr wal­ten las­sen. Du wirst ihr ver­zei­hen …«

Hit­ler, der zum Gott ge­wor­den ist, Herr des Wel­talls, all­mäch­tig, all­gü­tig, all­ver­zei­hend! Zwei alte Men­schen – drau­ßen rast der Krieg und mor­det Mil­lio­nen, sie glau­ben an ihn, noch da er ihre Toch­ter dem Hen­ker über­ant­wor­tet, glau­ben sie an ihn, kein Zwei­fel schleicht in ihr Herz, eher ist ihre Toch­ter schlecht als Gott der Füh­rer!

Sie wa­gen nicht, den Brief im Dorf ab­zu­sen­den, ge­mein­sam wan­dern sie zur Kreis­stadt, um ihn dort zur Post zu ge­ben. Als Adres­se steht auf ihm: »An die ei­ge­ne Per­son un­se­res in­nig ge­lieb­ten Füh­rers …«

Dann keh­ren sie heim in ihre Stu­be und war­ten gläu­big, dass ihr Gott gnä­dig ist …

Er wird gnä­dig sein!

Die Post nimmt das ver­lo­ge­ne Ge­such des An­walts wie das hilflo­se von zwei trau­ern­den El­tern und be­för­dert bei­de, aber sie bringt sie nicht zum Füh­rer. Der Füh­rer will sol­che Ge­su­che nicht se­hen, sie in­ter­es­sie­ren ihn nicht. Ihn in­ter­es­sie­ren Krieg, Zer­stö­rung, Mord, nicht die Ab­wen­dung des Mor­des. Die Ge­su­che wan­dern in die Kanz­lei des Füh­rers, sie be­kom­men eine Num­mer, sie wer­den re­gis­triert, und dann wird ein Stem­pel auf sie ge­drückt: An den Herrn Reichs­jus­tiz­mi­nis­ter wei­ter­ge­lei­tet. Zu­rück nur hier­her, falls Ver­ur­teil­ter Par­tei­mit­glied ist, was aus dem Gna­den­ge­such nicht er­sicht­lich … (Die zwei­ge­teil­te Gna­de, die Gna­de für Par­t­ei­ge­nos­sen und die Gna­de für Volks­ge­nos­sen.)

Auf dem Reichs­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um wer­den die Ge­su­che wie­der­um re­gis­triert und be­zif­fert, sie be­kom­men einen wei­te­ren Stem­pel: An die Ge­fäng­nis­ver­wal­tung zur Stel­lung­nah­me.

Die Post be­för­dert die Ge­su­che ein drit­tes Mal, und ein drit­tes Mal be­kom­men sie Num­mern und wer­den in ein Buch ein­ge­tra­gen. Eine Schrei­ber­hand setzt auf das Ge­such für Anna wie für Otto Quan­gel die we­ni­gen Wor­te: Die Füh­rung war nach der Haus­ord­nung. An­lass zur Gna­de­ner­tei­lung liegt hier nicht vor. Zu­rück an das Reichs­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um.

Wie­de­r­um zwei­ge­teil­te Gna­de: die einen, die sich ge­gen die Haus­ord­nung ver­gin­gen oder die sie nur be­folg­ten, ge­ben kei­nen An­lass zur Gna­de; aber wer sich durch Spio­na­ge, Ver­rat, Miss­hand­lung sei­ner Lei­dens­ge­nos­sen aus­ge­zeich­net hat­te, der fand – viel­leicht Gna­de.

Auf dem Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um bu­chen sie den Wie­der­ein­gang der Ge­su­che, sie drücken einen Stem­pel dar­auf: »Ab­leh­nen!«, und ein mun­te­res Fräu­lein tippt auf sei­ner Ma­schi­ne von mor­gens bis abends: Ihr Gna­den­ge­such wird ab­ge­lehnt … wird ab­ge­lehnt … ab­ge­lehnt … ab­ge­lehnt … ab­ge­lehnt …, den gan­zen Tag lang, alle Tage lang.

Und ei­nes Ta­ges er­öff­net dem Otto Quan­gel ein Be­am­ter: »Ihr Gna­den­ge­such ist ab­ge­lehnt.«

Quan­gel, der kein Gna­den­ge­such ge­macht hat, sagt kein Wort, es ist der Mühe nicht wert.

Aber die Post trägt den al­ten Leu­ten die Ab­leh­nung ins Haus, durch das Dorf läuft das Gerücht: »Die Heff­kes ha­ben einen Brief vom Reichs­jus­tiz­mi­nis­ter be­kom­men.«

Und wenn die al­ten Leu­te auch schwei­gen, be­harr­lich, angst­voll, zit­ternd schwei­gen, ein Bür­ger­meis­ter hat Wege, die Wahr­heit zu er­fah­ren, und bald kommt zu der Trau­er die Schan­de für zwei alte Leu­te …

Wege der Gna­de!