Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Und Was­ser klatsch­te in die Ge­sich­ter der ein­drin­gen­den Auf­se­her.

Und in der Lei­chen­kam­mer lag Kar­li Her­ge­sell ganz still mit ei­nem kind­haft klei­nen, fried­li­chen Ge­sicht.

Und all das war eine wil­de, pa­ni­sche, grau­si­ge Sym­pho­nie, ge­spielt zu Ehren Tru­dels, ver­wit­we­te Her­ge­sell, ge­bo­re­ne Bau­mann.

Aber sie lag un­ten, halb auf dem Lin­ole­um, halb auf dem schmut­zig­grau­en Ze­ment­bo­den der un­te­ren Sta­ti­on I.

Sie lag da ganz still, ihre klei­ne graue Hand, die noch so viel Mäd­chen­haf­tes hat­te, war leicht ge­öff­net. Ihre Lip­pen wa­ren von ein we­nig Blut ge­färbt, ihre Au­gen sa­hen blick­los in eine un­be­kann­te Ge­gend.

Aber ihre Ohren schie­nen auf den to­sen­den, auf- und ab­schwel­len­den Höl­len­lärm zu lau­schen, und ihre Stirn war ge­fal­tet, als grü­bele sie dar­über nach, ob die­ses wohl der Frie­de sei, den ihr der gute Pas­tor Lo­renz ver­spro­chen.

In Ver­folg aber die­ses Selbst­mor­des wur­de der Ge­fäng­nis­geist­li­che Fried­rich Lo­renz von sei­nem Amte sus­pen­diert, und nicht der ver­sof­fe­ne Arzt. Ein Ver­fah­ren wur­de ge­gen den Geist­li­chen er­öff­net. Denn es ist ein Ver­bre­chen und die Be­güns­ti­gung ei­nes Ver­bre­chens, wenn ei­nem Ge­fan­ge­nen ge­stat­tet wird, selbst sein Le­bens­en­de zu be­stim­men: dazu sind al­lein der Staat und sei­ne Die­ner be­rech­tigt.

Wenn ein Kri­mi­nal­be­am­ter einen Mann mit sei­nem Pis­to­len­kol­ben so ver­letzt, dass er ster­bens­krank wird, und wenn ein be­trun­ke­ner Arzt den Ver­letz­ten ster­ben lässt, so ist das al­les in Ord­nung. Aber wenn ein Geist­li­cher einen Selbst­mord nicht ver­hin­dert, wenn er ei­nem Ge­fan­ge­nen, der kei­nen ei­ge­nen Wil­len mehr ha­ben darf, den ei­ge­nen Wil­len lässt, so hat er ein Ver­bre­chen be­gan­gen und muss da­für bü­ßen.

Lei­der ent­zog sich Pas­tor Fried­rich Lo­renz – ge­nau wie die­se Her­ge­sell – der Süh­ne sei­nes Ver­bre­chens, in­dem er an ei­nem Blut­sturz starb, gra­de in dem Au­gen­blick, als er ver­haf­tet wer­den soll­te. Es war näm­lich auch der Ver­dacht auf­ge­taucht, dass er un­sitt­li­che Be­zie­hun­gen zu sei­nen Be­treu­ten un­ter­hielt. Er aber hat­te den Frie­den, wie er selbst ge­sagt hät­te, ihm blieb viel er­spart.

Aber so kam es, dass Frau Anna Quan­gel bis zur Haupt­ver­hand­lung nichts von dem Tode von Tru­del und Karl Her­ge­sell er­fuhr, denn der Nach­fol­ger des gu­ten Pas­tors war zu ängst­lich oder un­wil­lig, Bo­ten­gän­ge un­ter den Ge­fan­ge­nen zu über­neh­men. Er be­schränk­te sich strik­te auf die Seel­sor­ge, da, wo sie ge­wünscht wur­de.

61. Die Hauptverhandlung: Ein Wiedersehen

Auch bei dem raf­fi­nier­test aus­ge­klü­gel­ten Sys­tem kön­nen Feh­ler vor­kom­men. Der Volks­ge­richts­hof zu Ber­lin, ein Ge­richts­hof, der nichts mit dem Vol­ke zu tun hat­te und zu dem das Volk nicht ein­mal als stum­mer Zuschau­er zu­ge­las­sen war, denn sei­ne meis­ten Sit­zun­gen wa­ren ge­heim – die­ser Volks­ge­richts­hof war so ein raf­fi­niert aus­ge­klü­gel­tes Sys­tem: ehe der An­ge­klag­te noch den Ver­hand­lungs­saal be­tre­ten hat­te, war er prak­tisch schon ver­ur­teilt, und nichts schi­en es zu ge­ben, das da­für sprach, dass ein An­ge­klag­ter in die­sem Saa­le et­was Er­freu­li­ches er­le­ben könn­te.

An die­sem Mor­gen stand nur eine klei­ne Sa­che an: ge­gen Otto und Anna Quan­gel we­gen Lan­des- und Hoch­ver­rats. Der Zu­hö­rer­raum war kaum zu ei­nem Vier­tel ge­füllt: ein paar Par­tei­uni­for­men, ei­ni­ge Ju­ris­ten, die aus un­er­forsch­li­chen Grün­den die­ser Ver­hand­lung bei­zu­woh­nen wünsch­ten, und in der Haupt­sa­che Stu­den­ten der Ju­rispru­denz, die ler­nen woll­ten, wie die Jus­tiz Men­schen aus der Welt schafft, de­ren Ver­bre­chen dar­in be­stand, ihr Va­ter­land mehr ge­liebt zu ha­ben, als es die ver­ur­tei­len­den Rich­ter ta­ten. Alle die­se Leu­te hat­ten nur durch »Be­zie­hun­gen« Ein­tritts­kar­ten be­kom­men. Wo­her der klei­ne Mann mit dem wei­ßen Spitz­bärt­chen und den von klu­gen Fält­chen um­ge­be­nen Au­gen, wo­her also der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm sei­ne Kar­te be­zo­gen hat­te, bleibt un­be­kannt. Er saß je­den­falls un­auf­fäl­lig zwi­schen den an­de­ren, in ei­nem klei­nen Ab­stand von ih­nen, das Ge­sicht ge­senkt und häu­fig sei­ne gold­ge­fass­te Bril­le put­zend.

Um fünf Mi­nu­ten vor zehn Uhr wur­de Otto Quan­gel von ei­nem Schu­po in den Ge­richts­saal ge­führt. Man hat­te ihm die Klei­der an­ge­zo­gen, die er bei sei­ner Ver­haf­tung in der Werk­statt ge­tra­gen hat­te, ein sau­be­res, aber viel­fach ge­flick­tes All­tags­ge­wand, bei dem die dun­kelblau­en Fli­cken sehr leb­haft von dem ver­wa­sche­nen Blau der Grund­far­be ab­sta­chen. Sein im­mer noch schar­fes Auge glitt gleich­gül­tig von den noch lee­ren Plät­zen hin­ter der Ge­richts­schran­ke zu den Zuschau­ern hin­über, leuch­te­te einen Au­gen­blick auf beim An­blick des Kam­mer­ge­richts­rats – und Quan­gel setz­te sich auf die Bank der An­ge­klag­ten.

Kurz vor zehn Uhr wur­de die zwei­te An­ge­klag­te, Anna Quan­gel, von ei­nem zwei­ten Schu­po her­ein­ge­führt, und nun ge­sch­ah eben je­nes Ver­se­hen: kaum hat­te Anna Quan­gel ih­ren Mann ge­se­hen, so ging sie, ohne zu zö­gern, ohne die Men­schen im Saal zu be­ach­ten, zu ihm hin und setz­te sich ne­ben ihn.

Otto Quan­gel flüs­ter­te hin­ter der vor­ge­hal­te­nen Hand: »Sprich nicht! Noch nicht!«

Aber ein Auf­leuch­ten in sei­nem Auge sag­te ihr, wie er­freut er über die­ses Wie­der­se­hen war.

Es war na­tür­lich nie und nir­gends in der Ge­schäfts­ord­nung die­ses er­lauch­ten Hau­ses vor­ge­se­hen, dass zwei An­ge­klag­te, die seit Mo­na­ten sorg­fäl­tig von­ein­an­der iso­liert wor­den wa­ren, eine Vier­tel­stun­de vor Be­ginn der Ver­hand­lung sich zu­sam­men­set­zen und ge­müt­lich mit­ein­an­der plau­dern konn­ten. Aber sei es nun, dass die bei­den Schu­pos zum ers­ten Male die­sen Dienst ver­sa­hen und ihre Vor­schrif­ten ver­ges­sen hat­ten, oder sei es, dass sie die­ser Strafsa­che kei­ne große Be­deu­tung bei­ma­ßen, oder sei es, dass ih­nen die bei­den ein­fa­chen, fast dürf­tig an­ge­zo­ge­nen ält­li­chen Leut­lein ganz un­we­sent­lich er­schie­nen, ge­nug, sie er­ho­ben kei­nen Ein­wand ge­gen den von Frau Anna ge­wähl­ten Sitz­platz und küm­mer­ten sich auch in der fol­gen­den Vier­tel­stun­de so gut wie gar nicht um die bei­den An­ge­klag­ten. Viel­mehr be­gan­nen sie ein auf­re­gen­des Ge­spräch über ir­gend­wel­che Dienst­be­zü­ge, eine ih­nen vor­ent­hal­te­ne Nacht­zu­la­ge und un­be­rech­tig­te hohe Lohn­steu­er­ab­zü­ge.

Auch im Zuschau­er­raum wur­de – na­tür­lich au­ßer vom Kam­mer­ge­richts­rat Fromm – von nie­man­dem der Feh­ler be­merkt. Alle wa­ren nach­läs­sig und schlam­pig, nie­mand rüg­te die­sen zum Nach­teil des Drit­ten Rei­ches und zum Vor­teil zwei­er Hoch­ver­rä­ter be­gan­ge­nen Feh­ler. Ein Pro­zess, der nur zwei An­ge­klag­te aus dem Ar­bei­ter­stand auf­zu­wei­sen hat­te, konn­te hier kei­nen großen Ein­druck ma­chen. Hier war man Mons­ter­pro­zes­se ge­wöhnt, mit drei­ßig, vier­zig An­ge­klag­ten, die sich meist un­ter­ein­an­der gar nicht kann­ten, die aber zu ih­rer Über­ra­schung im Ver­lauf des Pro­zes­ses er­fuh­ren, dass sie alle mit­ein­an­der ver­schwo­ren wa­ren, und die dem­ge­mäß auch ver­ur­teilt wur­den.

So konn­te Quan­gel, nach ei­ni­gen Se­kun­den sorg­fäl­ti­gen Rund­blickes, sa­gen: »Ich freue mich, Anna. Geht’s dir gut?«

»Ja, Otto, jetzt geht’s mir wie­der gut.«

»Sie wer­den uns nicht lan­ge bei­ein­an­der­sit­zen las­sen. Aber wir wol­len uns die­ser Mi­nu­ten freu­en. Dir ist doch klar, was kom­men wird?«

Sehr lei­se: »Ja, Otto.«

»Ja, das To­des­ur­teil für uns bei­de, Anna. Es ist un­aus­bleib­lich.«

»Aber, Otto …«

»Nein, Anna, kein Aber. Ich weiß, du hast den Ver­such ge­macht, alle Schuld auf dich zu neh­men …«

»Sie wer­den eine Frau nicht so schwer ver­ur­tei­len, und du kommst viel­leicht mit dem Le­ben da­von.«

»Nein, nicht. Du kannst nicht gut ge­nug lü­gen. Du wirst nur die Ver­hand­lung in die Län­ge zie­hen. Lass uns die Wahr­heit sa­gen, dann geht es schnell.«

»Aber, Otto …«

»Nein, Anna, jetzt kein Aber. Den­ke nach. Lass uns nicht lü­gen. Die rei­ne Wahr­heit …«

»Aber, Otto …«

»Anna, ich bit­te dich!«

»Otto, ich möch­te dich doch ret­ten, ich möch­te wis­sen, dass du lebst!«

»Anna, ich bit­te dich!«

»Otto, mach es mir doch nicht so schwer!«

»Sol­len wir ge­gen die an­lü­gen? Uns strei­ten? De­nen ein Schau­spiel bie­ten? Die rei­ne Wahr­heit, Anna!«

Sie kämpf­te mit sich. Dann gab sie nach, wie sie ihm im­mer nach­ge­ge­ben hat­te. »Gut, Otto, ich ver­spre­che es dir.«

»Dan­ke, Anna. Ich dan­ke dir sehr.«

Sie schwie­gen. Sie sa­hen vor sich nie­der. Bei­de schäm­ten sie sich, ihre Rüh­rung zu zei­gen.

Die Stim­me des einen Po­li­zis­ten hin­ter ih­nen wur­de ver­nehm­bar: »Und da ha’ck den Leut­nant je­sacht, Leut­nant, ha’ck je­sacht, so wat könn Se doch mit mir nich ma­chen, Leut­nant, ha’ck je­sacht …«

Otto Quan­gel gab sich einen Ruck. Es muss­te sein. Wenn Anna es wäh­rend der Ver­hand­lung er­fuhr – und sie muss­te es im Ver­lauf der Ver­hand­lung er­fah­ren –, war al­les noch viel schlim­mer. Die Fol­gen wa­ren ganz un­über­seh­bar.

»Anna«, flüs­ter­te er. »Du bist stark und mu­tig, nicht wahr?«

»Ja, Otto«, ant­wor­te­te sie. »Jetzt bin ich es. Seit ich bei dir bin, bin ich es. Was ist noch Schlim­mes?«

»Ja, es ist et­was Schlim­mes, Anna …«

»Was ist es denn, Otto? Sage es doch, Otto! Wenn selbst du Angst hast, es mir zu sa­gen, be­kom­me ich auch Angst.«

 

»Anna, du hast nichts mehr von der Ger­trud ge­hört?«

»Von wel­cher Ger­trud?«

»Von der Tru­del doch!«

»Ach, von der Tru­del! Was ist mit der Tru­del? Nein, seit wir in der Un­ter­su­chungs­haft sind, habe ich nichts mehr von ihr ge­hört. Sie hat mir sehr ge­fehlt, sie war so gut zu mir. Sie hat mir ver­zie­hen, dass ich sie ver­ra­ten hat­te.«

»Du hast sie doch nicht ver­ra­ten, die Tru­del! Erst habe ich es auch ge­dacht, aber dann habe ich es ver­stan­den.«

»Ja, sie hat es auch ver­stan­den. Ich war so ver­wirrt wäh­rend der ers­ten Ver­hö­re durch die­sen schreck­li­chen Laub, dass ich nicht wuss­te, was ich sag­te, aber sie hat es ver­stan­den. Sie hat mir ver­zie­hen.«

»Gott­lob! Anna, sei mu­tig und stark! Die Tru­del ist tot.«

»Oh!«, stöhn­te Anna nur und leg­te die Hand aufs Herz. »Oh!«

Und er setz­te rasch hin­zu, um jetzt al­les auf ein­mal hin­ter sich zu brin­gen: »Und ihr Mann ist auch tot.«

Jetzt kam lan­ge kei­ne Ant­wort. Sie saß da, die Hän­de vor dem ge­senk­ten Ge­sicht, aber Otto fühl­te, dass sie nicht wein­te, dass sie noch wie be­täubt war von der schreck­li­chen Nach­richt. Und un­will­kür­lich sprach er die Wor­te, die der gute Pas­tor Lo­renz zu ihm beim Über­brin­gen die­ser Nach­richt ge­sagt hat­te: »Sie sind tot. Sie ha­ben den Frie­den. Ih­nen ist viel er­spart ge­blie­ben.«

»Ja!«, sag­te Anna jetzt. »Ja. Sie hat sich so viel um Ihren Kar­li ge­ängs­tigt, als kei­ne Nach­richt kam, aber nun hat sie den Frie­den.«

Sie schwieg lan­ge, und Quan­gel dräng­te sie nicht, ob­wohl er an der Un­ru­he im Saa­le merk­te, dass der Ge­richts­hof bald kom­men wür­de.

Lei­se frag­te Anna schließ­lich: »Sind die bei­den – hin­ge­rich­tet?«

»Nein«, ant­wor­te­te Quan­gel. »Er ist an den Fol­gen ei­nes Schla­ges ge­stor­ben, den er bei der Ver­haf­tung ab­be­kom­men hat.«

»Und Tru­del?«

»Sie hat sich dann selbst das Le­ben ge­nom­men«, sag­te Otto Quan­gel schnell. »Sie ist über das Git­ter im fünf­ten Stock ge­sprun­gen. Sie ist so­fort tot ge­we­sen, hat der Pas­tor Lo­renz ge­sagt. Sie hat nicht ge­lit­ten.«

»Das ist in der Nacht ge­sche­hen«, er­in­ner­te sich Anna Quan­gel plötz­lich, »als das gan­ze Ge­fäng­nis schrie! Jetzt weiß ich es, oh, es war schreck­lich, Otto!« Und sie ver­barg das Ge­sicht.

»Ja, es war schreck­lich«, wie­der­hol­te Quan­gel. »Auch bei uns war es schreck­lich.«

Nach ei­ner Wei­le hob sie den Kopf wie­der und sah Otto fest an. Noch zit­ter­ten ihre Lip­pen, aber sie sag­te: »Es ist bes­ser, wie es ge­kom­men ist. Wenn sie hier ne­ben uns sä­ßen, es wäre so schreck­lich. Nun ha­ben sie ih­ren Frie­den.« Und ganz lei­se: »Otto, Otto, wir könn­ten es auch so ma­chen.«

Er sah sie fest an. Und sie sah in den har­ten, schar­fen Au­gen ein Licht, wie sie es nie ge­se­hen, ein spöt­ti­sches Licht, als sei al­les nur ein Spiel, das, was sie jetzt sag­te, und das, was kom­men wür­de, und das un­ver­meid­li­che Ende. Als sei es nicht wert, so ernst ge­nom­men zu wer­den.

Dann schüt­tel­te er lang­sam den Kopf. »Nein, Anna, wir tun das nicht. Wir steh­len uns nicht weg, als sei­en wir über­führ­te Ver­bre­cher. Wir neh­men ih­nen das Ur­teil nicht ab. Wir nicht!« Und in ei­nem ganz an­de­ren Ton: »Für all so was ist es zu spät. Wirst du nicht ge­fes­selt?«

»Doch«, sag­te sie. »Aber als der Schu­po mich bis an die Tür hier ge­führt hat­te, hat er mir das Kett­chen ab­ge­nom­men.«

»Du siehst!«, sag­te er. »Es wür­de miss­lin­gen.«

Er ver­schwieg ihr, dass er, seit man ihn aus dem Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis fort­ge­führt hat­te, ge­fes­selt war, mit Hand­schel­len und ei­ner Ket­te, mit Fuß­schel­len und ei­ner Ei­sen­stan­ge. Wie bei Anna hat­te der Schu­po ihm erst an der Tür des Ver­hand­lungs­saals die­sen Schmuck ab­ge­nom­men: der Staat soll­te nicht um sein Schlachtop­fer be­tro­gen wer­den.

»Nun gut«, fand sie sich dar­ein. »Aber du glaubst doch, Otto, dass wir zu­sam­men hin­ge­rich­tet wer­den?«

»Ich weiß nicht«, sag­te er aus­wei­chend. Er woll­te sie nicht be­lü­gen und wuss­te doch, je­des wür­de al­lein ster­ben müs­sen.

»Aber man wird uns doch zur glei­chen Stun­de hin­rich­ten?«

»Si­cher, Anna, be­stimmt wird man das!«

Aber er war nicht so si­cher. Er fuhr fort: »Aber den­ke jetzt nicht dar­an. Den­ke nur dar­an, dass wir jetzt stark sein müs­sen. Wenn wir uns schul­dig be­ken­nen, wird al­les sehr schnell ge­hen. Wenn wir kei­ne Aus­flüch­te ma­chen und nicht lü­gen, ha­ben wir viel­leicht schon in ei­ner hal­b­en Stun­de un­ser Ur­teil.«

»Ja, so wol­len wir es ma­chen. Aber, Otto, wenn es so schnell geht, wer­den wir auch schnell wie­der ge­trennt, und viel­leicht se­hen wir uns nie wie­der.«

»Be­stimmt se­hen wir uns – vor­her noch wie­der, Anna. Das hat man mir ge­sagt, wir dür­fen noch Ab­schied neh­men von­ein­an­der. Be­stimmt, Anna!«

»Dann ist es gut, Otto, dann habe ich doch was, auf das ich mich jede Stun­de freu­en kann. Und jetzt sit­zen wir bei­sam­men.«

Sie sa­ßen nur noch eine Mi­nu­te bei­sam­men, dann wur­de der Feh­ler ent­deckt, und die bei­den wur­den weit aus­ein­an­der ge­setzt. Sie muss­ten den Kopf wen­den, um ein­an­der zu se­hen. Gott­lob war es der An­walt von Frau Quan­gel, der den Feh­ler ent­deck­te, ein freund­li­cher, grau­er, et­was ver­sorg­ter Mann, den das Ge­richt als Pf­licht­an­walt be­stellt hat­te, da Quan­gel da­bei ge­blie­ben war, kein Geld an eine so nutz­lo­se Sa­che wie ihre Ver­tei­di­gung zu wen­den.

Da der An­walt den Feh­ler ent­deckt hat­te, ging es ohne al­les Ge­schrei ab. Auch die bei­den Schutz­po­li­zis­ten hat­ten alle Ur­sa­che, den Mund zu hal­ten, und so er­fuhr der Prä­si­dent des Volks­ge­richts­hofs, Feis­ler, nie, was hier Un­ver­zeih­li­ches ge­sche­hen war. Die Ver­hand­lung hät­te sonst wahr­schein­lich noch viel län­ger ge­dau­ert.

62. Die Hauptverhandlung: Präsident Feisler

Der Prä­si­dent des Volks­ge­richts­hofs, der höchs­te Rich­ter im deut­schen Lan­de zu je­ner Zeit, Feis­ler, hat­te das Aus­se­hen ei­nes ge­bil­de­ten Man­nes. Er war, nach der Ter­mi­no­lo­gie des Werk­meis­ters Otto Quan­gel, ein fei­ner Herr. Er wuss­te sei­nen Talar mit An­stand zu tra­gen, und das Ba­rett ver­lieh sei­nem Haupt Wür­de, saß nicht sinn­los an­ge­klebt dar­auf wie auf vie­len an­de­ren Köp­fen. Die Au­gen wa­ren klug, aber kalt. Er hat­te eine hohe, schö­ne Stirn, aber der Mund war ge­mein, die­ser Mund mit den har­ten, grau­sa­men und doch wol­lüs­ti­gen Lip­pen ver­riet den Mann, einen Lüst­ling, der alle Genüs­se die­ser Welt ge­sucht hat­te und der stets an­de­re da­für hat­te zah­len las­sen.

Und die Hän­de mit ih­ren lan­gen, kno­ti­gen Fin­gern wa­ren ge­mein, Fin­ger wie die Kral­len ei­nes Gei­ers – wenn er eine be­son­ders ver­let­zen­de Fra­ge stell­te, so krümm­ten sich die­se Fin­ger, als wühl­ten sie im Fleisch des Op­fers. Und sei­ne Art zu spre­chen war ge­mein: die­ser Mann konn­te nie ru­hig und sach­lich spre­chen, er hack­te auf sei­ne Op­fer los, er be­schimpf­te sie, er sprach mit schnei­den­der Iro­nie. Ein ge­mei­ner Mensch, ein schlech­ter Mensch.

Seit­dem Otto Quan­gel die An­kla­ge zu­ge­stellt wor­den war, hat­te er man­ches Mal mit Dr. Reich­hardt, sei­nem Freun­de, über die­se Haupt­ver­hand­lung ge­spro­chen. Auch der klu­ge Dr. Reich­hardt war der An­sicht ge­we­sen, da das Ende doch un­ab­än­der­lich sei, sol­le Quan­gel von vorn­her­ein al­les zu­ge­ste­hen, nichts ver­tu­schen, nie lü­gen. Das wür­de die­sen Leu­ten den Wind aus den Se­geln neh­men, sie wür­den nicht lan­ge mit ihm her­um­schimp­fen kön­nen. Die Ver­hand­lung wür­de dann nur kurz sein, man wür­de be­stimmt auf eine Zeu­gen­ver­neh­mung ver­zich­ten.

Es war eine klei­ne Sen­sa­ti­on, als bei­de An­ge­klag­te auf die Fra­ge des Vor­sit­zen­den, ob sie sich im Sin­ne der An­kla­ge schul­dig be­kenn­ten, mit ei­nem ein­fa­chen »Ja« ant­wor­te­ten. Denn mit die­sem Ja hat­ten sie sich selbst das To­des­ur­teil ge­spro­chen und jede wei­te­re Ver­hand­lung un­nö­tig ge­macht.

Ei­nen Au­gen­blick stutz­te auch der Prä­si­dent Feis­ler, über­wäl­tigt von die­sem kaum je ge­hör­ten Ge­ständ­nis.

Aber dann be­sann er sich. Er woll­te sei­ne Ver­hand­lung ha­ben. Er woll­te die­se bei­den Ar­bei­ter im Dreck se­hen, er woll­te sie sich win­den se­hen un­ter sei­nen mes­ser­schar­fen Fra­gen. Die­ses Ja auf die Fra­ge »Schul­dig?« hat­te Stolz ge­zeigt. Prä­si­dent Feis­ler sah es den Ge­sich­tern im Zu­hö­rer­raum an, die teils ver­blüfft, teils nach­denk­lich aus­sa­hen, und er woll­te den An­ge­klag­ten die­sen Stolz neh­men. Sie soll­ten aus die­ser Ver­hand­lung ohne Stolz, ohne Wür­de hin­aus­ge­hen.

Feis­ler frag­te: »Sie sind sich klar dar­über, dass Sie durch die­ses Ja sich selbst das Le­ben ab­ge­spro­chen ha­ben, dass Sie sich selbst ge­schie­den ha­ben von al­len an­stän­di­gen Men­schen? Dass Sie ein ge­mei­ner, to­des­wür­di­ger Ver­bre­cher sind, des­sen Aas man am Hal­se auf­hän­gen wird? Sie sind sich klar dar­über? Ant­wor­ten Sie mit Ja oder mit Nein!«

Quan­gel sag­te lang­sam: »Ich bin schul­dig, ich habe ge­tan, was in der An­kla­ge steht.«

Der Prä­si­dent hack­te zu: »Sie sol­len mit Ja oder Nein ant­wor­ten! Sind Sie ein ge­mei­ner Volks­ver­rä­ter, oder sind Sie es nicht? Ja oder nein!«

Quan­gel sah den fei­nen Herrn dort über sich scharf an. Er sag­te: »Ja!«

»Pfui Teu­fel!«, schrie der Prä­si­dent und spuck­te hin­ter sich. »Pfui Teu­fel! Und so was nennt sich Deut­scher!«

Er sah Quan­gel mit tiefer Ver­ach­tung an und wand­te dann sei­nen Blick zu Anna Quan­gel. »Und Sie da, Sie Frau da?«, frag­te er. »Sind Sie auch so ge­mein wie Ihr Mann? Sind Sie auch eine schuf­ti­ge Volks­ver­rä­te­rin? Schän­den Sie auch das An­se­hen Ihres auf dem Fel­de der Ehre ge­fal­le­nen Soh­nes? Ja oder nein?«

Der ver­sorg­te graue An­walt er­hob sich ei­lig und sag­te: »Ich bit­te doch, be­mer­ken zu dür­fen, Herr Prä­si­dent, dass mei­ne Man­dan­tin …«

Der Prä­si­dent hack­te wie­der zu. »Ich neh­me Sie in Stra­fe, Herr Rechts­an­walt«, sag­te er, »ich neh­me Sie so­fort in Stra­fe, wenn Sie noch ein­mal, ohne auf­ge­for­dert zu sein, das Wort er­grei­fen! Set­zen Sie sich!«

Der Prä­si­dent wen­de­te sich wie­der an Anna Quan­gel. »Nun, wie ist es mit Ih­nen? Be­sin­nen Sie sich auf den letz­ten Rest von An­stän­dig­keit in Ih­rer Brust, oder wol­len Sie so et­was sein wie Ihr Mann, von dem wir jetzt schon wis­sen, dass er ein ge­mei­ner Volks­ver­rä­ter ist? Sind Sie eine Ver­rä­te­rin Ihres Vol­kes in schwe­rer Not­zeit? Ha­ben Sie den Mut, den ei­ge­nen Sohn zu schän­den? Ja oder nein?«

Anna Quan­gel sah ängst­lich zö­gernd zu ih­rem Mann hin­über.

»Sie ha­ben mich an­zu­se­hen! Nicht die­sen Hoch­ver­rä­ter! Ja oder nein!«

Lei­se, aber deut­lich: »Ja!«

»Sie sol­len laut re­den! Wir wol­len es alle hö­ren, dass eine deut­sche Mut­ter sich nicht schämt, den Hel­den­tod ih­res ei­ge­nen Soh­nes mit Schan­de zu be­de­cken!«

»Ja!«, sag­te Anna Quan­gel laut.

»Un­glaub­lich!«, rief Feis­ler. »Ich habe hier viel Trau­ri­ges und auch Grau­en­haf­tes er­lebt, aber eine sol­che Schan­de ist mir noch nicht vor­ge­kom­men! Sie müss­ten nicht ge­hängt, son­dern ent­mensch­te Bes­ti­en wie Sie müss­ten ge­vier­teilt wer­den!«

Er sprach mehr zu den Hö­rern als zu den Quan­gels, er nahm die An­k­la­ge­re­de des An­klä­gers vor­weg. Er schi­en sich zu be­sin­nen (er woll­te sei­ne Ver­hand­lung ha­ben): »Aber mei­ne schwe­re Pf­licht als Obers­ter Rich­ter ge­bie­tet es mir, mich nicht ein­fach mit Ihrem Schuld­be­kennt­nis zu be­gnü­gen. So schwer es mir auch fällt und so aus­sichts­los es er­scheint, mei­ne Pf­licht ge­bie­tet mir nach­zu­prü­fen, ob es nicht doch viel­leicht ir­gend­wel­che Mil­de­rungs­grün­de gibt.«

So be­gann es, und dann dau­er­te es sie­ben Stun­den an.

Ja, der klu­ge Dr. Reich­hardt in der Zel­le hat­te sich ge­irrt und Quan­gel mit ihm. Nie hat­ten sie da­mit ge­rech­net, dass der höchs­te Rich­ter des deut­schen Vol­kes die Ver­hand­lung in ei­ner so ab­grund­tie­fen, so ge­mei­nen Ge­häs­sig­keit füh­ren wer­de. Es war, als hät­ten die Quan­gels ihn selbst, den Herrn Prä­si­den­ten Feis­ler, höchst­per­sön­lich ge­kränkt, als sei ein klei­ner, miss­güns­ti­ger, nie ver­zei­hen­der Mann in sei­ner Ehre be­lei­digt und lege es nun dar­auf an, sei­nen Geg­ner bis auf den Tod zu ver­let­zen. Es war, als habe Quan­gel die Toch­ter des Prä­si­den­ten ver­führt, so per­sön­lich war das al­les, so him­mel­weit ent­fernt von al­ler Sach­lich­keit. Nein, da hat­ten sich die bei­den ge­wal­tig ge­irrt, die­ses Drit­te Reich hat­te für sei­nen tiefs­ten Veräch­ter im­mer noch neue Über­ra­schun­gen, es war über jede Ge­mein­heit hin­aus ge­mein.

 

»Die Zeu­gen, Ihre an­stän­di­gen Ar­beits­ka­me­ra­den, ha­ben aus­ge­sagt, dass Sie von ei­nem gra­de­zu schmut­zi­gen Geiz be­ses­sen wa­ren, An­ge­klag­ter. Was ha­ben Sie nun wohl in ei­ner Wo­che ver­dient?«, frag­te der Prä­si­dent etwa.

»Vier­zig Mark habe ich in der letz­ten Zeit nach Haus ge­bracht«, ant­wor­te­te Quan­gel.

»So, vier­zig Mark, und da wa­ren also die Ab­zü­ge, die Lohn­steu­er und das Win­ter­hilfs­werk und die Kran­ken­kas­se und die Ar­beits­front, schon weg?«

»Die wa­ren schon weg.«

»Das scheint mir aber ein ganz hüb­scher Ver­dienst zu sein für zwei alte Leu­te wie Sie, ja?«

»Wir sind da­mit aus­ge­kom­men.«

»Nein, Sie sind nicht da­mit aus­ge­kom­men! Sie lü­gen schon wie­der! Son­dern Sie ha­ben noch re­gel­mä­ßig ge­spart! Stimmt das oder stimmt das nicht?«

»Das stimmt. Meis­tens ha­ben wir was zu­rück­ge­legt.«

»Wie viel ha­ben Sie denn zu­rück­le­gen kön­nen jede Wo­che, im Durch­schnitt?«

»Das kann ich so ge­nau nicht sa­gen. Das war ver­schie­den.«

Der Prä­si­dent er­ei­fer­te sich: »Im Durch­schnitt, habe ich ge­sagt! Im Durch­schnitt! Ver­ste­hen Sie nicht, was das heißt, im Durch­schnitt? Und Sie schimp­fen sich Hand­werks­meis­ter? Kön­nen nicht mal rech­nen! Pracht­voll!«

Der Prä­si­dent Feis­ler schi­en es aber gar nicht pracht­voll zu fin­den, son­dern er sah den An­ge­klag­ten em­pört an.

»Ich bin über fünf­zig. Ich habe fünf­und­zwan­zig Jah­re ge­ar­bei­tet. Die Jah­re sind ver­schie­den ge­we­sen. Ich bin auch mal ar­beits­los ge­we­sen. Oder der Jun­ge war krank. Ich kann kei­nen Durch­schnitt sa­gen.«

»So? Das kön­nen Sie nicht? Ich will Ih­nen sa­gen, warum Sie das nicht kön­nen! Sie wol­len es nicht! Das ist eben Ihr schmut­zi­ger Geiz ge­we­sen, von dem Ihre an­stän­di­gen Ar­beits­ka­me­ra­den sich mit Ab­scheu ab­ge­wandt ha­ben. Sie ha­ben Angst, wir könn­ten hier er­fah­ren, wie viel Sie zu­sam­men­ge­scharrt ha­ben! Nun, wie viel ist es ge­we­sen? Kön­nen Sie das auch nicht sa­gen?«

Quan­gel kämpf­te mit sich. Der Prä­si­dent hat­te wirk­lich eine schwa­che Stel­le bei ihm ge­fun­den. Wie viel sie tat­säch­lich ge­spart hat­ten, wuss­te nicht ein­mal Anna. Aber dann gab Quan­gel sich einen Ruck. Er warf auch das hin­ter sich. In den letz­ten Wo­chen hat­te er so vie­les hin­ter sich ge­wor­fen, warum nicht auch dies? Er lös­te sich ganz von dem Letz­ten, das ihn noch an sein al­tes Le­ben band, und sag­te: »4763 Mark!«

»Ja«, wie­der­hol­te der Prä­si­dent und lehn­te sich in sei­nen ho­hen Richter­stuhl zu­rück. »4763 Mark und 67 Pfen­ni­ge!« Er las die Zahl aus den Ak­ten vor. »Und Sie schä­men sich gar nicht, einen Staat zu be­kämp­fen, der Sie so viel hat ver­die­nen las­sen? Sie be­kämp­fen die Ge­mein­schaft, die so für Sie ge­sorgt hat?« Er stei­ger­te sich. »Sie wis­sen nicht, was Dank­bar­keit ist. Sie wis­sen nicht, was Ehre ist. Ein Schand­fleck sind Sie! Sie müs­sen aus­ge­tilgt wer­den!«

Und die Gei­er­kral­len schlos­sen sich, öff­ne­ten sich wie­der­um und schlos­sen sich noch ein­mal, als zer­flei­sche er Aas.

»Fast die Hälf­te von dem Gel­de hat­te ich schon vor der Machter­grei­fung ge­spart«, sag­te Quan­gel.

Je­mand im Zuschau­er­raum lach­te, ver­stumm­te aber so­fort er­schro­cken, als ihn ein bit­ter­bö­ser Blick des Prä­si­den­ten traf. Er hüs­tel­te ver­le­gen.

»Ich bit­te um Ruhe! Um ab­so­lu­te Ruhe! Und Sie, An­ge­klag­ter, wenn Sie hier frech wer­den, so wer­de ich Sie be­stra­fen. Den­ken Sie nur nicht, dass Sie jetzt vor je­der an­de­ren Stra­fe si­cher sind. Sie könn­ten sonst was er­le­ben!« Er sah Quan­gel durch­drin­gend an: »Nun sa­gen Sie mir mal, An­ge­klag­ter, wo­für ha­ben Sie ei­gent­lich ge­spart?«

»Für un­ser Al­ter doch.«

»Ach nee, für Ihr Al­ter? Wie rüh­rend das klingt! Aber ge­lo­gen ist es doch wie­der. Zum min­des­ten seit Sie die Kar­ten schrie­ben, ha­ben Sie ge­wusst, dass Sie nicht mehr sehr alt wer­den wür­den! Sie ha­ben hier sel­ber zu­ge­stan­den, dass Sie sich stets klar über die Fol­gen Ih­rer Ver­bre­chen ge­we­sen sind. Aber trotz­dem ha­ben Sie im­mer wei­ter zu­rück­ge­legt und Geld bei der Spar­kas­se ein­ge­zahlt. Für was denn?«

»Ich habe doch im­mer da­mit ge­rech­net, dass ich da­von­kom­me.«

»Was heißt das, da­von­kom­men? Dass Sie frei­ge­spro­chen wer­den?«

»Nein, an so was habe ich nie ge­glaubt. Ich habe ge­dacht, ich wer­de nicht ge­fasst.«

»Sie se­hen, da ha­ben Sie ein biss­chen falsch ge­dacht. Ich glau­be es Ih­nen aber auch nicht, dass Sie so ge­dacht ha­ben. So dumm sind Sie ja gar nicht, wie Sie sich jetzt stel­len. Sie kön­nen gar nicht ge­dacht ha­ben, dass Sie Ihre Ver­bre­chen noch Jah­re und Jah­re un­ge­stört fort­set­zen könn­ten.«

»Ich glau­be nicht an Jah­re und Jah­re.«

»Was soll das hei­ßen?«

»Ich glau­be nicht, dass es noch lan­ge hält, das Tau­send­jäh­ri­ge Reich«, sag­te Quan­gel, den schar­fen Vo­gel­kopf dem Prä­si­den­ten zu­wen­dend.

Der An­walt un­ten fuhr er­schro­cken zu­sam­men.

Bei den Hö­rern lach­te je­mand wie­der auf, und so­fort wur­de dort ein dro­hen­des Mur­ren laut.

»So ein Schwein!«, schrie ei­ner.

Der Schutz­po­li­zist hin­ter Quan­gel rück­te an sei­nem Tscha­ko, mit der an­de­ren Hand fass­te er nach sei­ner Pis­to­len­ta­sche.

Der An­klä­ger war auf­ge­sprun­gen und schwenk­te ein Blatt Pa­pier.

Frau Quan­gel sah lä­chelnd auf ih­ren Mann und nick­te eif­rig.

Der Schutz­po­li­zist hin­ter ihr fass­te nach ih­rer Schul­ter und drück­te sie schmerz­haft.

Sie be­zwang sich und schrie nicht.

Ein Bei­sit­zer starr­te mit weit of­fe­nem Mun­de auf Quan­gel.

Der Prä­si­dent sprang auf: »Sie Ver­bre­cher, Sie! Sie Idi­ot! Sie Ver­bre­cher! Sie wa­gen hier zu sa­gen …«

Er brach ab, auf sei­ne Wür­de be­dacht.

»Der An­ge­klag­te ist erst ein­mal ab­zu­füh­ren. Wacht­meis­ter, füh­ren Sie den Kerl raus! Der Ge­richts­hof be­schließt über eine an­ge­mes­se­ne Be­stra­fung …«

Nach ei­ner Vier­tel­stun­de wur­de die Ver­hand­lung wie­der auf­ge­nom­men.

Viel be­ach­tet wur­de, dass der An­ge­klag­te jetzt nicht mehr rich­tig ge­hen zu kön­nen schi­en. All­ge­mein dach­te man: Den ha­ben sie un­ter­des hübsch in der Ma­che ge­habt. Auch Anna Quan­gel dach­te dies mit Angst.

Der Prä­si­dent Feis­ler ver­kün­de­te: »Der An­ge­klag­te Otto Quan­gel er­hält für vier Wo­chen Dun­kelar­rest bei Was­ser und Brot und völ­li­gem Kost­ent­zug an je­dem drit­ten Tag. Au­ßer­dem«, setz­te Prä­si­dent Feis­ler er­klä­rend hin­zu, »sind dem An­ge­klag­ten die Ho­sen­trä­ger fort­ge­nom­men wor­den, da er, wie mir ge­mel­det wur­de, sich in der Pau­se eben ver­däch­tig mit ih­nen zu schaf­fen ge­macht hat. Es be­steht Selbst­mord­ver­dacht.«

»Ich hab nur mal aus­tre­ten müs­sen.«

»Sie hal­ten das Maul, An­ge­klag­ter! Es be­steht Selbst­mord­ver­dacht. Der An­ge­klag­te wird sich von nun an ohne Ho­sen­trä­ger be­hel­fen müs­sen. Er hat sich das selbst zu­zu­schrei­ben.«

Im Zu­hö­rer­raum wur­de schon wie­der ge­lacht, aber jetzt warf der Prä­si­dent einen fast wohl­wol­len­den Blick dort­hin, er freu­te sich selbst an sei­nem gu­ten Witz. Der An­ge­klag­te stand da, in et­was ver­krampf­ter Hal­tung, im­mer muss­te er die rut­schen­de Hose fest­hal­ten.

Der Prä­si­dent lä­chel­te. »Wir fah­ren in der Ver­hand­lung fort.«