Hans Fallada – Gesammelte Werke

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

59. Der gute Pastor

Pas­tor Fried­rich Lo­renz, der un­er­müd­lich im Ge­fäng­nis sei­nen Dienst ver­rich­te­te, war ein Mann in den bes­ten Jah­ren, das heißt um die Vier­zig her­um, sehr lang, schmal­brüs­tig, ewig hüs­telnd, ein von der Tu­ber­ku­lo­se Ge­zeich­ne­ter, der sei­ne Krank­heit igno­rier­te, weil die Ar­beit ihm für die Pfle­ge und Hei­lung sei­nes Kör­pers kei­ne Zeit ließ. Sein blas­ses Ge­sicht mit dunklen Au­gen hin­ter Bril­lenglä­sern und der schmal­rücki­gen, fei­nen Nase hat­te einen Ba­cken­bart, aber die Mund­par­tie war stets ta­del­los ra­siert und zeig­te einen schmal­lip­pi­gen, blas­sen, großen Mund und ein fes­tes run­des Kinn.

Dies war der Mann, auf den Hun­der­te von Ge­fan­ge­nen je­den Tag war­te­ten, der ein­zi­ge Freund, den sie in die­sem Hau­se wuss­ten, der noch eine Brücke zur Au­ßen­welt war, dem sie ihre Sor­gen und Nöte vor­tru­gen und der half, so­viel in sei­ner Macht stand, je­den­falls bei Wei­tem mehr, als ihm ge­stat­tet war. Uner­müd­lich ging er von Zel­le zu Zel­le, nie ab­ge­stumpft ge­gen das Lei­den der an­de­ren, stets sein ei­ge­nes Leid ver­ges­send, völ­lig furcht­los, was die ei­ge­ne Per­son an­ging. Ein wah­rer Seel­sor­ger, der nie nach dem Be­kennt­nis, nach dem Glau­ben der Hil­fe­su­chen­den frag­te, der mit ih­nen be­te­te, wenn es er­be­ten wur­de, und der sonst nur der Bru­der Mensch war.

Der Pas­tor Fried­rich Lo­renz steht vor dem Pult des Ge­fäng­nis­di­rek­tors, Schweiß­trop­fen ste­hen auf sei­ner Stirn, zwei rote Fle­cke zeich­nen sich auf sei­nen Ba­cken ab, aber er sagt ganz ru­hig: »Das ist der sie­ben­te durch Ver­nach­läs­si­gung her­vor­ge­ru­fe­ne To­des­fall in den letz­ten zwei Wo­chen.«

»Auf dem To­ten­schein steht Lun­gen­ent­zün­dung«, wi­der­spricht der Di­rek­tor, sieht aber da­bei von sei­ner Schrei­be­rei nicht auf.

»Der Arzt tut sei­ne Pf­licht nicht«, sagt der Pas­tor hart­nä­ckig und klopft da­bei sanft mit dem Knö­chel auf den Schreib­tisch, als be­geh­re er Ein­lass bei dem Di­rek­tor. »Es tut mir leid, sa­gen zu müs­sen, der Arzt trinkt zu viel. Sei­ne Pa­ti­en­ten ver­nach­läs­sigt er.«

»Oh, der Dok­tor ist schon ganz in Ord­nung«, ant­wor­tet der Di­rek­tor flüch­tig und schreibt wei­ter. Er ge­währt dem Pas­tor kei­nen Ein­lass. »Ich woll­te, Sie wä­ren eben­so in Ord­nung, Herr Pas­tor. Wie ist es, ha­ben Sie Num­mer 397 einen Kas­si­ber zu­ge­steckt oder nicht?«

Jetzt end­lich be­geg­nen sich der bei­den Bli­cke, der des rot­ge­sich­ti­gen Di­rek­tors mit sei­nem Ge­sicht vol­ler Schmis­se und der Blick des von sei­nem Fie­ber ver­brann­ten Geist­li­chen.

»Es ist der sie­ben­te To­des­fall in zwei Wo­chen«, sagt Pas­tor Lo­renz be­harr­lich. »Das Ge­fäng­nis braucht einen neu­en Arzt.«

»Ich frag­te Sie eben et­was, Herr Pas­tor. Wür­den Sie mir gü­tigst ant­wor­ten?«

»Ja­wohl, ich habe Num­mer 397 einen Brief über­ge­ben, aber kei­nen Kas­si­ber. Es war ein Brief sei­ner Frau, der ihm mel­det, dass der drit­te Sohn die­ses Man­nes nun doch nicht ge­fal­len, son­dern in Kriegs­ge­fan­gen­schaft ge­ra­ten ist. Zwei Söh­ne hat er schon ver­lo­ren, den drit­ten glaub­te er auch tot.«

»Sie fin­den stets einen Grund, die Ge­fäng­nis­ord­nung zu über­tre­ten, Herr Pas­tor. Aber ich sehe mir die­ses Spiel nicht lan­ge mehr an.«

»Ich bit­te um Ab­lö­sung des Arz­tes«, wie­der­holt der Pas­tor hart­nä­ckig und klopft wie­der lei­se auf den Schreib­tisch.

»Ach was!«, schreit der rot­ge­sich­ti­ge Di­rek­tor plötz­lich los. »Be­läs­ti­gen Sie mich nicht mehr mit Ihrem blö­den Ge­schwätz! Der Dok­tor ist gut, er bleibt! Und Sie, se­hen Sie zu, dass Sie die Ge­fäng­nis­ord­nung be­fol­gen, sonst pas­siert Ih­nen noch was!«

»Was kann mir pas­sie­ren?«, frag­te der Pas­tor. »Ich kann ster­ben. Und ich wer­de ster­ben. Sehr bald. Ich bit­te noch­mals um die Ab­lö­sung des Arz­tes.«

»Sie sind ein Narr, Pas­tor«, sag­te der Di­rek­tor kalt. »Ich neh­me an, Ihre Schwind­sucht hat Sie ein biss­chen ver­rückt ge­macht. Wenn Sie nicht so ein harm­lo­ser Trot­tel wä­ren – eben ein Narr! –, wä­ren Sie längst ge­hängt. Aber ich habe Mit­leid mit Ih­nen.«

»Wen­den Sie Ihr Mit­leid lie­ber Ihren Ge­fan­ge­nen zu«, ant­wor­te­te der Pas­tor eben­so kalt. »Und sor­gen Sie für einen pflicht­be­wuss­ten Arzt.«

»Sie ma­chen die Tür jetzt am bes­ten von au­ßen zu, Herr Pas­tor.«

»Ich habe Ihr Ver­spre­chen, dass Sie für einen an­de­ren Arzt sor­gen?«

»Nein, nein, zum Don­ner­wet­ter, nein! Sche­ren Sie sich zum Hen­ker!«

Jetzt war der Di­rek­tor doch in Wut ge­ra­ten, er war auf­ge­sprun­gen hin­ter sei­nem Schreib­tisch und hat­te zwei Schrit­te auf den Pas­tor zu ge­macht. »Soll ich Sie mit Kör­per­ge­walt raus­schmei­ßen, wol­len Sie das?«

»Es wür­de nicht gut für die Ge­fan­ge­nen drau­ßen in der Schreib­stu­be aus­se­hen. Es wür­de das biss­chen An­se­hen, das die Staats­au­to­ri­tät bei ih­nen noch ge­nießt, noch wei­ter er­schüt­tern. Aber im­mer­hin, wie Sie wol­len, Herr Di­rek­tor!«

»Narr!«, sag­te der Di­rek­tor, war aber durch den Hin­weis des Pas­tors so weit er­nüch­tert, dass er sich wie­der auf sei­nen Stuhl setz­te. »Ge­hen Sie jetzt. Ich habe zu ar­bei­ten.«

»Die drin­gends­te Ar­beit ist die Be­stel­lung ei­nes neu­en Arz­tes.«

»Glau­ben Sie, durch Ihre Hart­nä­ckig­keit et­was zu er­rei­chen? Gera­de das Ge­gen­teil er­rei­chen Sie! Der Dok­tor bleibt nun erst recht!«

»Ich er­in­ne­re mich«, sag­te der Pas­tor, »ei­nes Ta­ges, da Sie selbst mit die­sem Arzt nicht ganz zu­frie­den wa­ren. Es war Nacht, es stürm­te. Sie hat­ten um an­de­re Ärz­te ge­schickt und te­le­fo­niert, die nicht ka­men. Ihr sechs­jäh­ri­ger Bert­hold hat­te eine Ve­rei­te­rung des Mit­tel­ohrs, er wim­mer­te vor Schmer­zen. Es be­stand Le­bens­ge­fahr. Ich hol­te auf Ihre Bit­ten den Ge­fäng­nis­arzt. Er war be­trun­ken. Beim An­blick des ster­ben­den Kin­des ver­lor er den Rest sei­ner Be­sin­nung; er ver­wies auf sei­ne zit­tern­den Hän­de, die je­den chir­ur­gi­schen Ein­griff un­mög­lich mach­ten, und brach in Trä­nen aus.«

»Der be­trun­ke­ne Schuft!«, mur­mel­te der Di­rek­tor, der plötz­lich fins­ter ge­wor­den war.

»Ihr Bert­hold ist ge­ret­tet wor­den da­mals, durch einen an­de­ren Arzt. Aber was ein­mal ge­sch­ah, kann sich wie­der­ho­len. Sie rüh­men sich, kein Christ zu sein, Herr Di­rek­tor, trotz­dem sage ich Ih­nen: Gott lässt sei­ner nicht spot­ten!«

Der Ge­fäng­nis­di­rek­tor sag­te mit Über­win­dung, ohne hoch­zu­se­hen: »Also ge­hen Sie jetzt, Herr Pas­tor.«

»Und der Arzt?«

»Ich will se­hen, was sich tun lässt.«

»Ich dan­ke Ih­nen, Herr Di­rek­tor. Vie­le wer­den Ih­nen dan­ken.«

Der Geist­li­che ging durch das Ge­fäng­nis, in sei­nem ab­ge­tra­ge­nen schwar­zen Rock, des­sen El­len­bo­gen grau schim­mer­ten, mit sei­nen aus­ge­beu­tel­ten schwar­zen Ho­sen, den dick­soh­li­gen, ge­fet­te­ten Schu­hen und der ver­rutsch­ten schwar­zen Bin­de, eine skur­ri­le Fi­gur. Man­che von den Wär­tern grüß­ten ihn, an­de­re wand­ten sich os­ten­ta­tiv bei sei­nem Na­hen um und späh­ten ihm dann arg­wöh­nisch nach, so­bald er vor­über war. Aber alle auf den Gän­gen be­schäf­tig­ten Ge­fan­ge­nen hat­ten einen Blick für ihn (da sie ihn nicht grü­ßen durf­ten), einen Blick vol­ler Dank­bar­keit.

Der Geist­li­che geht durch vie­le Ei­sen­tü­ren, über ei­ser­ne Trep­pen, sich am ei­ser­nen Ge­län­der fest­hal­tend. Aus ei­ner Zel­le hört er Wei­nen, er bleibt einen Au­gen­blick ste­hen, schüt­telt dann aber den Kopf und geht ei­lig wei­ter. Er kommt durch einen ei­ser­nen Keller­gang, rechts und links gäh­nen die of­fe­nen Tü­ren der Dun­kel­zel­len, der Straf­zel­len, vor ihm brennt in ei­nem Rau­me Licht. Der Pas­tor bleibt ste­hen und sieht hin­ein.

In dem häss­li­chen, schmut­zi­gen Raum sitzt an ei­nem Tisch ein Mann mit ei­nem grau­en, fins­te­ren Ge­sicht und starrt mit fi­schi­gen Au­gen auf sie­ben Män­ner, die, er­bärm­lich vor Käl­te zit­ternd, split­ter­nackt vor ihm ste­hen, un­ter der Auf­sicht von zwei Wacht­meis­tern.

»Na, ihr mei­ne Hüb­schen!«, grölt der Mann. »Was wa­ckelt ihr denn so? Ein biss­chen kalt, wie? Oh, nicht doch, was Käl­te ist, das wer­det ihr erst er­le­ben, wenn ihr im Bun­ker sitzt, zwi­schen Ei­sen und Ze­ment, bei Was­ser und Brot …«

Er un­ter­bricht sich. Er hat die schwei­gen­de, be­ob­ach­ten­de Ge­stalt in der Tür ge­se­hen.

»Haupt­wacht­meis­ter«, be­fiehlt er mür­risch. »Füh­ren Sie die Leu­te ab! Alle ge­sund und dun­kelar­rest­fä­hig. Hier ha­ben Sie den Wisch!«

Er hat sei­nen Na­men un­ter eine Lis­te ge­setzt und gibt sie dem Be­am­ten.

Die Ge­fan­ge­nen ge­hen an dem Pas­tor vor­über, nicht ohne einen er­bar­mungs­wür­di­gen Blick auf ihn zu wer­fen, in dem doch schon eine lei­se Hoff­nung glimmt.

Der Pas­tor war­tet, bis der Letz­te von ih­nen ver­schwun­den ist, dann erst tritt er ganz in den Raum und sagt lei­se: »Also 352 ist nun auch tot. Und ich hat­te Sie doch ge­be­ten …«

»Was kann ich ma­chen, Pas­tor? Ich selbst habe heu­te zwei Stun­den bei dem Man­ne ge­ses­sen und ihm Um­schlä­ge ge­macht.«

»Dann muss ich ge­schla­fen ha­ben. Ich glaub­te bis­her, ich hät­te die gan­ze Nacht bei 352 ge­ses­sen. Und es war auch mit sei­ner Lun­ge nichts, Herr Dok­tor, 357 hat­te eine Lun­gen­ent­zün­dung. Der tote Her­ge­sell auf 352 hat­te einen Schä­del­bruch.«

»Sie soll­ten an mei­ner Stel­le hier Arzt sein«, sag­te der schwam­mi­ge Mann spöt­tisch. »Ich kann ja den Seel­sor­ger ma­chen.«

»Ich fürch­te nur, Sie wür­den einen noch schlech­teren Seel­sor­ger ab­ge­ben als Arzt.«

Der Dok­tor lach­te. »Wenn Sie frech wer­den, Pfäff­lein, lie­be ich Sie. Darf ich nicht ein­mal Ihre Lun­ge un­ter­su­chen?«

 

Der Pas­tor sag­te un­be­irrt: »Nein, das dür­fen Sie nicht, das wol­len wir lie­ber ei­nem an­de­ren Arzt über­las­sen.«

»Aber auch ohne Un­ter­su­chung kann ich Ih­nen mit­tei­len, dass Sie es kein Vier­tel­jahr mehr ma­chen wer­den«, fuhr der Arzt bos­haft fort. »Ich weiß, Sie wer­fen schon seit Mai Blut aus – nein, es wird nicht mehr lan­ge dau­ern bis zum ers­ten Blut­sturz.«

Der Pas­tor war bei die­ser grau­sa­men Er­öff­nung viel­leicht einen Schat­ten blas­ser ge­wor­den, aber sei­ne Stim­me schwank­te nicht, als er sag­te: »Und wie viel Zeit wer­den die Leu­te, die Sie eben in Dun­kelar­rest ha­ben ab­füh­ren las­sen, bis zu ih­rem ers­ten Blut­sturz noch ha­ben, Herr Me­di­zi­nal­rat?«

»Die Leu­te sind sämt­lich ge­sund und dun­kelar­rest­fä­hig – laut ärzt­li­chem Be­fund.«

»Frei­lich sind sie gar nicht erst un­ter­sucht wor­den.«

»Wol­len Sie mei­ne Amts­füh­rung kon­trol­lie­ren? Ich war­ne Sie! Ich weiß mehr von Ih­nen, als Sie glau­ben!«

»Und mit mei­nem ers­ten Blut­sturz wird Ihr Wis­sen wert­los! Üb­ri­gens habe ich ihn schon hin­ter mir …«

»Was? Was ha­ben Sie hin­ter sich?!«

»Mei­nen ers­ten Blut­sturz – vor drei oder vier Ta­gen.«

Der Arzt stand schwer­fäl­lig auf. »Also kom­men Sie mit mir, Pfäff­chen, ich wer­de Sie oben in mei­ner Bude un­ter­su­chen. Ich wer­de er­rei­chen, dass Sie so­fort Ur­laub be­kom­men. Wir wer­den einen An­trag ma­chen, dass Sie in die Schweiz dür­fen, und bis der be­wil­ligt ist, schi­cke ich Sie nach Thü­rin­gen.«

Der Pas­tor, nach des­sen Arm der Halb­trun­ke­ne ge­grif­fen hat­te, stand un­be­weg­lich. »Und was wird un­ter­des mit den Män­nern im Dun­kelar­rest? Zwei von ih­nen sind be­stimmt nicht fä­hig, die Näs­se, die Käl­te und den Hun­ger dort zu er­tra­gen, und al­len sie­ben wür­de es dau­ern­den Scha­den tun.«

Der Arzt ant­wor­te­te: »Sech­zig Pro­zent der Leu­te in die­sem Hau­se wer­den hin­ge­rich­tet. Ich schät­ze, dass min­des­tens fünf­und­drei­ßig Pro­zent der üb­ri­gen zu lang­jäh­ri­gen Zucht­haus­stra­fen ver­ur­teilt wer­den. Was kommt es also dar­auf an, ob sie ein Vier­tel­jahr frü­her oder spä­ter ster­ben?«

»Da Sie so den­ken, ha­ben Sie kein Recht mehr, sich hier Arzt zu nen­nen. Tre­ten Sie von Ihrem Amt zu­rück!«

»Der nach mir kommt, wird auch nicht an­ders sein. Wa­rum also än­dern?« Der Me­di­zi­nal­rat lach­te. »Kom­men Sie, Pas­tor, las­sen Sie sich un­ter­su­chen. Sie wis­sen doch, ich habe eine Schwä­che für Sie, trotz­dem Sie stän­dig ge­gen mich wüh­len und het­zen. Sie sind so ein pracht­vol­ler Don Qui­chot­te!«

»Ich habe eben auch ge­gen Sie ge­wühlt und ge­hetzt. Ich habe beim Di­rek­tor Ihre Ab­lö­sung be­an­tragt und eine Drei­vier­tel­zu­sa­ge be­kom­men.«

Der Arzt fing an zu la­chen. Er klopf­te dem Pas­tor auf die Schul­ter und rief: »Aber das ist ja präch­tig von Ih­nen, Pfäff­lein, da muss ich Ih­nen ja di­rekt dank­bar sein. Denn wenn ich ab­ge­löst wer­de, fal­le ich be­stimmt die Trep­pe hin­auf, wer­de Ober­me­di­zi­nal­rat und brau­che gar nichts mehr zu tun. Mei­nen in­nigs­ten Dank, Pfäff­lein!«

»Zei­gen Sie ihn da­durch, dass Sie den Kraus und den klei­nen Wendt aus dem Dun­kelar­rest ho­len. Sie über­ste­hen ihn nicht le­bend. Wir ha­ben in den letz­ten bei­den Wo­chen schon sie­ben To­des­fäl­le durch Ihre Nach­läs­sig­keit ge­habt.«

»Sie Schmeich­ler! Aber ich kann Ih­nen nun mal kei­nen Korb ge­ben. Ich wer­de die bei­den heu­te Abend raus­ho­len. Jetzt gleich, nach­dem ich eben mei­ne Un­ter­schrift ge­ge­ben habe, wür­de es doch et­was zu kom­pro­mit­tie­rend für mich aus­se­hen, oder was mei­nen Sie, Pas­tor?«

60. Trudel Hergesell, geborene Baumann

Die Ver­le­gung in das Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis hat­te Tru­del Her­ge­sell von Anna Quan­gel ge­trennt. Es wur­de Tru­del schwer, die »Mut­ter« ent­beh­ren zu müs­sen. Sie hat­te längst ver­ges­sen, dass Anna der Grund ih­rer Ver­haf­tung ge­we­sen war, nein, sie hat­te es nicht ver­ges­sen, aber sie hat­te es ver­zie­hen. Mehr noch, sie hat­te ein­ge­se­hen, dass es ei­gent­lich auch nichts zu ver­zei­hen gab. In die­sen Ver­hö­ren war nie­mand sei­ner ganz si­cher, die ge­ris­se­nen Kom­missa­re konn­ten eine harm­lo­se Er­wäh­nung zu ei­ner Sch­lin­ge ma­chen, in der man sich ret­tungs­los fing.

Nun war Tru­del ohne die Mut­ter, sie hat­te nie­man­den mehr, mit dem sie spre­chen konn­te. Von dem Glück, das sie ein­mal be­ses­sen, von der Sor­ge um Kar­li, die sie jetzt ganz er­füll­te, muss­te sie schwei­gen. Ihre neue Zel­len­ge­nos­sin war ein ält­li­ches, gel­bes Frau­en­zim­mer – die bei­den hat­ten sich vom ers­ten Au­gen­blick ge­hasst, und im­mer hat­te die­ses Weib mit den Wär­te­rin­nen und Auf­se­he­rin­nen zu tu­scheln. War der Pas­tor in der Zel­le, ent­ging kein Wort ih­rer Auf­merk­sam­keit.

Durch den Pas­tor hat­te Tru­del frei­lich doch et­was über ih­ren Kar­li er­fah­ren. Frau Hän­sel, ihre Zel­len­ge­nos­sin, war ge­ra­de mal wie­der vor­ne auf der Ver­wal­tung, si­cher, um ir­gend­ei­nen Men­schen durch ihre Klat­sche­rei­en ins Un­glück zu stür­zen. Der Pas­tor hat­te Tru­del er­zählt, dass ihr Mann mit ihr im glei­chen Ge­fäng­nis sei, dass er aber krank lie­ge, meist ohne kla­re Be­sin­nung – im­mer­hin kön­ne er ihr aber einen Gruß von Kar­li aus­rich­ten.

Seit­dem leb­te Tru­del nur in der Hoff­nung auf des Pfar­rers Be­su­che. Wenn auch die Hän­sel da­bei war, im­mer brach­te es der Geist­li­che fer­tig, ihr eine Nach­richt zu­zu­schan­zen. Oft sa­ßen sie da­bei un­ter dem Fens­ter, die Sche­mel eng an­ein­an­der­ge­rückt, und der Pas­tor Lo­renz las ihr ein Ka­pi­tel aus dem Neu­en Te­sta­ment vor, wäh­rend die Hän­sel meist an der an­de­ren Zel­len­wand stand, den Blick auf­merk­sam auf die bei­den ge­rich­tet.

Für Tru­del war die Bi­bel et­was ganz Neu­es. Sie war re­li­gi­ons­los durch die Hit­ler­schu­len ge­gan­gen, und sie hat­te nie ein re­li­gi­öses Be­dürf­nis ge­spürt. Gott war für sie kein Be­griff, Gott war für sie nur ein Wort in Aus­ru­fen wie: »Ach, du lie­ber Gott!« Man konn­te eben­so gut »Ach, du lie­ber Him­mel!«, sa­gen – es mach­te kei­nen Un­ter­schied.

Auch jetzt, als sie aus dem Evan­ge­li­um Mat­thäi vom Le­ben Chris­ti er­fuhr, sag­te sie dem Pas­tor, sie kön­ne sich dar­un­ter, dass er »Got­tes Sohn« sei, nichts vor­stel­len. Aber der Pas­tor Lo­renz hat­te dazu nur sanft ge­lä­chelt und ge­meint, das scha­de jetzt nichts. Sie sol­le nur dar­auf ach­ten, wie die­ser Je­sus Chris­tus auf der Erde ge­lebt habe, wie er die Men­schen ge­liebt habe, auch sei­ne Fein­de. Die »Wun­der« sol­le sie neh­men, wie sie wol­le, als schö­ne Mär­chen, aber sie sol­le doch er­fah­ren, wie ei­ner auf die­ser Erde ge­lebt habe, so­dass sei­ne Spur noch nach fast zwei­tau­send Jah­ren un­ver­gäng­lich strah­le, ewi­ges Ab­bild des­sen, dass die Lie­be stär­ker sei als der Hass.

Tru­del Her­ge­sell, die eben­so kräf­tig has­sen wie lie­ben konn­te (und die beim Empfang die­ser Leh­re die Frau Hän­sel in drei Me­tern Ent­fer­nung aus tiefs­tem Her­zen hass­te), die Tru­del Her­ge­sell hat­te sich zu­erst ge­gen eine sol­che Leh­re auf­ge­lehnt. Sie kam ihr gar zu weich­lich vor. So war es nicht Je­sus Chris­tus, der ihr Herz emp­fäng­li­cher mach­te, son­dern sein Pas­tor Fried­rich Lo­renz. Wenn sie die­sen Mann be­trach­te­te, des­sen schwe­re Krank­heit nie­mand über­se­hen konn­te, wenn sie er­leb­te, dass er an ih­ren Sor­gen teil­hat­te, als sei­en es sei­ne ei­ge­nen, dass er nie an sich selbst dach­te, wenn sie sei­nen Mut er­kann­te, der ihr beim Le­sen einen Zet­tel in die Hand spiel­te, auf dem eine Bot­schaft über Kar­li stand, und wenn sie ihn dann mit der An­ge­be­rin Hän­sel ge­nau­so freund­lich-gü­tig spre­chen hör­te wie mit ihr selbst, mit die­ser Frau, von der er doch wuss­te, sie war zu je­der Mi­nu­te fä­hig, ihn zu ver­ra­ten, ihn dem Hen­ker aus­zu­lie­fern, so emp­fand sie et­was wie Glück, einen tie­fen Frie­den, der von die­sem Man­ne aus­ging, der nicht has­sen, son­dern nur lie­ben woll­te, auch noch den schlech­tes­ten Men­schen lie­ben.

Die­ses neue Ge­fühl be­wirk­te nun frei­lich nicht in ihr, dass nun die Tru­del Her­ge­sell mil­der zur Hän­sel ge­wor­den wäre, aber sie wur­de ihr viel­leicht gleich­gül­ti­ger, der Hass war ihr nicht mehr so wich­tig. Sie konn­te manch­mal auf ih­ren Wan­de­run­gen durch die Zel­le plötz­lich vor der Hän­sel ste­hen blei­ben und sie fra­gen: »Wa­rum ma­chen Sie das ei­gent­lich? Wa­rum ver­klat­schen Sie je­den? Hof­fen Sie eine ge­rin­ge­re Stra­fe zu be­kom­men?«

Die Hän­sel wen­de­te bei ei­ner sol­chen An­spra­che den Blick ih­rer gel­ben, bö­sen Au­gen nicht von Tru­del ab. Ent­we­der ant­wor­te­te sie gar nichts, oder sie sag­te: »Den­ken Sie denn, ich habe nicht ge­se­hen, wie Sie Ihre Brust ge­gen den Arm vom Pas­tor ge­drückt ha­ben? So ’ne Ge­mein­heit, einen halb­to­ten Mann noch ver­füh­ren zu wol­len! Aber war­te, ich er­wisch euch bei­de noch mal! Ich er­wisch euch!«

Bei was die Hän­sel den Pas­tor und die Tru­del Her­ge­sell ei­gent­lich er­wi­schen woll­te, blieb un­klar. Tru­del hat­te für sol­che Schmä­hun­gen auch nur ein kur­z­es, spöt­ti­sches Auf­la­chen und nahm dann wort­los ihre end­lo­se Zel­len­wan­de­rung wie­der auf, im­mer mit dem Ge­dan­ken an Kar­li be­schäf­tigt. Es war nicht zu ver­ken­nen, dass die Nach­rich­ten über ihn stets schlech­ter wur­den, so vor­sich­tig und scho­nend sie der Pas­tor auch ab­fass­te. Wenn es etwa hieß, dass nichts Neu­es vor­lag, da sein Zu­stand un­ver­än­dert sei, so be­deu­te­te das, dass Kar­li ihr kei­nen Gruß be­stellt hat­te, was wie­der so zu ver­ste­hen war, dass er be­sin­nungs­los lag. Denn der Pas­tor log nicht, das hat­te Tru­del auch schon ge­lernt, er be­stell­te kei­nen Gruß, wenn ihm kei­ner auf­ge­tra­gen war. Er ver­schmäh­te je­den bil­li­gen Trost, der sich ei­nes Ta­ges doch als Lüge ent­pup­pen muss­te.

Aber auch durch die Ver­neh­mun­gen durch den Un­ter­su­chungs­rich­ter wuss­te Tru­del, dass es schlimm mit ih­rem Man­ne stand. Nie wur­de auf eine neue­re Aus­sa­ge von ihm Be­zug ge­nom­men, über al­les soll­te sie Aus­kunft ge­ben, und sie wuss­te doch wirk­lich nichts über den Kof­fer des elen­den Gri­go­leit, der sie bei­de – wil­lent­lich? – ins Un­glück ge­ris­sen hat­te. Wenn die Ver­neh­mungs­me­tho­den des Un­ter­su­chungs­rich­ters auch nicht so bo­den­los ge­mein und bru­tal wa­ren wie die des Kom­missars Laub, die glei­che Hart­nä­ckig­keit wie Laub hat­te er auch. Tru­del kam von die­sen Sit­zun­gen im­mer völ­lig er­schöpft und mut­los in ihre Zel­le zu­rück. Ach, Kar­li, Kar­li! Ihn nur ein­mal wie­der­se­hen dür­fen, an sei­nem La­ger sit­zen, sei­ne Hand hal­ten dür­fen, ganz still, ohne ein Wort!

Es hat­te eine Zeit ge­ge­ben, da hat­te sie ge­glaubt, sie lieb­te ihn nicht, sie wür­de ihn nie lie­ben kön­nen. Nun war sie wie durch­tränkt von ihm, die Luft, die sie at­me­te, war er, das Brot, das sie aß, er, die De­cke, die sie wärm­te, er. Und er war so nahe, ein paar Gän­ge, ein paar Trep­pen, eine Tür – aber auf der gan­zen Welt war kein Mensch so barm­her­zig, dass er sie ein­mal, ein ein­zi­ges Mal nur zu ihm hin­ge­führt hät­te! Auch die­ser schwind­süch­ti­ge Pas­tor nicht!

Sie hat­ten eben alle Angst um ihr lie­bes Le­ben, sie wag­ten nichts Ernst­li­ches, um ei­ner Hilflo­sen wirk­lich zu hel­fen. Und plötz­lich kommt in ihre Erin­ne­rung der Lei­chen­kel­ler aus dem Ge­sta­po­bun­ker, der lan­ge SS-Mann, der sich eine Zi­ga­ret­te an­steck­te und zu ihr »Mä­del! Mä­del!« sag­te, ihr Su­chen zwi­schen den Lei­chen, nach­dem Anna und sie die tote Ber­ta ent­klei­det hat­ten – und es scheint ihr, als ob das da­mals noch eine mil­de, barm­her­zi­ge Stun­de war, als sie Kar­li su­chen durf­te. Und nun? Ein­ge­schlos­sen das zu­cken­de Herz zwi­schen Ei­sen und Stein! Al­lein!

Die Tür wird ge­schlos­sen, viel lang­sa­mer und sach­ter, als es die Auf­se­he­rin­nen tun, nun klopft es gar: der Pas­tor.

»Darf ich ein­tre­ten?«, fragt er.

»Kom­men Sie bit­te, kom­men Sie doch, Herr Pas­tor!«, ruft Tru­del Her­ge­sell wei­nend.

Wäh­rend die Frau Hän­sel mit ei­nem ge­häs­si­gen Blick mur­melt: »Was will der denn schon wie­der?«

Und da lehnt Tru­del plötz­lich ih­ren Kopf ge­gen die schma­le, rasch at­men­de Brust des Geist­li­chen, ihre Trä­nen flie­ßen, sie ver­birgt das Ge­sicht an sei­ner Brust, und sie fleht: »Herr Pas­tor, mir ist so angst! Sie müs­sen mir hel­fen! Ich muss den Kar­li se­hen, nur ein­mal noch! Ich füh­le, es wird das letz­te Mal sein …«

 

Und die grel­le Stim­me der Frau Hän­sel: »Das mel­de ich! Das mel­de ich aber so­fort!« Wäh­rend der Pas­tor ihr trös­tend über den Kopf streicht und sagt: »Ja, mein Kind, Sie sol­len ihn se­hen, ein­mal noch!«

Da schüt­telt sie ein im­mer stär­ker wer­den­des Schluch­zen, und sie weiß, dass Kar­li tot ist, dass sie ihn nicht um­sonst im Lei­chen­kel­ler ge­sucht hat, dass es eine Vorah­nung war, eine War­nung.

Und sie schreit: »Er ist tot! Herr Pas­tor, er ist tot!«

Und er ant­wor­tet, er spen­det den ein­zi­gen Trost, den er die­sen Tod­ge­weih­ten spen­den kann, er sagt: »Kind, er lei­det nicht mehr. Du hast es schwe­rer.«

Sie hört es noch. Sie will dar­über nach­den­ken, es rich­tig ver­ste­hen, aber es wird ihr dun­kel vor den Au­gen. Das Licht er­lischt. Ihr Kopf sinkt vorn­über.

»Fas­sen Sie doch mit an, Frau Hän­sel!«, bit­tet der Pas­tor. »Ich bin zu schwach, sie zu hal­ten.«

Und dann ist auch drau­ßen Nacht, Nacht zu Nacht, Dun­kel zu Dun­kel.

Tru­del, ver­wit­we­te Her­ge­sell, ist auf­ge­wacht, und sie weiß, dass sie nicht in ih­rer Zel­le ist, und sie weiß wie­der, dass Kar­li tot ist. Sie sieht ihn wie­der lie­gen auf sei­ner schma­len Zel­len­prit­sche, mit dem so klein und jung ge­wor­de­nen Ge­sicht, und sie denkt an das Ge­sicht des Kin­des, das sie ge­bo­ren, und bei­de Ge­sich­ter ge­hen in­ein­an­der über, und sie weiß, dass sie al­les ver­lo­ren hat auf die­ser Welt, Kind und Mann, dass sie nie­mals wird lie­ben, nie wird Kin­der ge­bä­ren dür­fen, und al­les dies, weil sie für einen al­ten Mann eine Post­kar­te auf ein Fens­ter­brett ge­legt hat, dass dar­um ihr gan­zes Le­ben zer­bro­chen ist und das von Kar­li dazu und dass es nie wie­der Son­ne und Glück und Som­mer für sie ge­ben wird, und kei­ne Blu­men …

Blu­men auf mein Grab, Blu­men auf dein Grab …

Und bei dem un­ge­heu­ren Schmerz, der sich im­mer wei­ter in ihr aus­brei­tet, der sie durch­käl­tet wie Eis, schließt sie die Au­gen wie­der und will zu­rück in Nacht und Ver­ges­sen. Aber die Nacht ist drau­ßen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötz­lich durch­strömt Hit­ze sie … Sie springt mit ei­nem Schrei vom Bett auf und will fort, nur lau­fen, die­sem gräss­li­chen Schmerz ent­lau­fen. Aber eine Hand fasst nach ihr …

Es wird hell, und wie­der ist es der Pas­tor, der bei ihr ge­ses­sen hat, der sie nun fest­hält. Ja, es ist eine frem­de Zel­le, es ist Kar­lis Zel­le, aber sie ha­ben ihn schon fort­ge­bracht, und der Mann, der hier mit Kar­li in der Zel­le lag, ist auch fort.

»Wo ist er hin­ge­bracht?«, fragt sie atem­los, als sei sie einen wei­ten Weg ge­lau­fen.

»Ich wer­de an sei­nem Gra­be mei­ne Ge­be­te spre­chen.«

»Was hel­fen ihm jetzt noch Ihre Ge­be­te? Hät­ten Sie um sein Le­ben ge­be­tet, als noch Zeit da­für war!«

»Er hat den Frie­den, Kind!«

»Ich will hier fort!«, sagt Tru­del fie­ber­haft. »Bit­te, las­sen Sie mich zu­rück in mei­ne Zel­le, Herr Pas­tor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muss es se­hen, jetzt gleich. Er sah so an­ders aus.«

Und wäh­rend sie so spricht, weiß sie sehr wohl, dass sie den gu­ten Pas­tor be­lügt und dass sie ihn be­trü­gen will. Denn sie be­sitzt kein Bild von Kar­li, und sie will nie wie­der in ihre Zel­le zu der Frau Hän­sel zu­rück.

Und flüch­tig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahn­sin­nig, aber jetzt muss ich mich gut ver­stel­len, dass er es nicht merkt … Nur fünf Mi­nu­ten noch mei­nen Wahn­sinn ver­ste­cken!

Der Pas­tor führt sie sorg­lich an sei­nem Arm aus der Zel­le über vie­le Gän­ge und Trep­pen in das Frau­en­ge­fäng­nis zu­rück, und aus vie­len Zel­len hört sie tie­fes At­men – die schla­fen – und aus an­de­ren rast­lo­se Schrit­te – die sor­gen sich – und wie­der aus an­de­ren Wei­nen – die tra­gen Leid, aber nie­mand trägt so viel Leid wie sie.

Aber als der Pas­tor eine Tür auf- und hin­ter ihr wie­der ab­ge­schlos­sen hat, nimmt sie sei­nen Arm nicht wie­der, und schwei­gend ge­hen die bei­den wei­ter durch den nächt­li­chen Gang mit den Dun­kelar­rest­zel­len, aus de­nen der be­trun­ke­ne Arzt ge­gen sein Ver­spre­chen die bei­den Kran­ken nicht er­löst hat, und nun stei­gen sie vie­le Trep­pen im Frau­en­ge­fäng­nis hin­an bis zur Sta­ti­on V, wo die Tru­del liegt.

Dort auf dem obers­ten Gang schlurft ih­nen eine Wär­te­rin ent­ge­gen und sagt: »Jetzt nachts um elf Uhr vier­zig brin­gen Sie erst die Her­ge­sell zu­rück, Herr Pas­tor? Wo wa­ren Sie denn so lan­ge mit ihr?«

»Sie war vie­le Stun­den ohn­mäch­tig. Ihr Mann ist ge­stor­ben, wis­sen Sie.«

»So – und da ha­ben Sie die jun­ge Frau also ge­trös­tet, Herr Pas­tor? Sehr hübsch! Die Frau Hän­sel hat mir er­zählt, sie soll Ih­nen ganz scham­los im­mer gleich um den Hals fal­len. Da muss solch nächt­li­ches Trös­ten be­son­ders hübsch sein! Ich wer­de das ins Wacht­buch schrei­ben!«

Aber ehe der Pas­tor sich noch mit ei­nem Wort ge­gen die­se Schmut­ze­rei hat zur Wehr set­zen kön­nen, se­hen sie bei­de, dass Frau Tru­del, ver­wit­we­te Her­ge­sell, über das Ei­sen­git­ter des Gan­ges ge­klet­tert ist. Ei­nen Au­gen­blick steht sie da, hält sich noch mit ei­ner Hand am Ge­län­der fest, mit dem Rücken zu ih­nen.

Und sie ru­fen: »Halt! Nein! Bit­te nicht!«

Und sie stür­zen zu ihr hin, die Hän­de grei­fen schon nach ihr.

Aber wie eine Schwim­me­rin, die einen Kopf­sprung ma­chen will, hat sich Tru­del Her­ge­sell schon in die Tie­fe ge­stürzt. Sie hö­ren ein Flat­tern und Sau­sen, ein dump­fes Auf­schla­gen.

Und dann ist al­les to­ten­still, wäh­rend sie die blei­chen Ge­sich­ter über das Ge­län­der nei­gen und doch nichts se­hen.

Dann ma­chen sie einen Schritt zur Trep­pe hin.

Und in dem­sel­ben Au­gen­blick bricht die Höl­le los.

Es ist, als sei’s durch die ei­sen­be­schla­ge­nen Zel­len­tü­ren zu se­hen ge­we­sen, was ge­sche­hen ist. Erst ist es viel­leicht nur ein hys­te­ri­scher Schrei ge­we­sen, aber er lief wei­ter von Zel­le zu Zel­le und von Sta­ti­on zu Sta­ti­on, von der einen Gang­sei­te zur an­de­ren, über den Ab­grund fort.

Und wäh­rend er wei­ter­lief, wur­de aus dem einen Schrei ein Brül­len, Heu­len, Ze­tern, Kei­fen, To­ben.

»Ihr Mör­der! Ihr habt sie um­ge­bracht! Bringt uns doch gleich alle um, ihr Hen­ker!«

Und es gab wel­che, die hin­gen sich an die Fens­ter und schri­en es auf die Höfe, so­dass auch die Män­ner­flü­gel aus ih­rem angst­dün­nen Schlaf er­wach­ten, und es tob­te, es schrie, es gei­fer­te, es plärr­te, es grunz­te, es ver­zwei­fel­te.

Es klag­te an, es klag­te an mit tau­send, mit zwei­tau­send, mit drei­tau­send Stim­men, schrie das Tier sei­ne An­kla­ge aus tau­send, zwei­tau­send, drei­tau­send Mäu­lern.

Und die Alarm­glo­cke schrill­te, und sie trom­mel­ten mit den Fäus­ten ge­gen die Ei­sen­tü­ren, mit den Sche­meln rann­ten sie da­ge­gen an. Die Ei­sen­bet­ten fie­len, knal­lend in ih­ren Schar­nie­ren, und wur­den wie­der hoch­ge­ris­sen und knall­ten neu. Schep­pernd fuh­ren die Ess­schüs­seln auf dem Bo­den her­um, die Kü­bel­de­ckel lärm­ten, und das gan­ze Haus, die­ses Rie­sen­ge­fäng­nis, stank plötz­lich wie eine ver­hun­dert­fach­te La­tri­ne.

Und die Be­reit­schaf­ten fuh­ren in ihre Klei­der und grif­fen nach ih­ren Gum­mi­knüt­teln.

Und Zel­len­tü­ren wur­den auf­ge­schlos­sen: Knack­knack!

Und der klat­schend dump­fe Laut von Gum­mi­knüt­teln auf die Schä­del her­nie­der wur­de laut und das Ge­brüll wü­ten­der, ver­mischt mit dem Ge­scharr kämp­fen­der Füße, und die ho­hen, tier­haf­ten Schreie der Epi­lep­ti­ker und das Juhu-Ge­jo­del idio­ti­scher Spaß­ma­cher und die gel­len­den Lu­den­pfif­fe …