Hans Fallada – Gesammelte Werke

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57. Otto Quangels anderer Zellengefährte

Als Otto Quan­gel von ei­nem Auf­se­her in sei­ne neue Zel­le im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis ge­führt wur­de, stand ein großer Mann vom Tisch auf, an dem er le­send ge­ses­sen, und stell­te sich un­ter das Zel­len­fens­ter, in der vor­schrifts­mä­ßi­gen Hal­tung, mit den Hän­den an der Ho­sen­naht. Aber die Art, wie er die­se »Ehren­be­zei­gung« aus­führ­te, ver­riet, dass er sie nicht für sehr not­wen­dig hielt.

Der Auf­se­her wink­te auch gleich ab. »Is ja jut, Herr Dok­tor«, sag­te er. »Da ha­ben Sie einen neu­en Zel­len­ge­fähr­ten!«

»Schön!«, sag­te der Mann, der aber für Otto Quan­gel mit sei­nem dunklen An­zug, sei­nem Sport­hemd und Schlips mehr wie ein »Herr« als wie ein Zel­len­ka­me­rad aus­sah. »Schön! Mein Name ist Reich­hardt, Mu­si­ker. Kom­mu­nis­ti­scher Um­trie­be be­schul­digt. Und Sie?«

Quan­gel fühl­te eine küh­le, fes­te Hand in der sei­nen. »Quan­gel«, sag­te er zö­gernd. »Ich bin Tisch­ler. Ich soll Hoch- und Lan­des­ver­rat be­gan­gen ha­ben.«

»Ach, Sie!«, rief der Dr. Reich­hardt, der Mu­si­ker, dem Auf­se­her nach, der eben die Tür schlie­ßen woll­te. »Von heut an wie­der zwei Por­tio­nen, ja?«

»Is ja jut, Herr Dok­tor!«, sag­te der Auf­se­her. »Weeß ich ja von al­lee­ne!«

Und die Tür schloss sich.

Die bei­den sa­hen sich einen Au­gen­blick prü­fend an. Quan­gel war miss­trau­isch, fast sehn­te er sich nach sei­nem Karl­chen Hund im Ge­sta­po­kel­ler zu­rück. Mit die­sem fei­nen Herrn, ei­nem rich­ti­gen Dok­tor, soll­te er nun zu­sam­men­le­ben – es war ihm un­be­hag­lich.

Der »Herr« lä­chel­te mit den Au­gen. Dann sag­te er: »Tun Sie nur so, als wenn Sie al­lei­ne wä­ren, wenn Ih­nen das lie­ber ist. Ich wer­de Sie nicht stö­ren. Ich lese viel, ich spie­le mit mir selbst Schach. Ich trei­be Gym­nas­tik, um den Kör­per frisch zu er­hal­ten. Manch­mal sin­ge ich ein we­nig vor mich hin, aber nur ganz lei­se; es ist na­tür­lich ver­bo­ten. Wür­de Sie das stö­ren?«

»Nein, das stört mich nicht«, ant­wor­te­te Quan­gel. Und fast wi­der sei­nen Wil­len setz­te er hin­zu: »Ich kom­me aus dem Bun­ker von der Ge­sta­po und habe da an die drei Wo­chen mit ei­nem Ver­rück­ten zu­sam­men­ge­sperrt ge­lebt, der ewig nackt war und Hund spiel­te. Mich stört so leicht nichts mehr.«

»Gut!«, sag­te der Dr. Reich­hardt. »Noch schö­ner wär’s frei­lich ge­we­sen, wenn Sie Mu­sik ein we­nig ge­freut hät­te. Es ist die ein­zi­ge Art, sich hier in die­sen Mau­ern Har­mo­nie zu ver­schaf­fen.«

»Da­von ver­steh ich nichts«, ant­wor­te­te Otto Quan­gel ab­wei­send. Und er setz­te hin­zu: »Es ist ein mäch­tig fei­nes Haus ge­gen das, wo ich ge­we­sen bin, was?«

Der Herr hat­te sich wie­der an den Tisch ge­setzt und sein Buch in die Hand ge­nom­men. Er ant­wor­te­te freund­lich: »Ich war da un­ten auch eine Wei­le, wo Sie ge­we­sen sind. Ja, et­was bes­ser ist es schon hier. We­nigs­tens wird man nicht ge­schla­gen. Die Auf­se­her sind meist stumpf, aber nicht völ­lig ver­roht. Doch Ge­fäng­nis bleibt Ge­fäng­nis, das wis­sen Sie ja. Ein paar Er­leich­te­run­gen. Ich darf zum Bei­spiel le­sen, rau­chen, mir mein ei­ge­nes Es­sen kom­men las­sen, ei­ge­ne Klei­dung und Bett­wä­sche hal­ten. Aber ich bin ein Son­der­fall, und auch eine er­leich­ter­te Haft bleibt Haft. Man muss erst so weit kom­men, dass man die Git­ter nicht mehr fühlt.«

»Und sind Sie so­weit?«

»Vi­el­leicht. Meis­tens. Nicht im­mer. Durchaus nicht im­mer. Wenn ich zum Bei­spiel an mei­ne Fa­mi­lie den­ke, dann nicht.«

»Ich hab nur ’ne Frau«, sag­te Quan­gel. »Hat die­ses Ge­fäng­nis auch eine Frau­en­sei­te?«

»Ja, die gibt es hier, wir se­hen aber nie et­was von den Frau­en.«

»Na­tür­lich nicht.« Otto Quan­gel seufz­te schwer. »Mei­ne Frau ha­ben sie auch ein­ge­steckt. Hof­fent­lich ha­ben sie die heu­te auch hier­her ge­bracht.« Und er setz­te hin­zu: »Sie ist zu weich für das, was sie im Bun­ker aus­hal­ten muss­te.«

»Hof­fent­lich ist sie auch hier«, sag­te der Herr freund­lich. »Wir wer­den es durch den Pas­tor er­fah­ren. Vi­el­leicht kommt er noch heu­te Nach­mit­tag. Üb­ri­gens dür­fen Sie sich auch einen Ver­tei­di­ger neh­men, jetzt, da Sie hier sind.«

Er nick­te Quan­gel freund­lich zu, sag­te noch: »In ei­ner Stun­de gibt es Mit­tag«, setz­te die Le­se­bril­le auf und fing an zu le­sen.

Quan­gel sah einen Au­gen­blick zu ihm hin, aber der Herr woll­te nicht wei­ter­spre­chen, son­dern las wirk­lich.

Ko­misch, die­se fei­nen Leu­te!, dach­te er. Ich hätt noch ’ne Mas­se zu fra­gen ge­habt. Aber wenn er nicht will, auch gut. Ich will nicht sein Hund wer­den, der ihm kei­ne Ruhe lässt.

Und ein we­nig ge­kränkt mach­te er sich an das Be­zie­hen sei­nes Bet­tes.

Die Zel­le war sehr sau­ber und hell. Sie war auch nicht gar zu klein, man konn­te drei und einen hal­b­en Schritt hin- und wie­der drei und einen hal­b­en Schritt zu­rück­ge­hen. Das Fens­ter stand halb of­fen, die Luft war gut. Es roch hier an­ge­nehm; wie Quan­gel spä­ter fest­stel­len konn­te, kam die­ser gute Ge­ruch von der Sei­fe und der Wä­sche des Herrn Reich­hardt her. Nach der sti­ckig-stin­ken­den At­mo­sphä­re des Ge­sta­po­bun­kers fühl­te sich Quan­gel an einen hel­len, fröh­li­chen Ort ver­setzt.

Nach­dem er sein Bett be­zo­gen hat­te, setz­te er sich dar­auf und sah zu sei­nem Zel­len­ge­nos­sen hin. Der Herr las. In ziem­lich ra­scher Fol­ge wen­de­te er Blatt um Blatt um. Quan­gel, der sich nicht er­in­nern konn­te, seit sei­ner Schul­zeit ein Buch ge­le­sen zu ha­ben, dach­te ver­wun­dert: Was der nur zu le­sen hat? Ob der nichts nach­zu­den­ken hat, hier, an die­sem Ort? Ich könn­te nicht so ru­hig sit­zen und le­sen! Ich muss im­mer­zu an Anna den­ken, und wie al­les ge­kom­men ist und wie es wei­ter­geht und ob ich mich auch wei­ter an­stän­dig hal­te. Er sagt, ich kann mir ’nen Rechts­an­walt neh­men. Aber ein Rechts­an­walt kos­tet einen Hau­fen Geld, und was soll er mir nüt­zen, wo ich schon so zum Tode ver­ur­teilt bin? Ich habe doch al­les zu­ge­ge­ben! So ein fei­ner Herr – bei dem ist al­les an­ders. Ich hab’s ja gleich ge­se­hen, wie ich rein­kam, der Auf­se­her hat ihn rich­tig mit Herr und Dok­tor an­ge­re­det. Der wird nicht viel aus­ge­fres­sen ha­ben – der hat gut le­sen. Im­mer­zu le­sen …

Der Dok­tor Reich­hardt un­ter­brach nur zwei­mal sein vor­mit­täg­li­ches Le­sen. Das eine Mal sag­te er, ohne auf­zu­se­hen: »Zi­ga­ret­ten und Streich­höl­zer lie­gen im Schränk­chen – wenn Sie rau­chen mö­gen?«

Aber als Quan­gel ant­wor­te­te: »Ich rau­che doch nicht! Da­für ist mir mein Geld zu scha­de!«, las er schon wie­der.

Das an­de­re Mal war Quan­gel auf den Sche­mel ge­stie­gen und be­müh­te sich, auf den Hof hin­aus­zu­schau­en, von dem das gleich­mä­ßi­ge Schar­ren vie­ler Füße er­tön­te.

»Jetzt lie­ber nicht, Herr Quan­gel!«, sag­te der Dr. Reich­hardt. »Jetzt ist Frei­stun­de. Man­che Be­am­te mer­ken sich ge­nau die Fens­ter, wo ei­ner raus­schaut. Dann fliegt der in die Dun­kel­zel­le bei Was­ser und Brot. Abends kön­nen Sie meist aus dem Fens­ter se­hen.«

Dann kam das Mit­ta­ges­sen. Quan­gel, der den lie­der­lich zu­sam­men­ge­koch­ten Fraß des Ge­sta­po­bun­kers ge­wohnt war, sah mit Stau­nen, dass es hier zwei große Näp­fe mit Sup­pe gab und zwei Tel­ler mit Fleisch, Kar­tof­feln und grü­nen Boh­nen. Aber mit noch grö­ße­rem Er­stau­nen sah er, wie sein Zel­len­ge­nos­se sich in das Wasch­be­cken ein we­nig Was­ser tat, sich sorg­fäl­tig die Hän­de wusch und sie dann ab­trock­ne­te. Dr. Reich­hardt füll­te neu­es Was­ser ins Be­cken und sag­te sehr höf­lich: »Bit­te sehr, Herr Quan­gel!«, und Quan­gel wusch sich ge­hor­sam auch die Hän­de, ob­wohl er doch nichts Schmut­zi­ges an­ge­fasst hat­te.

Dann aßen sie fast schwei­gend das für Quan­gel un­ge­wohnt gute Mit­ta­ges­sen.

Es dau­er­te drei Tage, bis der Werk­meis­ter be­griff, dass die­ses Es­sen nicht die üb­li­che vom Volks­ge­richt den Un­ter­su­chungs­häft­lin­gen ge­spen­de­te Kost war, son­dern Herrn Dr. Reich­hardts pri­va­tes Es­sen, an dem er sei­nen Zel­len­ge­nos­sen ohne al­les Auf­he­ben teil­neh­men ließ. Wie er auch be­reit war, Quan­gel von al­lem ab­zu­ge­ben, von sei­nen Rauch­wa­ren, der Sei­fe, sei­nen Bü­chern; der an­de­re muss­te nur wol­len.

Und es dau­er­te noch ei­ni­ge Tage län­ger, bis Otto Quan­gel sein plötz­lich an­ge­sichts all sol­cher Freund­lich­kei­ten ge­gen Dr. Reich­hardt auf­ge­kom­me­nes Miss­trau­en über­wand. Wer sol­che un­ge­heu­er­li­chen Ver­güns­ti­gun­gen ge­noss, muss­te ein Spit­zel des Volks­ge­richts sein, die­ser Ge­dan­ke hat­te sich in Otto Quan­gel fest­ge­setzt. Wer sol­che Ge­fäl­lig­kei­ten er­wies, der muss­te vom an­de­ren was wol­len. Nimm dich in acht, Quan­gel!

Aber was konn­te der Mann von ihm wol­len? In Quan­gels Fall lag al­les klar, auch vor dem Un­ter­su­chungs­rich­ter des Volks­ge­richts hat­te er nüch­tern und ohne viel Wor­te die Aus­sa­gen wie­der­holt, die er schon vor den Kom­missa­ren Esche­rich und Laub ge­macht hat­te. Er hat­te al­les er­zählt, wie es wirk­lich ge­we­sen war, und wenn die Ak­ten noch im­mer nicht zur An­kla­ge­er­he­bung und Fest­set­zung des Ver­hand­lungs­ter­mins wei­ter­ge­ge­ben wa­ren, so lag das nur dar­an, dass Frau Anna mit ei­ner Hart­nä­ckig­keit son­der­glei­chen dar­auf be­stand, sie habe ei­gent­lich al­les ge­tan und ihr Mann sei nur ein Werk­zeug in ih­rer Hand ge­we­sen. Aber das al­les gab kei­ner­lei Grund ab, kost­ba­re Zi­ga­ret­ten und sät­ti­gen­des, sau­be­res Es­sen an Quan­gel zu ver­schen­ken. Der Fall lag klar, es gab an ihm nichts zu be­spit­zeln.

Rich­tig über­wand Quan­gel sein Miss­trau­en ge­gen Dr. Reich­hardt erst in ei­ner Nacht, da sein Zel­len­ka­me­rad, der über­le­ge­ne, fei­ne Herr, ihm flüs­ternd ge­stand, dass auch er noch oft eine grau­en­haf­te Angst vor dem Tode habe, sei es nun Fall­beil oder Strick; der Ge­dan­ke dar­an be­schäf­ti­ge ihn oft stun­den­lang. Dr. Reich­hardt ge­stand nun auch ein, dass er oft nur me­cha­nisch die Sei­ten sei­nes Bu­ches um­wen­de­te: vor den Au­gen stand ihm nicht die schwar­ze Druck­schrift, son­dern ein grau ze­men­tier­ter Ge­fäng­nis­hof, ein Gal­gen mit ei­nem sach­te im Win­de bau­meln­den Strick, der aus ei­nem ge­sun­den, kräf­ti­gen Man­ne in drei bis fünf Mi­nu­ten ein wi­der­li­ches, ver­reck­tes Stück Ka­da­ver mach­te.

 

Aber noch grau­en­haf­ter als die­ses Ende, dem Dr. Reich­hardt (sei­ner fes­ten An­nah­me nach) mit je­dem Tag sei­nes Le­bens un­auf­halt­sam nä­her­ge­bracht wur­de, noch grau­en­haf­ter war ihm der Ge­dan­ke an sei­ne Fa­mi­lie. Quan­gel er­fuhr, dass Reich­hardt von sei­ner Frau drei Kin­der hat­te, zwei Jun­gen, ein Mä­del, das äl­tes­te elf, das jüngs­te erst vier Jah­re alt. Und Reich­hardt hat­te oft Angst, grau­en­haf­te, pa­ni­sche Angst, dass die Ver­fol­ger sich nicht mit der Er­mor­dung des Va­ters be­gnü­gen, son­dern dass sie ihre Ra­che auch auf die un­schul­di­ge Frau und die Kin­der aus­deh­nen, sie in ein KZ ver­schlep­pen und lang­sam zu Tode mar­tern wür­den.

An­ge­sichts die­ser Sor­gen wur­de nicht nur Quan­gels Miss­trau­en weg­ge­fegt, son­dern er kam sich auch wie ein ver­gleichs­wei­se be­güns­tig­ter Mann vor. Er hat­te nur um Anna zu sor­gen, und wenn ihre Aus­sa­gen auch wi­der­sin­nig und tö­richt wa­ren, so sah er doch aus ih­nen, dass Anna Mut und Kraft zu­rück­ge­won­nen hat­te. Ei­nes Ta­ges wür­den sie bei­de ge­mein­sam ster­ben müs­sen, aber das Ster­ben wur­de leich­ter ge­macht da­durch, dass es ge­mein­schaft­lich ge­sch­ah, dass sie nie­man­den auf der Erde zu­rück­lie­ßen, um den sie sich in ih­rer To­des­stun­de noch ängs­ti­gen muss­ten. Die Qua­len, die Dr. Reich­hardt um sei­ne Frau und sei­ne drei Kin­der lei­den muss­te, wa­ren un­ver­gleich­lich grö­ßer. Sie wür­den ihn bis in die letz­te Se­kun­de sei­nes Ster­bens be­glei­ten, das be­griff der alte Werk­meis­ter wohl.

Was Dr. Reich­hardt ei­gent­lich ver­bro­chen ha­ben soll­te, dass ihm der Tod so ge­wiss schi­en, er­fuhr Quan­gel nie ganz ge­nau. Es schi­en ihm, als habe sein Zel­len­ge­fähr­te sich nicht so sehr ak­tiv ge­gen die Hit­ler­dik­ta­tur ver­gan­gen, sich nicht ver­schwo­ren, kei­ne Pla­ka­te ge­klebt, kei­ne At­ten­ta­te vor­be­rei­tet, als viel­mehr nur so ge­lebt, wie es sei­ner Über­zeu­gung ent­sprach. Er hat­te sich al­len na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Lo­ckun­gen ent­zo­gen, er hat­te nie mit Wort oder Tat oder Geld zu ih­ren Samm­lun­gen et­was bei­ge­steu­ert, aber er hat­te oft sei­ne war­nen­de Stim­me er­ho­ben. Er hat­te klar ge­sagt, für wie un­heil­voll er den Weg hielt, den das deut­sche Volk un­ter die­ser Füh­rung ging, kurz, er hat­te all das, was Quan­gel in we­ni­gen Sät­zen un­be­hol­fen auf Post­kar­ten ge­schrie­ben hat­te, zu je­dem ge­äu­ßert, im In­lan­de wie im Aus­lan­de. Denn bis in die letz­ten Kriegs­jah­re hin­ein hat­ten den Dr. Reich­hardt sei­ne Kon­zer­te noch ins Aus­land ge­führt.

Es brauch­te sehr viel Zeit, bis der Tisch­ler Quan­gel sich ein ei­ni­ger­ma­ßen kla­res Bild von der Art der Ar­beit mach­te, die Dr. Reich­hardt drau­ßen in der Welt ge­leis­tet hat­te – und ganz klar wur­de die­ses Bild nie, und ganz als Ar­beit sah er in sei­nem tiefs­ten In­nern die Tä­tig­keit Reich­hardts nie an.

Als er zu­erst ge­hört hat­te, dass Reich­hardt Mu­si­ker war, hat­te er an die Mu­si­kan­ten ge­dacht, die in den klei­nen Kaf­fee­häu­sern zum Tanz auf­spie­len, und er hat­te mit­lei­dig und ver­ächt­lich über sol­che Ar­beit für einen star­ken Mann mit ge­sun­den Glie­dern ge­lä­chelt. Das war ge­nau wie das Le­sen et­was Über­flüs­si­ges, auf das nur fei­ne Leu­te ge­rie­ten, die kei­ne ver­nünf­ti­ge Ar­beit hat­ten.

Reich­hardt muss­te es dem al­ten Mann weit­läu­fig und im­mer wie­der er­klä­ren, was ein Or­che­s­ter war und was ein Di­ri­gent tat. Quan­gel woll­te das im­mer wie­der hö­ren.

»Und dann ste­hen Sie also mit ei­nem Stöck­chen vor Ihren Leu­ten und ma­chen nicht mal selbst Mu­sik …?«

Ja, so sei es wohl.

»Und nur da­für, dass Sie an­zei­gen, wann je­der loss­pie­len muss und wie laut – nur da­für be­kom­men Sie so viel Geld?«

Ja, Herr Dr. Reich­hardt fürch­te­te, so sei es wohl, nur da­für be­kam er so viel Geld.

»Aber Sie kön­nen doch selbst Mu­sik ma­chen, auf der Gei­ge oder auf dem Kla­vier?«

»Ja, das kann ich. Aber ich tue es nicht, we­nigs­tens nie vor dem Pub­li­kum. Se­hen Sie mal, Quan­gel, das ist doch ähn­lich wie bei Ih­nen: auch Sie kön­nen ho­beln und sä­gen und Nä­gel ein­klop­fen. Aber Sie ha­ben es nicht ge­tan, Sie ha­ben nur die an­de­ren be­auf­sich­tigt.«

»Ja, da­mit sie mög­lichst viel schaf­fen. Ha­ben denn Ihre Leu­te da­durch, dass Sie da­stan­den, nun schnel­ler und mehr ge­spielt?«

»Nein, das ha­ben sie frei­lich nicht ge­tan.«

Schwei­gen.

Dann sag­te Quan­gel plötz­lich: »Und bloß Mu­sik … Se­hen Sie, wenn wir in un­sern gu­ten Zei­ten ge­ar­bei­tet ha­ben, nicht bloß Sär­ge, son­dern Mö­bel, An­rich­ten und Bü­cher­schrän­ke und Ti­sche, da ha­ben wir was ge­ar­bei­tet, was sich se­hen las­sen konn­te! Bes­te Tisch­ler­ar­beit, ver­zapft und ge­leimt, was noch in hun­dert Jah­ren hält. Aber bloß Mu­sik – wenn Sie auf­hö­ren, ist nichts von Ih­rer Ar­beit ge­blie­ben.«

»Doch, Quan­gel, die Freu­de in den Men­schen, die gute Mu­sik hö­ren, die bleibt.«

Nein, in die­sem Punk­te ka­men sie nie zu ei­nem vol­len Ein­ver­ständ­nis; eine lei­se Ver­ach­tung für die Tä­tig­keit des Di­ri­gen­ten Reich­hardt blieb in Quan­gel zu­rück.

Aber er sah, dass der an­de­re ein Mann war, ein auf­rech­ter, wahr­haf­ti­ger Mann, der un­ter Be­dro­hun­gen und Schreck­nis­sen sein Le­ben un­be­irrt wei­ter­ge­lebt hat­te, stets freund­lich, stets hilfs­be­reit. Stau­nend be­griff Otto Quan­gel, dass die Freund­lich­kei­ten, die ihm Reich­hardt er­wies, nicht spe­zi­ell ihm gal­ten, son­dern dass er sie je­dem Zel­len­ge­nos­sen er­wie­sen hät­te, zum Bei­spiel auch dem »Hund«. Ei­ni­ge Tage hat­ten sie einen klei­nen Dieb in der Zel­le, ein ver­dor­be­nes, ver­lo­ge­nes Ge­schöpf, und die­ser Ben­gel nütz­te die Freund­lich­kei­ten des Dok­tors hohn­la­chend aus; er rauch­te ihm all sei­ne Zi­ga­ret­ten fort, er ver­han­del­te sei­ne Sei­fe an den Kal­fak­tor, er stahl das Brot. Quan­gel hät­te die­se Krea­tur am liebs­ten ver­prü­gelt, oh, der alte Werk­meis­ter hät­te den Ben­gel schon zu­recht­ge­stutzt. Aber der Dok­tor woll­te das nicht ha­ben, er nahm den Dieb, der sei­ne Güte als Schwä­che ver­spot­te­te, in Schutz.

Als der Kerl schließ­lich aus ih­rer Zel­le ge­holt wor­den war, als sich her­aus­ge­stellt hat­te, dass er in un­be­greif­li­cher Bos­heit ein Bild, das ein­zi­ge Bild, das Dr. Reich­hardt von Frau und Kin­dern be­saß, zer­ris­sen hat­te, als der Dok­tor trau­ernd vor den Fet­zen die­ses Bil­des saß, die sich doch nicht wie­der zu­sam­men­fü­gen las­sen woll­ten, und als Quan­gel da zor­nig sag­te: »Wis­sen Sie, Herr Dok­tor, ich glau­be manch­mal, Sie sind wirk­lich schlapp. Wenn Sie mir gleich er­laubt hät­ten, den Schuft or­dent­lich zu­sam­men­zu­stau­chen, da hät­te so was nicht pas­sie­ren kön­nen« – da ant­wor­te­te der Di­ri­gent mit ei­nem trau­ri­gen Lä­cheln: »Wol­len wir denn wer­den wie die an­de­ren, Quan­gel? Die glau­ben doch, dass sie uns mit Schlä­gen zu ih­ren An­sich­ten be­keh­ren kön­nen! Aber wir glau­ben nicht an die Herr­schaft der Ge­walt. Wir glau­ben an Güte, Lie­be, Ge­rech­tig­keit.«

»Güte und Lie­be für solch einen bos­haf­ten Af­fen!«

»Wis­sen Sie denn, wie er so bos­haft wur­de? Wis­sen Sie, ob er sich jetzt nicht ge­gen Güte und Lie­be nur wehrt, weil er Angst da­vor hat, wenn er nicht mehr schlecht ist, an­ders le­ben zu müs­sen? Hät­ten wir den Jun­gen nur noch vier Wo­chen in un­se­rer Zel­le ge­habt, Sie hät­ten die Wir­kung schon ge­spürt.«

»Man muss auch hart sein kön­nen, Dok­tor!«

»Nein, das muss man nicht. Solch ein Satz gibt die Ent­schul­di­gung für jede Lieb­lo­sig­keit ab, Quan­gel!«

Quan­gel be­weg­te un­mu­tig den Kopf mit dem schar­fen, har­ten Vo­gel­ge­sicht hin und her. Aber er wi­der­sprach nicht wei­ter.

58. Das Leben in der Zelle

Sie ge­wöhn­ten sich an­ein­an­der, sie wur­den Freun­de, so­weit ein har­ter, tro­ckener Mensch wie Otto Quan­gel der Freund ei­nes auf­ge­schlos­se­nen, gü­ti­gen Men­schen wer­den konn­te. Ihr Tag war – durch Reich­hardt – fest ein­ge­teilt. Der Dok­tor stand sehr früh auf, er wusch sich kalt am gan­zen Lei­be, mach­te eine hal­be Stun­de Gym­nas­ti­k­übun­gen und rei­nig­te dann selbst die Zel­le. Spä­ter, nach dem Früh­stück, las Reich­hardt zwei Stun­den und ging dann eine Stun­de lang in der Zel­le auf und ab, wo­bei er nie ver­gaß, die Schu­he aus­zu­zie­hen, um sei­ne Nach­barn in der Zel­le dar­über und dar­un­ter nicht durch sein stän­di­ges Au­fund­ab­ge­hen ner­vös zu ma­chen.

Bei die­sem Mor­gen­spa­zier­gang, der von zehn bis elf Uhr dau­er­te, sang Dr. Reich­hardt vor sich hin. Meist summ­te er nur ganz lei­se, denn vie­len Auf­se­hern war kaum et­was Gu­tes zu­zu­trau­en, und Quan­gel hat­te sich dar­an ge­wöhnt, die­sem Sum­men zu lau­schen. So we­nig er auch von der Mu­sik hal­ten moch­te, er merk­te doch, dass die­ses Sum­men ihn be­ein­fluss­te. Manch­mal mach­te es ihn mu­tig und stark ge­nug, je­des Schick­sal zu er­tra­gen, dann sag­te Reich­hardt wohl: »Beetho­ven«. Und manch­mal mach­te es ihn auf eine un­be­greif­li­che Art leicht und fröh­lich, wie er es nie in sei­nem Le­ben ge­we­sen war, dann sag­te Reich­hardt: »Mo­zart«, und Quan­gel wuss­te nichts mehr von sei­nen Sor­gen. Und wie­der­um kam es dun­kel und schwer von des Dok­tors Mun­de, dann war es manch­mal wie ein Schmerz in Quan­gels Brust und wie­der, als säße er als Jun­ge mit sei­ner Mut­ter in der Kir­che: das gan­ze Le­ben lag noch vor ihm, und das war et­was Gro­ßes. Reich­hardt aber sag­te: »Jo­hann Se­bas­ti­an Bach«.

Ja, Quan­gel, der im­mer wei­ter we­nig von der Mu­sik hielt, konn­te sich doch nicht ganz ih­rem Ein­fluss ent­zie­hen, so pri­mi­tiv das Sin­gen und Sum­men des Dok­tors auch war. Er ge­wöhn­te sich dar­an, auf ei­nem Sche­mel sit­zend, ihm zu lau­schen, wie er dort auf und ab ging, meist ge­schlos­se­nen Au­ges, denn die Füße kann­ten den schma­len, kur­z­en Zel­len­weg. Quan­gel sah dem Mann ins Ge­sicht, die­sem fei­nen Herrn, mit dem er drau­ßen in der Welt nicht ein Wort zu re­den ge­wusst hät­te, und manch­mal ka­men ihm Zwei­fel, ob er denn sein ei­ge­nes Le­ben wohl auf die rich­ti­ge Art ge­führt hät­te, ge­trennt von al­len an­de­ren, ein Le­ben selbst­ge­woll­ter Ve­rein­ze­lung.

Der Dr. Reich­hardt sag­te auch manch­mal: »Wir le­ben nicht für uns, son­dern für die an­de­ren. Was wir aus uns ma­chen, ma­chen wir nicht für uns aus uns, son­dern nur für die an­de­ren …«

Ja, es war kein Zwei­fel: über die fünf­zig hin­aus, ge­wiss ei­nes na­hen To­des, wan­del­te sich Quan­gel noch. Er sah es nicht ger­ne, er wehr­te sich da­ge­gen, und doch merk­te er im­mer stär­ker, dass er sich wan­del­te, nicht nur durch die Mu­sik, son­dern vor al­lem durch das Bei­spiel des sum­men­den Man­nes. Er, der sei­ner Anna so oft den Mund ver­bo­ten hat­te, der Stil­le um sich für den er­stre­bens­wer­tes­ten Zu­stand hielt, er er­tapp­te sich da­bei, dass er sich da­nach sehn­te, der Dr. Reich­hardt möge doch end­lich ein­mal das Buch aus der Hand le­gen und wie­der ein Wort zu ihm spre­chen.

Meist ge­sch­ah es dann nach sei­nem Seh­nen. Plötz­lich sah der Dok­tor vom Le­sen hoch und frag­te lä­chelnd: »Nun, Quan­gel?«

»Nichts, Herr Dok­tor.«

»Sie soll­ten nicht so viel sit­zen und grü­beln. Wol­len Sie es nicht doch ein­mal mit dem Le­sen ver­su­chen?«

»Nein, da­für ist es zu spät für mich.«

»Vi­el­leicht ha­ben Sie recht. Was ha­ben Sie sonst ge­trie­ben nach Ih­rer Ar­beit? Sie kön­nen nicht die gan­ze Zeit, wenn Sie nicht in der Werk­statt wa­ren, ta­ten­los zu Haus ge­ses­sen ha­ben, ein Mann wie Sie!«

»Da habe ich mei­ne Kar­ten ge­schrie­ben.«

»Und frü­her, als noch kein Krieg war?«

Quan­gel muss­te erst rich­tig über­le­gen, was er frü­her ge­tan hat­te. »Ja, ganz frü­her habe ich ger­ne ge­schnitzt.«

Und der Dok­tor sag­te nach­denk­lich: »Tja, das wer­den sie uns frei­lich nicht er­lau­ben: Mes­ser. Wir dür­fen den Hen­ker doch nicht um sei­ne Ge­büh­ren brin­gen, Quan­gel!«

 

Und Quan­gel, zö­gernd: »Wie ist das, Dok­tor, Sie spie­len Schach im­mer mit sich al­lein? Man kann das doch auch zu meh­re­ren spie­len?«

»Ja, zu zwei­en. Hät­ten Sie Lust, es zu ler­nen?«

»Ich glau­be, ich bin zu dumm da­für.«

»Un­sinn! Wir wol­len es gleich ein­mal ver­su­chen.«

Und der Dr. Reich­hardt klapp­te sein Buch zu.

So lern­te Quan­gel noch das Schach­spiel. Er lern­te es zu sei­ner Über­ra­schung sehr schnell und ohne alle Schwie­rig­kei­ten. Und er er­fuhr wie­der ein­mal, dass et­was, was er frü­her ge­dacht hat­te, grund­falsch war. Er hat­te es ein biss­chen al­bern und kin­disch ge­fun­den, wenn er in ei­nem Kaf­fee­hau­se ge­se­hen hat­te, wie zwei Män­ner Holz­stück­chen zwi­schen sich hin und her scho­ben, er hat­te es Zeit tot­schla­gen ge­nannt, et­was für Kin­der.

Nun er­fuhr er, dass dies Hin- und Her­schie­ben von Hölz­chen auch et­was wie Glück ge­ben konn­te, eine Klar­heit im Kopf, die tie­fe, ehr­li­che Freu­de über einen schö­nen Zug, die Ent­de­ckung, dass es sehr we­nig dar­auf an­kam, ob man ge­wann oder ver­lor, dass viel­mehr die Freu­de an ei­ner schön ge­spiel­ten ver­lo­re­nen Par­tie weit grö­ßer war als die über ein Spiel, das er durch einen Feh­ler des Dok­tors ge­won­nen hat­te.

Wenn jetzt der Dr. Reich­hardt las, saß Quan­gel ihm ge­gen­über, das Schach­brett mit den schwar­zen und wei­ßen Fi­gu­ren vor sich, da­ne­ben den Re­clam-Band: Duf­res­ne, Lehr­buch des Schach­spiels, und er übte sich in Er­öff­nun­gen und End­spie­len. Spä­ter ging er zum Nach­spie­len gan­zer Meis­ter­par­ti­en über, sein kla­rer, nüch­ter­ner Kopf be­hielt mü­he­los zwan­zig, drei­ßig Züge, und schnell kam der Tag, da er der über­le­ge­ne Spie­ler war.

»Schach und matt, Herr Dok­tor!«

»Da ha­ben Sie mich also wie­der dran­ge­kriegt, Quan­gel!«, sag­te der Dok­tor und neig­te sei­nen Kö­nig grü­ßend vor dem Geg­ner. »Sie ha­ben das Zeug zu ei­nem sehr gu­ten Spie­ler in sich.«

»Ich den­ke jetzt manch­mal, Herr Dok­tor, zu was al­lem ich wohl das Zeug in mir habe, von dem ich frü­her nichts wuss­te. Erst seit ich Sie ken­ne, erst seit­dem ich zum Ster­ben in die­sen Ze­ment­kas­ten ge­kom­men bin, er­fah­re ich, wie viel ich in mei­nem Le­ben doch ver­passt habe.«

»Das wird je­dem so ge­hen. Je­der, der ster­ben muss, und vor al­lem je­der, der wie wir vor sei­ner Zeit ster­ben muss, wird sich über jede ver­trö­del­te Stun­de sei­nes Le­bens grä­men.«

»Aber bei mir ist es doch noch ganz an­ders, Herr Dok­tor. Ich hab im­mer ge­dacht, es ist ge­nug, wenn ich mein Hand­werk or­dent­lich tue und nichts ver­lum­pe. Und nun er­fah­re ich, ich hät­te noch ’ne gan­ze Men­ge an­de­re Din­ge tun kön­nen: Schach spie­len, nett zu den Men­schen sein, Mu­sik hö­ren, ins Thea­ter ge­hen. Wirk­lich, Herr Dok­tor, wenn ich vor mei­nem Ster­ben noch einen Wunsch äu­ßern dürf­te, ich möch­te Sie mal mit Ihrem Stöck­chen in so ei­nem großen Sym­pho­nie­kon­zert se­hen, wie Sie’s nen­nen. Ich bin neu­gie­rig, wie das aus­sieht und wie es auf mich wir­ken wür­de.«

»Kei­ner kann nach al­len Rich­tun­gen le­ben, Quan­gel. Das Le­ben ist so reich. Sie wür­den sich zer­split­tert ha­ben. Sie ha­ben Ihre Ar­beit ge­tan und sich im­mer als gan­zer Mann ge­fühlt. Als Sie noch drau­ßen wa­ren, hat Ih­nen nichts ge­fehlt, Quan­gel. Sie ha­ben Ihre Post­kar­ten ge­schrie­ben …«

»Aber sie ha­ben doch nichts genützt, Herr Dok­tor! Ich habe ge­dacht, es haut mich hin, wie der Kom­missar Esche­rich mir be­weist, dass von 285 Kar­ten, die ich ge­schrie­ben, 267 in sei­ne Hän­de ge­ra­ten sind! Nur 18 nicht er­wi­scht! Und die­se 18 ha­ben auch nichts ge­wirkt!«

»Wer weiß? Und Sie ha­ben doch we­nigs­tens dem Schlech­ten wi­der­stan­den. Sie sind nicht mit schlecht ge­wor­den. Sie und ich und die vie­len hier in die­sem Hau­se und vie­le, vie­le in an­de­ren fes­ten Häu­sern und die Zehn­tau­sen­de in den KZs – sie wi­der­ste­hen alle noch, heu­te, mor­gen …«

»Ja, und dann wird uns das Le­ben ge­nom­men, und was hat dann un­ser Wi­der­stand genützt?«

»Uns – viel, weil wir uns bis zum Tode als an­stän­di­ge Men­schen füh­len kön­nen. Und mehr noch dem Vol­ke, das er­ret­tet wer­den wird um der Ge­rech­ten wil­len, wie es in der Bi­bel heißt. Se­hen Sie, Quan­gel, es wäre na­tür­lich hun­dert Mal bes­ser ge­we­sen, wir hät­ten einen Mann ge­habt, der uns ge­sagt hät­te: So und so müsst ihr han­deln, das und das ist un­ser Plan. Aber wenn ein sol­cher Mann in Deutsch­land ge­we­sen wäre, dann wäre es nie zu 1933 ge­kom­men. So ha­ben wir alle ein­zeln han­deln müs­sen, und ein­zeln sind wir ge­fan­gen, und je­der wird für sich al­lein ster­ben müs­sen. Aber dar­um sind wir doch nicht al­lein, Quan­gel, dar­um ster­ben wir doch nicht um­sonst. Um­sonst ge­schieht nichts in die­ser Welt, und da wir ge­gen die rohe Ge­walt für das Recht kämp­fen, wer­den wir am Schluss doch die Sie­ger sein.«

»Und was wer­den wir da­von ha­ben, da un­ten in un­sern Grä­bern?«

»Aber, Quan­gel! Möch­ten Sie denn lie­ber für eine un­ge­rech­te Sa­che le­ben als für eine ge­rech­te ster­ben? Es gibt doch gar kei­ne Wahl, we­der für Sie noch für mich. Weil wir sind, die wir sind, muss­ten wir die­sen Weg ge­hen.«

Lan­ge schwie­gen sie.

Dann fing Quan­gel wie­der an: »Die­ses Schach­spiel …«

»Ja, Quan­gel, was ist da­mit?«

»Ich den­ke manch­mal, ich tue un­recht da­mit. Vie­le Stun­den habe ich nur das Schach im Kopf, und ich habe doch noch eine Frau …«

»Sie den­ken ge­nug an Ihre Frau. Sie wol­len stark und mu­tig blei­ben; al­les, was Sie stark und mu­tig er­hält, ist gut, und was Sie schwach und zweif­le­risch macht wie Grü­beln, ist schlecht. Was nützt Ih­rer Frau das Grü­beln? Ihr nützt, wenn der Pas­tor Lo­renz ihr wie­der ein­mal sa­gen kann, dass Sie stark und mu­tig sind.«

»Aber er kann, seit sie die­se Zel­len­ge­nos­sin hat, nicht mehr of­fen mit ihr spre­chen. Der Pas­tor hält das Weib auch für eine Spio­nin.«

»Der Pas­tor wird es Ih­rer Frau schon be­greif­lich ma­chen, dass es Ih­nen gut geht und dass Sie sich stark füh­len. Da­für ge­nügt schließ­lich ein Kopf­ni­cken, ein Blick. Der Pas­tor Lo­renz kennt sich aus.«

»Ich möch­te ihm gern ein­mal einen Brief an Anna mit­ge­ben«, sag­te Quan­gel nach­denk­lich.

»Tun Sie das lie­ber nicht. Er wür­de es nicht ab­schla­gen, aber Sie wür­den sein Le­ben in Ge­fahr brin­gen. Sie wis­sen ja, ihm wird stän­dig miss­traut. Es wäre schlimm, wenn auch un­ser gu­ter Freund in eine sol­che Zel­le käme. Er wagt ja schon so ei­gent­lich je­den Tag sein Le­ben.«

»Ich wer­de also kei­nen Brief schrei­ben«, sag­te Otto Quan­gel.

Und er tat es auch nicht, ob­wohl ihm der Pas­tor am nächs­ten Tag eine schlim­me Nach­richt brach­te, eine sehr schlim­me Nach­richt, ganz be­son­ders auch für Anna Quan­gel. Der Werk­meis­ter bat ihn nur, die­se sehr schlim­me Nach­richt jetzt noch nicht sei­ner Frau zu brin­gen.

»Jetzt noch nicht, bit­te nicht, Herr Pas­tor!«

Und der Pas­tor ver­sprach das auch.

»Nein, noch nicht; Sie wer­den es mir sa­gen, wenn es so weit ist, Herr Quan­gel.«