Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Weeß ick doch! Weeß ick doch al­let! Det steht ja an de Lit­fass­säu­len! Abend­kur­se für fort­ge­schrit­te­ne Elek­tro­tech­ni­ker« – plötz­lich sprach er ein ganz feh­ler­frei­es Deutsch –, »die Grund­la­gen der Elek­tro­tech­nik.«

»Na also!«, rief Frau Eva. »Und du denkst, du bist zu alt für so was! Du willst nichts mehr ler­nen? Du willst dein Leb­tag ein Pen­ner blei­ben, der den Win­ter über Glä­ser wäscht und Holz hackt? Das wird ja ein net­tes Le­ben wer­den, viel Spaß wird dir das nicht ma­chen!«

Er hat­te die Au­gen jetzt wie­der weit ge­öff­net und sah sie for­schend, aber auch miss­trau­isch an.

»Du willst wohl, det ick bei mei­ne Leu­te zu­rück­ma­che und in Ber­lin zur Schu­le jeh? Oder wills­te mir in Für­sor­ge ste­cken?«

»Nichts von bei­den. Ich will se­hen, dass du bei mir blei­ben kannst. Und dann will ich dich sel­ber un­ter­rich­ten, und ein Freund von mir.«

Er blieb miss­trau­isch. »Un wat va­di­enst du denn bei det Je­schäft? Ick wür­de dir doch ’ne Mas­se kos­ten, mit Es­sen un Klei­der un Schul­bü­cher und so wei­ter.«

»Ich weiß nicht, ob du das ver­ste­hen wirst, Kuno. Ich habe mal einen Mann und zwei Jun­gens ge­habt, die habe ich ver­lo­ren. Und nun bin ich ganz al­lein, nur den einen Freund habe ich noch!«

»Da kanns­te doch noch ’n Kind krie­jen!«

Sie wur­de rot, sie, die al­tern­de Frau, er­rö­te­te un­ter dem Blick des vier­zehn­jäh­ri­gen Jun­gen.

»Nein, ich kann kei­ne Kin­der mehr krie­gen«, sag­te sie und sah ihn fest an. »Aber es wür­de mir Freu­de ma­chen, wenn du noch et­was wür­dest, ein Au­to­in­ge­nieur oder ein Flug­zeug­kon­struk­teur. Das wür­de mir Freu­de ma­chen, dass ich aus so ei­nem Jun­gen, wie du bist, noch et­was ge­macht habe.«

»Du denkst woll, ick bin een janz je­mee­net Aas?«

»Das weißt du doch selbst, dass jetzt nicht viel mit dir los ist, Kuno!«

»Da has­te recht. Det muss wahr sind!«

»Und du hast kei­ne Lust, was an­de­res zu wer­den?«

»Lust schon, aba …«

»Aber was? Möch­test du nicht zu mir kom­men?«

»Möch­ten schon, aba …«

»Was ist das noch für ein Aber?«

»Ick denk imma, du krichst mir schnell üba, und fort­schi­cken lass ick mir nich jer­ne, ick jeh lie­ba von al­lee­ne.«

»Du kannst je­den Tag von mir fort­ge­hen, ich wer­de dich nie hal­ten.«

»Is det ein Wort?«

»Das ist ein Wort, ich ver­spre­che es dir, Kuno. Bei mir bist du ganz frei.«

»Aba, wenn ick bei dir bin, denn muss ick rich­tich je­mel­det wern, und denn wis­sen’s ooch mei­ne Ol­len, wo ick bin. Die las­sen mir nich ee­nen Tach bei dir.«

»Wenn das so aus­sieht bei euch zu Haus, wie du er­zählt hast, wird dich kei­ner zwin­gen zu­rück­zu­ge­hen. Vi­el­leicht wer­den mir dann die Rech­te über­tra­gen, und du bist ganz mein Jun­ge …«

Ei­nen Au­gen­blick sa­hen sich die bei­den an. Sie mein­te, in die­sem blau­en gleich­gül­ti­gen Blick einen fer­nen Glanz zu ent­de­cken. Aber dann sag­te er – und leg­te den Kopf auf den Arm, schloss die Au­gen: »Na, denn schön. Denn will ick ma ’n biss­ken schla­fen. Jeh du man wie­der bei dei­ne Kar­tof­feln!«

»Aber, Kuno« rief sie. »Du musst mir doch we­nigs­tens eine Ant­wort auf mei­ne Fra­ge ge­ben!«

»Muss ick?«, frag­te er sehr schläf­rig. »Keen Mensch muss müs­sen.«

Sie sah ein Weil­chen zwei­felnd auf ihn her­ab. Dann ging sie mit ei­nem leich­ten Lä­cheln wie­der an ihre Ar­beit.

Sie hack­te, aber jetzt hack­te sie ganz ge­dan­ken­los. Zwei Mal er­tapp­te sie sich da­bei, dass sie eine Kar­tof­fel um­ge­legt hat­te. Pass doch auf, Eva!, sag­te sie dann är­ger­lich zu sich selbst.

Aber viel bes­ser pass­te sie dar­um doch nicht auf. Son­dern sie dach­te dar­an, dass es viel­leicht bes­ser sei, wenn es mit die­sem ver­kom­me­nen Jun­gen und ihr nichts wür­de. Wie viel Lie­be und Ar­beit hat­te sie in den Kar­le­mann ge­steckt, der ein un­ver­dor­be­nes Kind ge­we­sen war – und was war aus Lie­be und Ar­beit ge­wor­den? Und sie woll­te einen vier­zehn­jäh­ri­gen Ben­gel, der das gan­ze Le­ben und alle Men­schen ver­ach­te­te, noch ein­mal völ­lig um­än­dern? Was hat­te sie sich da ein­ge­bil­det? Au­ßer­dem wür­de Kien­schä­per nie da­mit ein­ver­stan­den sein …

Sie sah sich nach dem Schlä­fer um. Aber der Schlä­fer war nicht mehr da, al­lein la­gen ihre Sa­chen im Schat­ten des Wald­ran­des.

Also gut!, dach­te sie bei sich. Er hat mir schon jede Ent­schei­dung ab­ge­nom­men. Aus­ge­ris­sen! Umso bes­ser!

Und sie hack­te zor­nig drauf­los.

Aber einen Au­gen­blick spä­ter ent­deck­te sie Kuno-Die­ter auf dem an­de­ren Ende des Kar­tof­felackers, wie er flei­ßig Un­kraut aus­riss und die Bün­del am Feld­rand auf­schich­te­te. Sie stieg über die Fur­chen fort zu ihm hin.

»Schon aus­ge­schla­fen?«, frag­te sie.

»Kann nich schla­fen«, sag­te er. »Mir has­te den Kopp duss­lig je­redt. Muss nach­den­ken.«

»Denn tu das man! Aber denk nicht, dass du mei­net­we­gen ar­bei­ten musst.«

»Dei­net­we­gen!« So viel Ver­ach­tung, wie er in die­ses eine Wort leg­te, war gar nicht aus­zu­den­ken. »Ick reiß Un­kraut aus, weil sich’s da­bei bes­ser nach­denkt und weil’s mir eben Spaß macht. Wahr­haf­tig! We­jen dir! Für die paar Sech­ser­stul­len meens­te?«

Wie­der ging Frau Eva Klu­ge mit ei­nem stil­len Lä­cheln an ihre Ar­beit zu­rück. Und er tat es doch ih­ret­we­gen, wenn er es auch nicht ein­mal vor sich selbst wahr­ha­ben woll­te. Jetzt hat­te sie kei­nen Zwei­fel mehr, dass er mit­tags mit ihr ge­hen wür­de, und da­vor ver­lo­ren alle mah­nen­den und war­nen­den Stim­men, die in ihr laut ge­wor­den wa­ren, an Ge­wicht.

Frü­her als sonst mach­te sie Schluss mit der Ar­beit. Sie ging wie­der zu dem Jun­gen zu­rück und sag­te zu ihm: »Ich mach jetzt Mit­tag. Wenn du willst, Kuno, kannst du mit mir kom­men.«

Er riss noch ein paar Un­kräu­ter aus und sah dann auf das ge­säu­ber­te Stück. »’ne janz schö­ne Ecke ha’ck je­schafft«, sag­te er be­frie­digt. »Na­tür­lich ha’ck nur det jro­be Un­kraut je­nomm, for det klee­ne muss­te noch mal mit de Ha­cke lang­jehn, det schafft denn aba mehr.«

»Na­tür­lich«, sag­te sie. »Nimm du nur das gro­be Un­kraut weg, mit dem klei­nen will ich schon fer­tig wer­den.«

Er sah sie wie­der von der Sei­te an, und sie merk­te, dass die­se blau­en Au­gen auch schel­misch bli­cken konn­ten.

»Det soll woll ’ne An­spie­lung sind?«, er­kun­dig­te er sich.

»Wie du meinst«, sag­te sie. »Es braucht es nicht zu sein.«

»Na denn!«

Sie blieb ste­hen auf dem Rück­weg, an ei­nem klei­nen, ei­lig da­hin­strö­men­den Was­ser.

»Ich möch­te dich so, wie du aus­siehst, nicht mit ins Dorf neh­men, Kuno«, sag­te sie.

So­fort er­schi­en eine Fal­te auf sei­ner Stirn, und er frag­te arg­wöh­nisch: »Du schämst dir woll for mir?«

»Na­tür­lich kannst du auch so mit­kom­men, mei­net­we­gen«, sag­te sie. »Aber wenn du län­ger im Dorf le­ben willst, und du kannst fünf Jah­re da sein und im­mer or­dent­lich ge­klei­det her­um­lau­fen, die Bau­ern ver­ges­sen doch nie, wie du zu ih­nen ge­kom­men bist. Wie ein Dreck­schwein, wer­den sie noch in zehn Jah­ren sa­gen. Wie ein Pen­ner.«

»Da has­te recht«, sag­te er. »So sind die Brü­der. Na, denn mach ma und hol Zeuch! Ick will ma sehn, det ick mir un­ter­des hier ’n biss­ken ab­schrub­be.«

»Ich brin­ge Sei­fe und Bürs­te mit«, rief sie noch und mach­te sich ei­lig auf den Weg ins Dorf.

Spä­ter am Tage, sehr viel spä­ter am Tage, schon am Abend, als sie zu drei­en ihr Abend­brot ge­ges­sen hat­ten: Frau Eva, der weiß­haa­ri­ge Kien­schä­per und ein fast bis zur Un­kennt­lich­keit ver­wan­del­ter Kuno-Die­ter, spä­ter also sag­te Frau Eva: »Heu­te schläfst du hier noch auf dem Heu­bo­den, Kuno. Von mor­gen an krie­ge ich die klei­ne Kam­mer, sie müs­sen nur erst das Ge­rüm­pel raus­stel­len. Ich rich­te sie dir hübsch ein. Mö­bel habe ich ge­nug.«

Kuno sah sie nur an. »Det soll hee­ßen, det ick jetzt zu va­duf­ten habe«, sag­te er, »det de Herr­schaf­ten un­ter sich sein wol­len. Na denn! Aba schla­fen jeh ick jetzt noch nich, Eva, ick bin doch keen Sie­ben­mo­nats­kind. Ick wer mir erst ma det Kaff be­kie­ken.«

»Aber lass es nicht zu spät wer­den, Kuno! Und rauch nicht auf dem Heu­bo­den!«

»I wo denn! Wo wer ick!, wär ja der Ers­te, der ab­nib­beln müss­te. Na denn! Vil­le Spaß noch, jun­ge Leu­te, sag­te der Vata, da mach­te er Mut­ta een Kind!«

Und Herr Kuno-Die­ter ging ab. Ein glän­zen­des Pro­dukt na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Er­zie­hung.

Frau Eva Klu­ge lä­chel­te et­was be­küm­mert. »Ich weiß doch nicht, Kien­schä­per«, sag­te sie, »ob ich gra­de recht dar­an ge­tan habe, die­ses Frücht­chen in un­se­re klei­ne Fa­mi­lie auf­zu­neh­men. Er ist eine Zu­mu­tung, das ist er!«

Kien­schä­per lach­te. »Aber, Evi«, sag­te er, »du musst doch sel­ber mer­ken, dass der Jun­ge jetzt nur an­gibt! Der will sich hier ganz groß zei­gen! Auch in al­ler Scheuß­lich­keit. Und ge­ra­de, weil er merkt, du bist ein biss­chen zim­per­lich …«

»Ich bin doch nicht zim­per­lich!«, rief sie. »Aber wenn mir ein vier­zehn­jäh­ri­ger Jun­ge er­zählt, er hat schon zwei Ge­lieb­te ge­habt …«

»… so bist du eben doch zim­per­lich, Evi. Und was heißt üb­ri­gens zwei Ge­lieb­te, die er be­stimmt gar nicht ge­habt hat, son­dern im schlimms­ten Fal­le ha­ben sie ihn ge­habt! Das heißt gar nichts! Ich will es dei­nen Ohren er­spa­ren, Evi, dir zu er­zäh­len, was die Kin­der die­ses schlich­ten, from­men Dor­fes al­les mit­ein­an­der vor­ha­ben, da­ge­gen ist dein Kuno-Die­ter noch Gold!«

»Aber die Kin­der re­den nicht da­von!«

 

»Weil sie ein schlech­tes Ge­wis­sen ha­ben. Er aber hat kei­nes, son­dern sieht es ganz na­tür­lich an, weil er es näm­lich nie an­ders ge­se­hen und ge­hört hat. Das gibt sich al­les. Ein gu­ter Kern steckt in dem Jun­gen; in ei­nem hal­b­en Jahr wird er schon scham­rot wer­den, wenn er an das denkt, was er dir in den ers­ten Ta­gen al­les ge­sagt hat. Er wird’s ab­le­gen, ge­nau­so wie sein Ber­li­nisch. Hast du ge­merkt, er kann ganz gut hoch­deutsch re­den, er will bloß nicht.«

»Ich habe ein schlech­tes Ge­wis­sen, be­son­ders vor dir, Kien­schä­per.«

»Das brauchst du nicht zu ha­ben, Evi. Der Jun­ge macht mir Spaß, und des­sen sei si­cher, er mag wer­den, wie er will: ei­ner aus dem Hit­ler­dut­zend wird er nie. Vi­el­leicht ein Son­der­ling, aber nie ein Par­tei­mann, son­dern stets ein Ein­zel­gän­ger.«

»Das gebe Gott!«, sag­te Eva. »Mehr will ich ja gar nicht er­rei­chen.«

Und sie hat­te das dunkle Ge­fühl, als ma­che sie mit dem ge­ret­te­ten Kuno-Die­ter die von Kar­le­mann be­gan­ge­nen Schand­ta­ten ein biss­chen wie­der gut.

45. Kriminalrat Zott gestürzt

Der Brief des Re­vier­vor­ste­hers war zwar ganz rich­tig an Herrn Kri­mi­nal­rat Zott bei der Ge­hei­men Staats­po­li­zei, Ber­lin, adres­siert ge­we­sen. Aber das hat­te noch nicht zur Fol­ge, dass die­ser Brief auch di­rekt bei dem Kri­mi­nal­rat Zott ein­traf. Son­dern des­sen Vor­ge­setz­ter, der SS-Ober­grup­pen­füh­rer Prall, hat­te ihn in den Hän­den, als er beim Kri­mi­nal­rat ein­trat.

»Was ist das für eine Sa­che, Herr Kri­mi­nal­rat?«, frag­te Prall. »Hier ist wie­der so ’ne Kar­te vom Kla­bau­ter­mann und dar­an an­ge­hef­tet ein Zet­tel: Häft­lin­ge laut te­le­fo­ni­scher Wei­sung der Ge­sta­po, Kri­mi­nal­rat Zott, wie­der ent­las­sen. Was sind das für Häft­lin­ge? Wa­rum ist mir da­von nichts ge­mel­det?«

Der Kri­mi­nal­rat sah schräg durch die Bril­le zu sei­nem Vor­ge­setz­ten hin: »Ach so! Ja, jetzt er­in­ne­re ich mich. Das war vor­ges­tern oder noch einen Tag frü­her. Jetzt weiß ich es wie­der ge­nau: am Sonn­tag war es. Abends. Zwi­schen sechs und sie­ben, acht­zehn und neun­zehn Uhr woll­te ich sa­gen, Herr Ober­grup­pen­füh­rer.«

Und er sah, stolz auf sein aus­ge­zeich­ne­tes Ge­dächt­nis, den Ober­grup­pen­füh­rer an.

»Und was war da am Sonn­tag zwi­schen acht­zehn und neun­zehn Uhr? Wie­so gab es da Häft­lin­ge? Und warum wur­den sie wie­der ent­las­sen? Und wes­halb ist mir da­von nichts ge­mel­det? Es ist zwar sehr be­ru­hi­gend, dass Sie es jetzt wie­der wis­sen, Zott, aber ich möcht’s auch ger­ne wis­sen.«

Die­ses ohne alle Ti­te­lei her­vor­ge­sto­ße­ne »Zott« klang wie ein ers­ter Ka­no­nen­schuss.

»Aber eine ganz be­lang­lo­se Ge­schich­te!« Der Kri­mi­nal­rat mach­te be­ru­hi­gen­de Be­we­gun­gen mit sei­nem ak­ten­gel­ben Händ­chen. »Ein Un­sinn auf dem Re­vier. Die hat­ten da als Kar­ten­schrei­ber oder Kar­ten­ver­tei­ler ein paar Leut­chen fest­ge­nom­men, ein Ehe­paar, na­tür­lich blan­ker Un­sinn mal wie­der von der Schu­po. Ehe­paar – da wir doch wis­sen, der Mann muss al­lein le­ben! Und dann, jetzt fällt mir auch das noch ein, von Be­ruf war der Mann Tisch­ler, und wir wis­sen doch, er muss et­was mit der Stra­ßen­bahn zu tun ha­ben!«

»Wol­len Sie da­mit sa­gen, Herr«, ant­wor­te­te, nur noch müh­sam an sich hal­tend, der Ober­grup­pen­füh­rer (das »Herr« war der zwei­te und weitaus schär­fe­re Schuss in die­sem Krie­ge), »wol­len Sie da­mit sa­gen, dass Sie die Ent­haf­tung die­ser Leu­te an­ge­ord­net ha­ben, ohne sie über­haupt zu se­hen, ohne sie zu ver­neh­men – bloß weil es zwei wa­ren statt ei­ner und bloß weil der Mann sich für einen Tisch­ler aus­gab? Herr!«

»Herr Ober­grup­pen­füh­rer«, ant­wor­te­te der Kri­mi­nal­rat Zott und stand auf. »Wir Kri­mi­na­lis­ten ar­bei­ten nach ei­nem be­stimm­ten Plan und wei­chen da­von nicht ab. Ich su­che einen ein­sam le­ben­den Mann, der was mit der Stra­ßen­bahn zu tun hat, und kei­nen Ehe­mann, der Tisch­ler ist. Der in­ter­es­siert mich nicht. We­gen dem gehe ich kei­nen Schritt.«

»Als wenn ein Tisch­ler nicht auch für die BVG ar­bei­ten könn­te, zum Bei­spiel Bahn­wa­gen re­pa­rie­ren!«, schrie jetzt Prall. »So eine Horns­dumm­heit!«

Zu­erst woll­te Zott be­lei­digt sein, aber die tref­fen­de Be­mer­kung sei­nes Vor­ge­setz­ten mach­te ihn doch be­denk­lich. »Frei­lich«, sag­te er be­tre­ten, »dar­an habe ich frei­lich nicht ge­dacht.« Er sam­mel­te sich. »Aber ich su­che einen ein­sam le­ben­den Men­schen«, sag­te er wie­der. »Und die­ser Mann hat eine Frau.«

»Ha­ben Sie eine Ah­nung, was die Wei­ber für ge­mei­ne Bies­ter sein kön­nen!«, knurr­te Prall. Aber er hat­te noch et­was in Be­reit­schaft: »Und ha­ben Sie, Herr Kri­mi­nal­rat Zott« (der drit­te und schärfs­te Schuss), »viel­leicht auch dar­an nicht ge­dacht, dass die­se Kar­te an ei­nem Sonn­tagnach­mit­tag ab­ge­legt ist, in der Nähe des Nol­len­dorf­plat­zes, der ge­hört näm­lich zu dem Re­vier! Soll­te auch die­ser klei­ne, be­lang­lo­se Um­stand Ihrem kri­mi­na­lis­ti­schen Scharf­blick ent­gan­gen sein?«

Dies­mal war der Kri­mi­nal­rat Zott ehr­lich be­stürzt, sein Spitz­bart zuck­te, über sei­ne dunklen, schar­fen Au­gen zog es wie ein Schlei­er.

»Sie se­hen mich in der größ­ten Ver­le­gen­heit, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Ich bin ver­zwei­felt, wie konn­te mir das nur ge­sche­hen? Ach ja, ich habe mich ver­rannt. Ich habe im­mer nur an die­se Bahn­hö­fe von der Elek­tri­schen ge­dacht, ich war so stolz auf die­se Ent­de­ckung. Zu stolz …«

Der Ober­grup­pen­füh­rer sah mit bö­sen Au­gen auf die­ses Männ­chen, das in ehr­li­cher Be­küm­mer­nis, aber ohne Krie­che­rei sei­ne Sün­den be­kann­te.

»Es war ein Feh­ler von mir, ein schwer­wie­gen­der Feh­ler«, fuhr der Kri­mi­nal­rat eif­rig fort, »die­se Er­mitt­lun­gen über­haupt zu über­neh­men. Ich tau­ge nur für die stil­le Ar­beit am Schreib­tisch, nicht für den Fahn­dungs­dienst. Kol­le­ge Esche­rich macht so et­was zehn­mal bes­ser als ich. Nun habe ich auch noch das Un­glück ge­habt«, fuhr er beich­tend fort, »dass ei­ner mei­ner Leu­te, den ich mit der Er­mitt­lung in ei­nem die­ser Häu­ser be­auf­tragt hat­te, ver­haf­tet wor­den ist, ein ge­wis­ser Klebs. Wie mir mit­ge­teilt wird, soll er an ei­nem Dieb­stahl be­tei­ligt sein, an der Aus­räu­be­rung ei­nes Dip­so­ma­nen.1 Üb­ri­gens ist er schwer ver­letzt. Eine sehr häss­li­che Ge­schich­te. Der Mann wird bei der Ver­hand­lung nicht den Mund hal­ten, er wird sa­gen, wir ha­ben ihn ge­schickt …«

Der Ober­grup­pen­füh­rer Prall zit­ter­te vor Zorn, aber der trau­ri­ge Ernst, mit dem Kri­mi­nal­rat Zott sprach, und sei­ne völ­li­ge Un­be­küm­mert­heit um das ei­ge­ne Schick­sal hiel­ten ihn noch im Zaum.

»Und wie den­ken Sie sich die Fort­set­zung der Sa­che, Herr?«, frag­te er kalt.

»Ich bit­te Sie, Herr Ober­grup­pen­füh­rer«, bat Zott mit fle­hend er­ho­be­nen Hän­den, »ich bit­te Sie, ent­bin­den Sie mich! Ent­bin­den Sie mich von die­sem Dienst, dem ich in kei­ner Wei­se ge­wach­sen bin! Ho­len Sie den Kom­missar Esche­rich wie­der aus sei­nem Kel­ler, er wird es bes­ser ma­chen als ich …«

»Ich hof­fe«, sag­te Prall und schi­en al­les eben Ge­sag­te nicht ge­hört zu ha­ben, »ich hof­fe, Sie ha­ben we­nigs­tens die An­schrif­ten der bei­den in­haf­tiert Ge­we­se­nen no­tiert?«

»Ich habe es nicht! Ich habe mit sträf­li­chem Leicht­sinn ge­han­delt, von mei­ner Lieb­lings­idee ver­führt. Aber ich wer­de mich mit dem Re­vier ver­bin­den las­sen, man wird mir die Adres­sen ge­ben, wir wer­den se­hen …«

»Also las­sen Sie sich ver­bin­den!«

Das Ge­spräch war nur sehr kurz. Der Kri­mi­nal­rat sag­te zu dem Ober­grup­pen­füh­rer: »Auch dort hat man die Adres­sen nicht no­tiert.« Und auf eine zor­ni­ge Be­we­gung sei­nes Vor­ge­setz­ten: »Ich bin schuld, ich ganz al­lein! Nach dem Te­le­fon­ge­spräch mit mir muss­te man dort die An­ge­le­gen­heit für end­gül­tig er­le­digt an­se­hen. Ich al­lein bin schuld, dass nicht ein­mal eine Ak­ten­no­tiz ge­macht wur­de!«

»So­dass wir jetzt kei­ner­lei Spur mehr ha­ben?«

»Kei­ner­lei Spur!«

»Und wie den­ken Sie über Ihr Ver­hal­ten?«

»Bit­te, Herrn Kom­missar Esche­rich aus dem Kel­ler zu ho­len und mich an sei­ner Stel­le fest­zu­set­zen!«

Ober­grup­pen­füh­rer Prall sah den klei­nen Mann eine Wei­le sprach­los an. Dann sag­te er, zit­ternd vor Wut: »Wis­sen Sie, dass ich Sie in ein KZ schi­cken wer­de? Sie wa­gen, mir einen sol­chen Vor­schlag ins Ge­sicht hin­ein zu ma­chen, und Sie zit­tern und heu­len nicht vor Angst? Aus dem Zeug, wie Sie sind, sind auch die Ro­ten, die Bol­sche­wi­ken, ge­macht! Sie be­ken­nen Ihre Schuld, aber Sie schei­nen noch stolz dar­auf!«

»Ich bin nicht stolz auf mei­ne Schuld. Aber ich bin be­reit, die Fol­gen zu tra­gen. Und ich hof­fe, ich wer­de es ohne Zit­tern und Heu­len tun!«

Ober­grup­pen­füh­rer Prall lä­chel­te ver­ächt­lich zu die­sen Wor­ten. Er hat­te un­ter den Schlä­gen der SS-Män­ner schon viel Wür­de zer­fal­len ge­se­hen. Aber er hat­te auch den Blick in den Au­gen man­cher Ge­mar­ter­ten ge­se­hen, die­sen Blick, der in al­ler Qual von ei­ner küh­len, fast spöt­ti­schen Über­le­gen­heit sprach. Und die Erin­ne­rung an die­sen Blick mach­te es, dass er, statt zu schrei­en und zu schla­gen, nur sag­te: »Sie hal­ten sich in die­sem Zim­mer zu mei­ner Ver­fü­gung. Ich muss erst Be­richt er­stat­ten.«

Kri­mi­nal­rat Zott neig­te zu­stim­mend den Kopf, und der Ober­grup­pen­füh­rer Prall ging.

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46. Kommissar Escherich wieder frei

Der Kom­missar Esche­rich ist wie­der im Amt. Der Tot­ge­glaub­te ist aus den Kel­lern der Ge­sta­po wie­der zum Le­ben auf­er­stan­den. Ein we­nig be­schä­digt und zer­knit­tert, sitzt er doch wie­der an sei­nem Schreib­tisch, und sei­ne Kol­le­gen be­ei­len sich, ihn ih­rer Sym­pa­thie zu ver­si­chern. Sie hät­ten im­mer an ihn ge­glaubt. Sie hät­ten al­les ger­ne für ihn ge­tan, was in ih­rer Macht stand. »Nur, weißt du, wenn erst die hö­he­re Füh­rung je­man­den in Ver­schiss tut, kann un­serei­ner nichts mehr ma­chen. Da ver­brennt man sich nur die Pfo­ten. Nun, das weißt du ja al­les selbst, das ver­stehst du ja, Esche­rich.«

Esche­rich ver­si­chert, dass er al­les ver­steht. Er ver­zieht den Mund zu ei­nem Lä­cheln, das ein we­nig un­glück­lich aus­sieht, ver­mut­lich weil Esche­rich noch nicht ge­lernt hat, mit ei­ni­gen Zahn­lücken im Mun­de zu lä­cheln.

Nur zwei Re­den ha­ben auf ihn bei sei­nem Dien­stein­tritt Ein­druck ge­macht. Die eine kam vom Kri­mi­nal­rat Zott.

»Kol­le­ge Esche­rich«, hat­te der ge­sagt. »Ich wer­de nicht statt Ih­rer in den Bun­ker ge­sandt, ob­wohl ich es zehn­mal mehr als Sie ver­dient hät­te. Nicht nur we­gen der Feh­ler, die ich ge­macht habe, son­dern weil ich mich wie ein Schwein Ih­nen ge­gen­über be­nom­men habe. Mei­ne ein­zi­ge Ent­schul­di­gung ist: ich glaub­te, Sie hät­ten schlecht ge­ar­bei­tet …«

»Nun re­den Sie nicht mehr da­von«, hat­te Esche­rich mit sei­nem zahn­lücki­gen Lä­cheln ge­sagt. »Im Fall Kla­bau­ter­mann ha­ben bis­her alle schlecht ge­ar­bei­tet, Sie, ich, alle. Es ist ko­misch, ich bin wirk­lich ge­spannt dar­auf, die­sen Mann ken­nen­zu­ler­nen, der so viel Un­glück mit sei­nen Kar­ten über sei­ne Mit­menschen ge­bracht hat. Es muss ein selt­sa­mer Vo­gel sein …«

Er sah den Kri­mi­nal­rat ge­dan­ken­voll an.

Der gab ihm sei­ne klei­ne ak­ten­gel­be Hand. »Den­ken Sie nicht zu böse von mir, Kol­le­ge Esche­rich«, sag­te er lei­se. »Und noch eins: ich habe da so eine neue Theo­rie auf­ge­stellt, dass der Tä­ter ir­gen­det­was mit der Stra­ßen­bahn zu tun hat. Sie wer­den es bei den Ak­ten fin­den. Bit­te ver­lie­ren Sie die­se Theo­rie bei Ihren Er­mitt­lun­gen nicht ganz aus dem Auge. Ich wäre sehr glück­lich, wenn we­nigs­tens die­ser Punkt mei­ner Er­wä­gun­gen sich als wahr er­wie­se! Ich bit­te Sie dar­um!«

Und da­mit ent­schwand der Kri­mi­nal­rat Zott auf sein ab­ge­le­ge­nes, stil­les Zim­mer, nur noch sei­nen Theo­ri­en hin­ge­ge­ben.

Die zwei­te denk­wür­di­ge An­spra­che hielt na­tür­lich der Ober­grup­pen­füh­rer Prall. »Esche­rich«, sag­te er mit er­ho­be­ner Stim­me, »Kom­missar Esche­rich! Sie füh­len sich doch ganz wohl?«

»Völ­lig wohl!«, ant­wor­te­te der Kom­missar. Er stand hin­ter sei­nem Schreib­tisch, un­will­kür­lich la­gen die Hän­de mit eng an­ge­press­ten Dau­men an der Hose, wie er es un­ten in der Zel­le ge­lernt hat­te. So­sehr er da­ge­gen an­kämpf­te, der Kom­missar zit­ter­te. Sein Auge war auf­merk­sam auf den Vor­ge­setz­ten ge­rich­tet. Die­sem Man­ne ge­gen­über er­fass­te ihn nichts wie Angst, be­sin­nungs­lo­se Angst, je­den Au­gen­blick konn­te der ihn wie­der in den Kel­ler schi­cken.

 

»Wenn Sie sich also völ­lig wohl füh­len, Esche­rich«, fuhr Prall fort, der sehr wohl die Wir­kung sei­ner Wor­te spür­te, »so kön­nen Sie doch auch ar­bei­ten. Oder nicht?«

»Ich kann ar­bei­ten, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

»Wenn Sie ar­bei­ten kön­nen, Esche­rich, so kön­nen Sie doch auch den Kla­bau­ter­mann fan­gen! Das kön­nen Sie doch?«

»Das kann ich, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

»In kür­zes­ter Zeit, Esche­rich!«

»In kür­zes­ter Zeit, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

»Se­hen Sie, Esche­rich«, sag­te der Ober­grup­pen­füh­rer Prall gnä­dig und wei­de­te sich an der Angst sei­nes Un­ter­ge­be­nen. »Wie gut so ’n klei­ner Fe­ri­en­auf­ent­halt im Bun­ker tut! So lie­be ich mei­ne Leu­te! Sie füh­len sich mir nicht mehr sehr über­le­gen, Herr Esche­rich?«

»Nein, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, ge­wiss nicht. Zu Be­fehl, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

»Sie den­ken nicht mehr, dass Sie der al­ler­schlaues­te Hund in der gan­zen Ge­sta­po sind und dass alle an­de­ren bloß aus Hun­de­dreck ge­macht sind – das den­ken Sie doch nicht mehr, Esche­rich?«

»Zu Be­fehl, nein, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, das den­ke ich nicht mehr.«

»Se­hen Sie, Esche­rich«, fuhr der Ober­grup­pen­füh­rer fort und gab dem angst­voll zu­rück­fah­ren­den Esche­rich einen kräf­ti­gen, scherz­haf­ten Na­sen­stü­ber, »und wenn Sie sich nun mal wie­der sehr schlau füh­len oder wenn Sie Ei­gen­mäch­tig­kei­ten be­ge­hen oder wenn Sie den­ken, der Ober­grup­pen­füh­rer Prall ist bloß ein doofes Aas, dann sa­gen Sie mir das recht­zei­tig. Dann schi­cke ich Sie gleich, ehe es noch zu schlimm wird, zu ei­ner klei­nen Kur in den Kel­ler. Na, na?«

Der Kom­missar Esche­rich sah sei­nen Vor­ge­setz­ten nur starr an. Jetzt konn­te es ein Blin­der hö­ren, so stark zit­ter­te der Kom­missar.

»Nun, was wird, Esche­rich, wer­den Sie’s mir recht­zei­tig sa­gen, wenn Sie mal wie­der mäch­tig schlau sind?«

»Zu Be­fehl, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

»Oder wenn die Ar­beit nicht vor­an­geht, da­mit ich Ih­nen ein biss­chen Bei­ne ma­che?«

»Zu Be­fehl, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

»Na, dann sind wir uns ja ei­nig, Esche­rich!«

Der hohe Herr gab dem ge­nug­sam Ge­duck­ten plötz­lich ganz über­ra­schend die Hand. »Freut mich, Esche­rich, Sie wie­der im Dienst zu se­hen. Hof­fe, wir wer­den wie­der aus­ge­zeich­net mit­ein­an­der ar­bei­ten. Was wol­len Sie also als Nächs­tes tun?«

»Mir von den Be­am­ten des Re­viers am Nol­len­dorf­platz eine ge­naue Per­so­nal­be­schrei­bung ver­schaf­fen. Die wer­den wir jetzt end­lich be­kom­men! Der Mann, der die bei­den An­ge­zeig­ten ver­nahm, viel­leicht hat er doch noch eine lei­se Erin­ne­rung an den Na­men. Die Such­ak­ti­on des Kol­le­gen Zott fort­set­zen …«

»Schön, schön. Das ist also je­den­falls ein An­fang. Sie er­stat­ten mir täg­lich Be­richt …«

»Zu Be­fehl, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

Ja, dies war die zwei­te Un­ter­re­dung bei Wie­der­auf­nah­me sei­nes Diens­tes, die ei­ni­gen Ein­druck auf den Kri­mi­nal­kom­missar Esche­rich mach­te. Im Üb­ri­gen sah man ihm nichts mehr von sei­nen Er­leb­nis­sen an, nach­dem auch die Zahn­lücke wie­der ge­schlos­sen war. Die Kol­le­gen fan­den so­gar, Esche­rich sei sehr viel net­ter ge­wor­den seit­dem. Das mach­te, dass er den Ton spöt­ti­scher Über­le­gen­heit völ­lig ver­lo­ren hat­te. Kei­nem Men­schen konn­te er sich noch über­le­gen füh­len.

Kom­missar Esche­rich ar­bei­tet, macht Re­cher­chen, nimmt Ver­neh­mun­gen vor, fer­tigt Per­so­nal­be­schrei­bun­gen an, liest in Ak­ten, te­le­fo­niert – Esche­rich ar­bei­tet wie eh und je. Aber wenn ihm auch kei­ner was an­sieht und wenn er auch hofft, ei­nes Ta­ges wie­der ohne Zit­tern mit sei­nem Vor­ge­setz­ten Prall re­den zu kön­nen, Esche­rich weiß, er wird nie wie­der der Alte. Er ist bloß noch eine Ar­beits­ma­schi­ne; was er tut, ist Rou­ti­ne­ar­beit. Mit dem Über­le­gen­heits­ge­fühl schwand auch die Freu­de an der Ar­beit, der Dün­kel war der Dün­ger, der sei­ne Früch­te reif­te.

Esche­rich hat sich im­mer sehr si­cher ge­fühlt. Er hat im­mer ge­glaubt, ihm kön­ne nichts ge­sche­hen. Er hat an­ge­nom­men, er sei ein ganz an­de­rer Mensch als die an­de­ren. Und Esche­rich hat all die­se Selbst­täu­schun­gen auf­ge­ben müs­sen, ei­gent­lich in den paar Se­kun­den, als ihm der SS-Mann Do­bat die Faust in den Mund schlug und er Angst lern­te. Esche­rich hat in we­ni­gen Ta­gen so gründ­lich Angst ge­lernt, dass er sie in sei­nem gan­zen Le­ben nicht wie­der ver­ler­nen wird. Er weiß, er kann aus­se­hen, wie er will, er kann das Un­mög­li­che er­rei­chen, er kann ge­ehrt und ge­fei­ert wer­den – er weiß, er ist gar nichts. Ein Faust­schlag kann ihn in ein heu­len­des, zit­tern­des, angst­vol­les Gar­nichts ver­wan­deln, nicht viel bes­ser als der klei­ne, stin­ken­de, fei­ge Ta­schen­dieb, mit dem er ta­ge­lang die Zel­le ge­teilt hat und des­sen ei­ligst ge­lei­er­te Ge­be­te ihm jetzt noch im Ohr sind. Nicht so sehr viel bes­ser. Nein, gar nicht bes­ser!

Aber ei­nes hält den Kom­missar Esche­rich noch auf­recht, das ist der Ge­dan­ke an den Kla­bau­ter­mann. Den Kerl muss er noch fas­sen, hin­ter­her kann sei­net­hal­ben wer­den, was will. Er muss die­sem Mann Auge ins Auge se­hen, er muss mit die­sem Mann spre­chen, der die Ur­sa­che sei­nes Un­glücks ge­wor­den ist. Er will es ihm ins Ge­sicht sa­gen, die­sem Fa­na­ti­ker, welch Un­heil, Sor­ge, Not er über vie­le Men­schen ge­bracht hat. Er wird ihn zer­schmet­tern, die­sen Feind im Dun­keln.

Hät­te er ihn doch schon!