19. Die erste Karte wird abgelegt
Sie wagt es erst auf der Straße, ihm davon zu sprechen, so wortkarg war Otto an diesem Vormittag. »Wo willst du die Karte hinbringen, Otto?«
Er antwortet mürrisch: »Sprich jetzt nicht davon. Nicht jetzt auf der Straße.«
Und dann setzt er doch noch widerwillig hinzu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifswalder Straße ausgesucht.«
»Nein«, sagt sie entschieden. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«
»Komm!«, sagt er böse, denn sie ist stehen geblieben. »Ich sage dir doch, nicht hier auf der Straße!«
Er geht weiter, sie folgt ihm und besteht auf ihrem Recht mitzusprechen. »Nicht so in der Nähe unserer Wohnung«, betont sie. »Wenn diese Sache denen in die Hände fällt, haben sie gleich einen Fingerzeig über die Gegend. Lass uns bis zum Alex runtergehen …«
Er denkt nach, er überlegt. Vielleicht, nein, sicher hat sie recht. Man muss mit allem rechnen. Und doch, dieses plötzliche Umändern seiner Pläne passt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex laufen, wird die Zeit sehr knapp, und er muss doch zum Arbeitsbeginn zurechtkommen. Auch weiß er kein passendes Haus am Alex. Sicher gibt es dort viele, aber man muss das richtige erst suchen, und das tut er lieber allein als mit der Frau, die ihn dabei stört.
Dann, ganz plötzlich, entschließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Gehen wir zum Alex.«
Sie sieht ihn dankbar von der Seite an. Sie ist glücklich, dass er auch einmal einen Ratschlag von ihr angenommen hat. Und weil er sie eben grade so glücklich gemacht hat, will sie ihn nicht noch um das andere bitten, dass sie mit ins Haus gehen darf. Nun gut, soll er allein gehen. Sie wird während des Wartens auf seine Rückkehr ein bisschen ängstlich sein – aber warum eigentlich? Sie zweifelt nicht einen Augenblick daran, dass er zurückkommen wird. Er ist so ruhig und so kalt, er lässt sich nicht überrumpeln. Noch in deren Händen würde er sich nicht verraten, er würde sich freikämpfen.
Während sie so überlegend neben dem schweigsamen Manne einhergeht, sind sie von der Greifswalder in die Neue Königstraße hineingekommen. Sie ist so beschäftigt gewesen mit ihren Gedanken, dass sie nicht darauf geachtet hat, wie wachsam Otto Quangels Augen an den Häusern entlangstrichen. Nun bleibt er plötzlich stehen – sie haben noch ein gutes Stück bis zum Alexanderplatz – und sagt: »Da, sieh dir da das Schaufenster an, ich bin gleich zurück.«
Schon geht er über die Fahrbahn auf ein großes, helles Bürohaus zu.
Ihr Herz fängt stark an zu klopfen. Sie möchte ihm zurufen: Nein, nicht, wir haben Alex ausgemacht! Lass uns so lange noch zusammenbleiben! Und: Sage mir wenigstens Lebewohl! Aber die Tür dort schlug schon hinter ihm zu.
Mit einem schweren Seufzer wendet sie sich dem Schaufenster zu. Aber sie sieht nichts von dem Ausgestellten. Sie lehnt die Stirn gegen die kalte Scheibe, vor ihren Augen flirrt und flimmert es. Ihr Herz klopft so sehr, dass sie kaum atmen kann, alles Blut scheint ihr in den Kopf zu treten.
Also habe ich doch Angst, denkt sie. Um Gottes willen, er darf das nie merken, dass ich Angst habe! Sonst nimmt er mich nie wieder mit. Aber ich habe auch keine richtige Angst, überlegt sie weiter. Ich habe keine Angst um mich. Ich habe um ihn Angst. Wenn er nun nicht wiederkommt!
Sie kann es nicht lassen, sie muss sich nach dem Bürohaus umdrehen. Die Tür wird aufgestoßen, Menschen kommen, Menschen gehen; warum kommt Quangel nicht? Er muss fünf, nein, zehn Minuten fort sein. Warum rennt der Mann, der eben aus dem Haus kam, so? Soll er vielleicht die Polizei rufen? Haben sie Quangel gleich beim ersten Male gefasst?
Oh, ich halte das nicht aus! Was hat er sich vorgenommen?! Und ich dachte, es wäre etwas Kleines! Jede Woche einmal, und wenn er erst zwei Karten schreibt, jede Woche zweimal in Lebensgefahr! Und er wird mich nicht immer mitnehmen wollen! Ich habe das heute früh schon gemerkt, eigentlich war ihm mein Mitkommen nicht recht. Er wird allein gehen, allein wird er die Karten fortbringen, und von da wird er zur Fabrik gehen (oder er wird auch nie wieder zur Fabrik gehen!), und ich werde zu Hause sitzen, sitzen und mit Angst auf ihn warten. Ich fühle, diese Angst wird nie aufhören, daran werde ich mich nie gewöhnen. Da kommt Otto! Endlich! Nein, er ist es nicht. Er ist es wieder nicht! Jetzt gehe ich ihm nach, er kann noch so böse werden! Es ist bestimmt etwas passiert, er muss schon eine Viertelstunde fort sein, so lange kann das nie und nimmer dauern! Jetzt suche ich ihn!
Sie macht drei Schritte auf das Haus zu – und kehrt wieder um. Stellt sich vor das Schaufenster, starrt hinein.
Nein, ich werde ihm nicht nachgehen, ich werde ihn nicht suchen. Nicht schon gleich beim ersten Male kann ich so versagen. Ich bilde mir ja nur ein, dass was geschehen ist; sie gehen in dem Haus ein und aus wie immer. Sicher ist Otto auch noch keine Viertelstunde fort. Ich will jetzt sehen, was in diesem Schaufenster ist. Büstenhalter, Gürtel …
Unterdes war Quangel in das Bürohaus eingetreten. Er hatte sich nur darum so rasch dazu entschlossen, weil die Frau an seiner Seite war. Sie machte ihn unruhig, jeden Augenblick konnte sie wieder »davon« zu reden anfangen. In ihrer Gegenwart mochte er nicht lange suchen. Sie würde sicher wieder davon zu reden anfangen, dieses Haus vorschlagen, jenes ablehnen. Nein, nichts mehr davon! Da ging er lieber in das erste Beste hinein, wenn es auch das erste Schlechteste war.
Es war das erste Schlechteste. Es war ein helles, modernes Bürohaus, mit vielen Firmen wohl, aber auch mit einem Portier in grauer Uniform. Quangel geht, ihn gleichgültig ansehend, an ihm vorüber. Er ist darauf gefasst, nach dem Wohin gefragt zu werden, er hat sich gemerkt, dass Rechtsanwalt Toll im vierten Stock sein Büro hat. Aber der Portier fragt ihn nichts, er redet mit einem Herrn. Er streift den Vorübergehenden nur mit einem flüchtigen, gleichgültigen Blick. Quangel wendet sich nach links, schickt sich an, die Treppe hochzusteigen, da hört er einen Fahrstuhl surren. Siehe da, damit hat er auch nicht gerechnet, dass es in einem solchen modernen Haus Fahrstühle gibt, sodass die Treppen kaum benutzt werden.
Aber Quangel steigt weiter die Treppe hoch. Der Junge im Lift wird denken: Das ist ein alter Mann, er misstraut einem Fahrstuhl. Oder er wird denken, er will nur in den ersten Stock. Oder er wird überhaupt nichts denken. Jedenfalls sind diese Treppen kaum benutzt. Er ist schon auf der zweiten, und bisher ist ihm nur ein Bürojunge begegnet, der eilig, ein Paket Briefe in der Hand, die Treppen hinabstürzte. Er sah Quangel gar nicht an. Der könnte seine Karte hier überall ablegen, aber er vergisst nicht einen Augenblick, dass dieser Fahrstuhl da ist, durch dessen blinkende Scheiben er jederzeit beobachtet werden kann. Er muss noch höher, und der Fahrstuhl muss grade in die Tiefe versunken sein, dann wird er es tun.
Er bleibt an einem der hohen Fenster zwischen zwei Stockwerken stehen und starrt auf die Straße hinunter. Dabei zieht er, gut gegen Sicht gedeckt, den einen Handschuh aus der Tasche und streift ihn über seine Rechte. Er steckt diese Rechte wieder in die Tasche, vorsichtig gleitet sie an der dort bereitliegenden Karte vorbei, vorsichtig, um sie nicht zu zerknittern. Er fasst sie mit zwei Fingern …
Während Otto Quangel all das tut, hat er längst gesehen, dass Anna nicht auf ihrem Platz am Schaufenster, sondern dass sie am Rande des Fahrdamms steht und höchst auffallend mit sehr blassem Gesicht nach dem Bürohaus hinübersieht. So hoch, wie er steht, erhebt sie den Blick nicht, sie mustert wohl die Türen im Erdgeschoss. Er schüttelt unmutig den Kopf, fest entschlossen, die Frau nie wieder auf einen solchen Weg mitzunehmen. Natürlich hat sie Angst um ihn. Aber warum hat sie Angst um ihn? Sie sollte um sich selbst Angst haben, so falsch wie sie sich benimmt. Sie erst bringt sie beide in Gefahr!
Er steigt weiter treppauf. Als er am nächsten Fenster vorbeikommt, schaut er noch einmal auf die Straße, aber jetzt sieht Anna wieder in das Schaufenster hinein. Gut, sehr gut, sie hat ihre Angst untergekriegt. Sie ist eine mutige Frau. Er wird gar nicht mit ihr darüber sprechen. Und plötzlich nimmt Quangel die Karte, legt sie vorsichtig auf das Fensterbrett, reißt, schon im Gehen, den Handschuh von der Hand und steckt ihn in die Tasche.
Die ersten Stufen hinabsteigend, sieht er noch einmal zurück. Da liegt sie im hellen Tageslicht, von hier aus kann er noch sehen, eine wie große, deutliche Schrift seine erste Karte bedeckt! Jeder wird sie lesen können! Und verstehen auch! Quangel lächelt grimmig.
Zugleich hört er aber auch, dass eine Tür im Stockwerk über ihm geht. Der Fahrstuhl ist vor einer Minute in die Tiefe gesunken. Wenn es dem da oben, der grade ein Büro verlassen hat, zu langweilig ist, auf das Wiederheraufkommen des Fahrstuhls zu warten, wenn er die Treppe hinuntersteigt, die Karte findet: Quangel ist nur eine Treppe tiefer. Wenn der Mann läuft, kann er Quangel noch erwischen, vielleicht erst ganz unten, aber kriegen kann er ihn, denn Quangel darf nicht laufen. Ein alter Mann, der wie ein Schuljunge die Treppe hinunterläuft – nein, das fällt auf. Und er darf nicht auffallen, niemand darf sich erinnern, einen Mann von dem und dem Aussehen überhaupt in diesem Hause gesehen zu haben.
Er geht aber immerhin ziemlich rasch diese Steinstufen hinunter, und zwischen dem Geräusch, das seine Schritte machen, lauscht er nach oben, ob der Mann wohl wirklich die Treppe benutzt hat. Dann muss er eigentlich die Karte gesehen haben, die ist gar nicht zu übersehen. Aber Quangel ist seiner Sache nicht sicher. Einmal glaubt er, Schritte gehört zu haben. Aber nun hört er schon lange nichts mehr. Und jetzt ist er zu tief unten, um noch irgendetwas zu hören. Der Fahrstuhl fährt lichterglänzend an ihm vorbei in die Höhe.
Quangel tritt in den Ausgang. Grade kommt ein großer Trupp Menschen vom Hofe her, Arbeiter aus irgendeiner Fabrik, Quangel schiebt sich unter sie. Diesmal, ist er ganz sicher, hat ihn der Portier überhaupt nicht angesehen.
Er geht über den Fahrdamm und stellt sich neben Anna.
»Erledigt!«, sagt er.
Und als er das Aufleuchten ihres Auges, das Nachzittern ihrer Lippen sieht, setzt er hinzu: »Niemand hat mich gesehen!« Und schließlich: »Komm, lass uns gehen. Es ist grade noch Zeit, dass ich zu Fuß in die Fabrik komme.«
Sie gehen. Aber beide werfen im Gehen noch einen Blick auf dieses Bürohaus zurück, in dem nun die erste Karte Quangels ihren Weg in die Welt antritt. Sie nicken dem Haus gewissermaßen Abschied nehmend zu. Es ist ein gutes Haus, und so viele Häuser sie auch in den nächsten Monaten und Jahren in der gleichen Absicht aufsuchen werden – dieses Haus wird von ihnen nicht vergessen werden.
Anna Quangel möchte gerne einmal rasch die Hand des Mannes streicheln, aber sie wagt es nicht. So streift sie nur wie zufällig dagegen und sagt erschrocken: »Verzeihung, Otto!«
Er sieht sie verwundert von der Seite an, aber er schweigt.
Sie gehen weiter.
ZWEITER TEIL – Die Gestapo
20. Der Weg der Karten
Der Schauspieler Max Harteisen hatte, wie sein Freund und Anwalt Toll sich auszudrücken beliebte, aus vornazistischen Zeiten noch reichlich viel Butter auf dem Kopf. Er hatte in Filmen mitgespielt, die von jüdischen Regisseuren geleitet waren, er hatte in pazifistischen Filmen mitgespielt, und eine seiner Hauptrollen auf dem Theater war jener verdammte Schwächling, der Prinz von Homburg, gewesen, den jeder wahre Nationalsozialist nur anspucken kann. Max Harteisen hatte also allen Anlass, sehr vorsichtig zu sein; eine Zeit lang war es ja sehr zweifelhaft gewesen, ob er unter den braunen Herren überhaupt noch spielen durfte.
Aber das hatte dann ja schließlich doch geklappt. Natürlich musste der gute Junge eine gewisse Zurückhaltung üben und erst einmal echt braun gefärbten Schauspielern den Vortritt lassen, wenn sie auch lange nicht so viel konnten wie er. Aber grade an dieser Zurückhaltung hatte er es fehlen lassen; der ahnungslose Knabe hatte so gespielt, dass dies sogar dem Minister Goebbels aufgefallen war. Ja, der Minister hatte sogar einen Narren an dem Harteisen gefressen. Und was es mit solchen Vorlieben des Ministers auf sich hatte, das wusste ja jedes Kind, denn es gab keinen launischeren, unberechenbareren Menschen als den Doktor Joseph Goebbels.
Es kam dann auch alles so, wie es kommen musste. Zuerst hatte es wie eitel Freude und Glanz ausgesehen, denn wenn der Minister jemanden zu verehren geruhte, so machte er keinen Unterschied, ob dies eine Frau oder ein Mann war. Wie bei einer Geliebten hatte Doktor Goebbels jeden Morgen bei dem Schauspieler Harteisen angerufen, er hatte sich nach seinem Schlaf erkundigt, er hatte ihm wie einer Diva Blumen und Konfekt gesandt, und es durfte eigentlich kein Tag vergehen, ohne dass der Minister wenigstens kurze Zeit mit Harteisen zusammen war. Ja, er nahm den Schauspieler sogar nach Nürnberg auf den Parteitag mit, er erklärte ihm den Nationalsozialismus »richtig«, und der Harteisen verstand auch alles, was er verstehen sollte.
Er verstand nur nicht, dass zum richtigen Nationalsozialismus auch gehört, dass ein einfacher Volksgenosse einem Minister nicht widerspricht, denn ein Minister ist schon einfach durch die Tatsache, dass er Minister ist, zehnmal klüger als jeder andere. Bei irgendeiner ganz belanglosen Filmfrage widersprach Harteisen seinem Minister und behauptete gradezu, es sei Quatsch, was der Herr Goebbels da geredet habe. Es soll dahingestellt bleiben, ob die wirklich belanglose und dazu auch noch rein theoretische Filmfrage den Schauspieler in so zornigen Eifer gerissen hatte oder ob ihm die verstiegene Anhimmelei des Ministers einfach über war und ob er darum einen Bruch wünschte. Jedenfalls blieb er, trotz mancher Ermahnung, bei seinem Satz, Quatsch sei es und Quatsch bleibe es, ob Minister oder nicht, ganz egal!
Oh, wie änderte sich da die Welt für Max Harteisen! Keine morgendlichen Erkundigungen mehr nach der Güte seines Schlafes, keine Pralinen, keine Blumen, keine Besuche bei Herrn Doktor Goebbels mehr, auch nichts mehr von Belehrungen über den richtigen Nationalsozialismus! Ach, das wäre alles noch zu ertragen gewesen, ja, vielleicht war es sogar erwünscht, aber plötzlich gab es für den Harteisen auch keine Engagements mehr, schon fest abgeschlossene Filmverträge zerplatzten, Gastspiele zerrannen in nichts, es gab nichts mehr zu tun für den Schauspieler Harteisen.
Da der Harteisen ein Mann war, der seinen Beruf nicht nur des Geldverdienens halber schätzte, sondern da er ein wirklicher Schauspieler war, dessen Leben seine Höhepunkte auf der Bühne, vor der Kamera finden musste, so war er über diese erzwungene Untätigkeit ganz verzweifelt. Er konnte und wollte es nicht glauben, dass der Minister, der anderthalb Jahre lang sein bester Freund gewesen war, nun zu einem so bedenkenlosen, ja gemeinen Feind geworden war, dass er die Macht seiner Stellung dazu benutzte, wegen eines Widerspruchs einem anderen alle Lebensfreude zu nehmen. (Er hatte im Jahre 1940 noch immer nicht begriffen, der gute Harteisen, dass jeder Nazi zu jeder Zeit bereit war, jedem Deutschen, der eine von seiner abweichende Meinung hatte, nicht nur alle Lebensfreude, sondern auch das Leben selbst zu nehmen.)
Aber wie die Zeit dahinging und keinerlei Arbeitsmöglichkeit auftauchte, musste Max Harteisen schließlich daran glauben. Freunde berichteten ihm, dass der Minister auf einer Filmkonferenz erklärt hatte, der Führer wolle diesen Schauspieler nie wieder im Rock eines Offiziers auf der Leinwand sehen. Nicht viel später hieß es schon, der Führer wolle diesen Schauspieler überhaupt nicht mehr sehen, und dann wurde ganz offiziell erklärt, der Schauspieler Harteisen sei »unerwünscht«. Aus, zu Ende, mein Lieber, mit sechsunddreißig Jahren auf die schwarze Liste gesetzt – für ein ganzes Tausendjähriges Reich!
Jetzt hatte der Schauspieler Harteisen wirklich Butter auf dem Kopf. Aber er ließ nicht nach, er bohrte und fragte, er wollte um jeden Preis erfahren, ob diese vernichtenden Urteile wirklich vom Führer ausgingen oder ob sie sich der kleine Mann nur ausgedacht hatte, um einen Feind zu erledigen. Und an diesem Montag war Harteisen nun völlig siegesgewiss zu seinem Anwalt Toll gestürzt und hatte gerufen: »Ich hab’s! Ich hab’s, Erwin! Der Schurke hat gelogen. Der Führer hat den Film, in dem ich den preußischen Offizier spiele, überhaupt nicht gesehen, und er hat nie ein Wort gegen mich geäußert.«
Und er berichtete eifrig, dass diese Nachricht ganz gewiss sei, denn sie stamme von Göring selbst. Eine Freundin seiner Frau habe eine Tante, und deren Cousine sei zu Görings nach Carinhall eingeladen gewesen. Da habe sie den Fall zur Sprache gebracht, und der Göring habe sich, wie berichtet, geäußert.
Der Anwalt sah den Aufgeregten ein wenig spöttisch an. »Nun, Max, und was ist dadurch geändert?«
Der Schauspieler murmelte ganz verdutzt: »Aber der Goebbels hat doch gelogen, Erwin!«
»Und? Hast du je geglaubt, alles, was Hinkebeinchen sagt, sei wahr?«
»Nein, das natürlich nicht. Aber wenn man den Fall vor den Führer bringt … Er hat doch den Namen des Führers missbraucht!«
»Ja, und weil er das getan hat, wird der Führer einen alten Parteigenossen und Propami
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rausschmeißen, bloß weil er dem Harteisen Kummer gemacht hat!«
Der Schauspieler sah den überlegenen, spöttischen Anwalt hilfeflehend an. »Aber es muss doch was geschehen in meiner Sache, Erwin!«, sagte er schließlich. »Ich will doch arbeiten! Und der Goebbels hindert mich zu Unrecht daran!«
»Ja«, sagte der Anwalt. »Ja!« Und schwieg wieder. Als aber Harteisen ihn so erwartungsvoll ansah, fuhr er fort: »Du bist ein Kind, Max, ein richtiges groß gewordenes Kind!«
Der Schauspieler, der stets viel von seiner Weltläufigkeit gehalten hatte, warf unmutig den Kopf zurück.
»Wir sind ja hier unter uns, Max«, fuhr der Anwalt fort, »diese Tür ist gut gepolstert, wir können also offen miteinander sprechen. Du wusstest es doch eigentlich auch, wenigstens ein ganz klein bisschen, wie viel schreiendes, blutiges, herzzerreißendes Unrecht heute in Deutschland geschieht – und kein Hahn kräht danach. Im Gegenteil, sie rühmen sich noch laut ihrer Schande. Aber weil der Schauspieler Harteisen ein ganz kleines Wehwehchen hat, entdeckt er plötzlich, dass Unrecht in der Welt geschieht, und schreit nach Gerechtigkeit. Max!«
Harteisen sagte niedergedrückt: »Aber was soll ich denn tun, Erwin? Es muss doch etwas geschehen!«
»Was du tun sollst? Nun, das ist doch ganz klar! Du ziehst dich mit deiner Frau an einen hübschen Ort auf dem Lande zurück und hältst dich fein stille. Vor allem hörst du mit diesem unsinnigen Gerede über ›deinen‹ Minister auf und unterlässt die Verbreitung des Göring-Interviews. Sonst kann es geschehen, dass dir der Minister noch etwas ganz anderes antut.«
»Aber wie lange soll ich denn da tatenlos auf dem Lande sitzen?«
»Die Launen eines Ministers kommen und gehen. Sie gehen auch, Max, sei sicher. Eines Tages wirst du wieder in Glanz und floribus sein.«
Der Schauspieler schauderte. »Nicht das!«, bat er. »Nur nicht das!« Er stand auf. »Und du meinst wirklich nicht, dass du in meiner Sache etwas tun kannst?«
»Nicht das Geringste!«, meinte der Anwalt lächelnd. »Es sei denn, du hättest den Wunsch, als Märtyrer für deinen Minister ins KZ zu gehen.«
Drei Minuten darauf stand der Schauspieler Max Harteisen im Treppenhaus des Bürogebäudes und hielt verwirrt eine Karte in der Hand: »Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet …«
Um des Himmels willen!, dachte er. Welcher Mensch schreibt denn so was? Er muss wahnsinnig sein! Er schreibt sich ja um seinen Kopf! Unwillkürlich drehte er die Karte um. Aber dort stand kein Absender oder Empfänger, sondern: »Gebt diese Karte weiter, dass viele sie lesen! – Stiftet nichts für das Winterhilfswerk! – Arbeitet langsam, noch langsamer! Tut Sand in die Maschinen! Jeder Handschlag weniger getan, hilft diesen Krieg früher beenden!«
Der Schauspieler sah hoch. Lichterglänzend fuhr der Fahrstuhl an ihm vorbei. Er hatte das Gefühl, dass viele Augen auf ihn sahen.
Rasch steckte er die Karte in die Tasche, und rascher noch riss er sie wieder hervor. Er wollte sie schon auf die Fensterbank zurücklegen – und Bedenken überkamen ihn. Vielleicht hatten ihn die vom Fahrstuhl aus hier stehen sehen, die Karte in der Hand – und sein Gesicht kannten viele. Die Karte wurde gefunden, es fanden sich welche, die beeideten, er habe sie hingelegt. Er hatte sie ja wirklich hingelegt, wieder hingelegt, hieß das. Aber wer würde ihm glauben, grade jetzt, wo er diesen Streit mit dem Minister hatte? Er hatte so viel Butter auf dem Kopfe, und nun dies noch!
Schweiß trat auf seine Stirne, plötzlich begriff er, dass nicht nur der Kartenschreiber, dass auch er in naher Lebensgefahr war, er vielleicht am meisten. Seine Hand zuckte; er wollte die Karte hinlegen, er wollte sie doch lieber fortnehmen, er wollte sie zerreißen, hier an Ort und Stelle … Aber vielleicht stand einer oben auf der Treppe und beobachtete ihn? Er hatte in den letzten Tagen schon ein paarmal das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, er hatte es für Nervosität gehalten, wegen dieser Gehässigkeit von Minister Goebbels …
Und vielleicht war das Ganze eine Falle dieses Mannes, für ihn zurechtgebaut, dass er sich ganz gründlich fing? Um aller Welt zu beweisen, wie recht der Minister mit der Beurteilung des Schauspielers Harteisen hatte? O Gott, er war ja schon wahnsinnig, er sah Gespenster! Das tat doch ein Minister nicht! Oder tat er grade das?
Aber er konnte hier nicht ewig stehen bleiben. Er musste sich entschließen; er hatte jetzt keine Zeit, an Goebbels zu denken, er musste nur an sich denken!
Er stürmt die halbe Treppe wieder hinauf, niemand steht dort und beobachtet ihn. Aber er klingelt schon beim Rechtsanwalt Toll. Er stürmt an der Vorzimmerdame vorbei, er knallt die Karte auf den Tisch des Anwalts, er ruft: »Da! Was ich hier eben im Treppenhaus gefunden habe!«
Der Anwalt wirft nur einen kurzen Blick auf die Karte. Dann steht er auf und schließt sorgfältig die Doppeltür seines Büros, die der Aufgeregte offengelassen hat. Er kehrt zu seinem Schreibtischplatz zurück. Er nimmt die Karte wieder auf und liest sie lange und sorgfältig, während Harteisen auf und ab läuft und ungeduldig Blicke auf ihn wirft.
Jetzt lässt Toll die Karte sinken und fragt: »Wo, sagtest du, hast du die Karte gefunden?«
»Hier auf der Treppe, eine halbe Treppe tiefer.«
»Auf der Treppe! Auf den Stufen also?«
»Sei nicht so wortklauberisch, Erwin! Nein, nicht auf den Stufen, sondern auf der Fensterbank!«
»Und darf ich dich fragen, warum du mir dieses reizende Angebinde auf mein Büro schleppen musstest?«
Die Stimme des Anwalts klingt schärfer, der Schauspieler sagt bittend: »Aber was sollte ich denn tun? Die Karte lag da, ich habe sie ganz gedankenlos aufgenommen.«
»Und warum hast du sie nicht wieder zurückgelegt? Das wäre doch das Selbstverständlichste gewesen!«
»Ein Fahrstuhl fuhr an mir vorbei, während ich las. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Mein Gesicht ist so bekannt.«
»Noch besser!«, sagte der Anwalt bitter. »Und dann bist du vermutlich mit dieser Karte offen in der Hand zu mir gelaufen?« Der Schauspieler nickte düster. »Nein, mein Freund«, sagte Toll entschlossen und hielt ihm die Karte wieder hin, »bitte, nimm sie wieder. Ich will damit nichts zu schaffen haben. Wohlgemerkt, du kannst dich nicht auf mich berufen. Ich habe diese Karte nie gesehen. Nimm sie doch endlich wieder!«
Harteisen starrte den Freund mit blassem Gesicht an. »Ich denke«, sagte er dann, »du bist nicht nur mein Freund, du bist auch mein Anwalt, du nimmst meine Interessen wahr!«
»Nicht dies, oder sagen wir besser: nicht mehr. Du bist ein Unglückshuhn, du hast ein unglaubliches Talent, in die schlimmsten Geschichten zu tappen. Du wirst auch andere ins Unglück reißen. Also nimm endlich deine Karte zurück!«
Er bot sie ihm wieder an.
Aber Harteisen stand noch immer da, mit weißem Gesicht, die Hände in die Taschen gebohrt.
Nach einem langen Schweigen sagte er leise: »Ich traue mich nicht. Ich habe in den letzten Tagen schon mehrfach das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Tu mir den Gefallen und zerreiß die Karte. Wirf sie unter das andere Zeug in deinem Papierkorb!«
»Zu gefährlich, mein Lieber! Der Bürobote oder eine schnüffelnde Reinmachefrau, und ich säße drin!«
»Verbrenne sie!«
»Du vergisst, dass wir hier Zentralheizung haben!«
»Nimm ein Streichholz, verbrenne sie über deinem Aschenbecher. Niemand würde es wissen.«
»Du würdest es wissen.«
Mit blassen Gesichtern starrten sie sich an. Sie waren alte Freunde, schon seit der Schulzeit, aber nun war die Angst zwischen sie gekommen, und die Angst hatte das Misstrauen mit sich gebracht. Sie sahen einander stumm an.
Er ist ein Schauspieler, dachte der Anwalt. Vielleicht hat er mir hier was vorgespielt, will mich hineinreißen. Kommt im Auftrag, meine Zuverlässigkeit auf die Probe zu stellen. Neulich, bei dieser unglückseligen Verteidigung vor dem Volksgerichtshof, bin ich mit knapper Not noch durchgekommen. Aber seitdem wird mir misstraut …
Inwiefern ist Erwin eigentlich mein Anwalt?, dachte unterdes finster der Schauspieler. In der Sache mit dem Minister will er mir nicht helfen, und jetzt will er sogar gegen die Wahrheit aussagen, er hätte die Karte nie gesehen. Er nimmt nicht meine Interessen wahr. Er handelt gegen mich. Wer weiß, ob nicht diese Karte – überall hört man von Fallen, die den Leuten gestellt werden. Aber Unsinn, er ist immer mein Freund gewesen, ein zuverlässiger Mensch …
Und beide besannen sich, beide sahen sich an. Beide fingen an zu lächeln.
»Wir sind wahnsinnig gewesen, wir haben einander misstraut!«
»Wir, die wir uns über zwanzig Jahre kennen!«
»Die ganze Penne miteinander!«
»Ja, wir haben es herrlich weit gebracht!«
»Wie stehen wir da? Der Sohn verrät die Mutter, die Schwester den Bruder, der Freund die Freundin …«
»Aber wir uns nicht!«
»Wir wollen über�