Hans Fallada – Gesammelte Werke

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18. Die erste Karte wird geschrieben

Der Rest der Wo­che ver­lief ohne alle be­son­de­ren Er­eig­nis­se, und so kam der Sonn­tag wie­der her­an, die­ser Sonn­tag, von dem sich Anna Quan­gel end­lich die so sehn­lich er­war­te­te und so lan­ge auf­ge­scho­be­ne Auss­pra­che mit Otto über sei­ne Plä­ne er­war­te­te. Er war erst spät auf­ge­stan­den, aber er war gu­ter Stim­mung und nicht ru­he­los. Manch­mal sah sie ihn beim Kaf­fee­trin­ken rasch von der Sei­te an, ein we­nig auf­mun­ternd, aber er schi­en das nicht zu mer­ken, er aß, lang­sam kau­end, sein Brot und rühr­te da­bei in sei­nem Kaf­fee.

Nur schwer konn­te sich Anna ent­schlie­ßen, das Ge­schirr fort­zuräu­men. Aber dies­mal war es wirk­lich nicht an ihr, das ers­te Wort zu spre­chen. Er hat­te ihr für den Sonn­tag die­se Auss­pra­che zu­ge­sagt, und er wür­de schon sein Wort hal­ten, jede Auf­for­de­rung von ihr hät­te wie ein Drän­gen aus­ge­se­hen.

So stand sie mit ei­nem ganz lei­sen Seuf­zer auf und trug die Tas­sen und die Tel­ler in die Kü­che. Als sie zu­rück­kam, um den Brot­korb und die Kan­ne zu ho­len, knie­te er vor ei­nem Schub­fach der Kom­mo­de und kram­te dar­in her­um. Anna Quan­gel konn­te sich nicht er­in­nern, was ei­gent­lich in die­sem Schub­fach lag. Es konn­te nur al­ter, längst ver­ges­se­ner Schraps sein. »Suchst du was Be­stimm­tes, Otto?«, frag­te sie mit ei­nem al­ten Ber­li­ner Witz.

Aber er gab nur einen Knurr­laut von sich, so zog sie sich tief in die Kü­che zu­rück, um ab­zu­wa­schen und das Es­sen vor­zu­be­rei­ten. Er woll­te nicht. Er woll­te also wie­der nicht! Und mehr denn je war sie der Über­zeu­gung, dass sich et­was in ihm vor­be­rei­te­te, von dem sie im­mer noch nichts wuss­te und das sie doch wis­sen muss­te!

Spä­ter, als sie wie­der in die Stu­be her­ein­kam, um sich beim Kar­tof­fel­schä­len in sei­ne Nähe zu set­zen, fand sie ihn an dem sei­ner De­cke be­raub­ten Tisch, die Plat­te lag vol­ler Schnitz­mes­ser, und klei­ne Spä­ne be­deck­ten be­reits den Bo­den um ihn. »Was tust du denn, Otto?«, frag­te sie maß­los er­staunt.

»Mal se­hen, ob ich noch schnit­zen kann«, gab er zu­rück.

Sie war maß­los ent­täuscht und auch ein we­nig ge­reizt. Wenn Otto auch kein großer Ken­ner der Men­schen­see­le war, eine klei­ne Ah­nung muss­te er doch da­von ha­ben, wie es in ihr aus­sah, mit wel­cher Span­nung sie jede Mit­tei­lung von ihm er­war­te­te. Und nun hat­te er sei­ne Schnitz­mes­ser aus ih­ren ers­ten Ehe­jah­ren her­vor­ge­sucht und schnip­pel­te am Holz her­um ganz wie da­mals, als er sie durch sein ewi­ges Schwei­gen zur Verzweif­lung brach­te. Da­mals war sie sei­ne Wort­karg­heit noch nicht so ge­wohnt ge­we­sen wie heu­te, aber heu­te, gra­de heu­te, da sie sie ge­wohnt war, schi­en sie ihr völ­lig un­er­träg­lich. Schnit­zen, du lie­ber Gott, wenn das al­les war, was die­sem Mann nach sol­chen Er­leb­nis­sen ein­fiel! Wenn er sich mit stun­den­lan­ger schwei­gen­der Schnitz­kunst sei­ne so ei­fer­süch­tig ge­hü­te­te Stil­le wie­der­ho­len woll­te – nein, das wür­de eine schwe­re Ent­täu­schung für sie be­deu­ten. Er hat­te sie schon oft schwer ent­täuscht, aber dies­mal wür­de sie das nicht so still­schwei­gend an­se­hen kön­nen.

Wäh­rend sie die­ses al­les sehr un­ru­hig und ver­zwei­felt über­dach­te, sah sie doch mit hal­ber Neu­gier auf das läng­li­che, di­cke Holz­stück, das er nach­denk­lich zwi­schen sei­nen großen Hän­den dreh­te, von dem er nach­denk­lich mit sei­nem Mes­ser dann und wann einen stär­ke­ren Span ab­nahm. Nein, eine Wä­sche­tru­he wur­de das dies­mal nicht, so viel stand fest.

»Was wird denn das, Otto?«, frag­te sie halb un­wil­lig. Ihr war der selt­sa­me Ge­dan­ke ge­kom­men, dass er da ir­gend­ein Werk­stück schnitz­te, viel­leicht einen Teil ei­nes Bom­ben­zün­ders. Aber so was auch nur zu den­ken, war Un­sinn – was hat­te Otto mit Bom­ben zu tun?! Au­ßer­dem konn­te man wahr­schein­lich Holz bei Bom­ben gar nicht ver­wen­den. »Was wird denn das, Otto?«, hat­te sie also halb wi­der­wil­lig ge­fragt.

Erst schi­en er wie­der nur mit ei­nem Knur­ren ant­wor­ten zu wol­len, aber viel­leicht fiel ihm ein, dass er die­sen Mor­gen sei­ner Anna schon ein biss­chen viel zu­ge­mu­tet hat­te, viel­leicht war er aber auch ein­fach be­reit, Aus­kunft zu ge­ben. »Kopf«, sag­te er. »Will mal se­hen, ob ich noch einen Kopf schnit­zen kann. Habe frü­her viel Pfei­fen­köp­fe ge­schnitzt.«

Und er dreh­te und schnip­pel­te wei­ter.

Pfei­fen­köp­fe! Anna stieß einen em­pör­ten Laut aus. Sie sag­te jetzt doch sehr är­ger­lich: »Pfei­fen­köp­fe! Aber Otto! Be­sinn dich! Die Welt stürzt ein, und du denkst an Pfei­fen­köp­fe! Wenn ich bloß so was höre!«

Er schi­en we­der auf ih­ren Är­ger noch auf ihre Wor­te groß zu ach­ten. Er sag­te: »Das wird na­tür­lich kein Pfei­fen­kopf. Ich will mal se­hen, ob ich un­ser Ot­to­chen ein biss­chen zu­recht­schnit­zen kann, wie er aus­ge­se­hen hat!«

So­fort schlug ihre Stim­mung um. Also an Ot­to­chen dach­te er, und wenn er an Ot­to­chen dach­te und sei­nen Kopf schnit­zen woll­te, so dach­te er auch an sie und woll­te ihr eine Freu­de da­mit ma­chen. Sie stand von ih­rem Stuh­le auf und sag­te, has­tig die Kar­tof­fel­schüs­sel ab­set­zend: »War­te, Otto, ich hole dir die Bil­der, da­mit du auch weißt, wie Ot­to­chen wirk­lich aus­ge­se­hen hat.«

Er schüt­tel­te ab­leh­nend den Kopf. »Ich will kei­ne Bil­der se­hen«, sag­te er. »Ich will den Otto schnit­zen, wie ich ihn hier in mir drin habe.« Er tipp­te ge­gen sei­ne hohe Stirn. Und nach ei­ner Pau­se setz­te er noch hin­zu: »Wenn ich’s kann!«

Nun war sie wie­der ge­rührt. Ot­to­chen war also auch in ihm, er hat­te ein fes­tes Bild von dem Jun­gen. Jetzt war sie neu­gie­rig, wie die­ser Kopf aus­se­hen wür­de, wenn er erst fer­tig war. »Si­cher bringst du es fer­tig, Otto!«, sag­te sie.

»Na!«, sag­te er nur, aber es klang nicht ein­mal so zwei­felnd wie zu­stim­mend.

Da­mit war die Un­ter­hal­tung zwi­schen den bei­den erst ein­mal be­en­det. Anna muss­te in die Kü­che zu­rück zu ih­rem Mit­ta­ges­sen, und sie ließ ihn da am Tisch, wie er lang­sam die­sen Klotz Lin­den­holz zwi­schen sei­nen Fin­gern dreh­te und mit ei­ner stil­len, be­hut­sa­men Ge­duld Spän­chen auf Spän­chen von ihm ab­nahm.

Sie war dann aber doch sehr über­rascht, als sie kurz vor dem Mit­ta­ges­sen zu­rück­kam, um den Tisch zu de­cken, die­sen Tisch schon auf­ge­räumt und mit sei­ner De­cke ge­schmückt zu fin­den. Quan­gel stand am Fens­ter und sah in die Ja­blons­ki­stra­ße hin­un­ter, wo die spie­len­den Kin­der lärm­ten.

»Na, Otto?«, frag­te sie. »Schon fer­tig mit der Schnit­ze­rei?«

»Für heu­te ist Fei­er­abend«, ant­wor­te­te er, und im sel­ben Au­gen­blick wuss­te sie, dass die­se Un­ter­re­dung nun doch ganz nahe be­vor­stand, dass Otto doch et­was vor­hat­te, die­ser un­be­greif­lich be­harr­li­che Mann, den nichts dazu brin­gen konn­te, et­was über­eilt zu tun, der stets auf die rich­ti­ge Stun­de war­ten konn­te.

Das Mit­ta­ges­sen ver­zehr­ten sie schwei­gend. Dann ging sie wie­der in die Kü­che, um dort Ord­nung zu schaf­fen, und sie ver­ließ ihn, in sei­ner So­fae­cke hockend, starr vor sich hin se­hend.

Als sie, eine hal­be Stun­de spä­ter, wie­der zu­rück­kam, saß er noch im­mer so da. Aber jetzt woll­te sie nicht noch län­ger war­ten, bis er sich end­lich ent­schloss; sei­ne Ge­duld, die ei­ge­ne Un­ge­duld mach­ten sie zu un­ru­hig. Wo­mög­lich saß er um vier noch so da, und nach dem Abendes­sen auch noch! Sie konn­te nicht mehr län­ger war­ten!

»Nun, Otto«, frag­te sie. »Was gib­t’s? Ist heu­te kein Nach­mit­tags­schlaf wie alle Sonn­ta­ge?«

»Heu­te ist nicht alle Sonn­ta­ge. Mit ›al­le Sonn­ta­ge‹ ist es end­gül­tig vor­bei.« Er stand plötz­lich auf und ging aus der Stu­be.

Aber heu­te war sie nicht ge­son­nen, ihn ein­fach wie­der fort­lau­fen zu las­sen, auf einen sei­ner ge­heim­nis­vol­len Gän­ge, von de­nen sie doch nie et­was er­fuhr. Sie lief ihm nach. »Nein, Otto …«, fing sie an.

Er stand an der Et­agen­tür, de­ren Ket­te er eben vor­ge­legt hat­te. Er hat­te die Hand er­ho­ben, um Stil­le zu ge­bie­ten, und lausch­te in das Haus hin­aus. Dann nick­te er und ging an ihr vor­bei wie­der in die Stu­be. Als sie zu ihm kam, hat­te er sei­nen Sofa­platz wie­der ein­ge­nom­men, sie setz­te sich zu ihm.

»Wenn’s klin­gelt, Anna«, sag­te er, »machst du nicht eher auf, als bis ich …«

»Wer soll denn klin­geln, Otto?«, frag­te sie un­ge­dul­dig. »Wer soll denn zu uns kom­men? Nun sage schon, was du sa­gen willst!«

»Ich werd’s schon sa­gen, Anna«, ant­wor­te­te er mit un­ge­wohn­ter Mil­de. »Aber wenn du mich drän­gelst, machst du es mir nur noch schwe­rer.«

Sie be­rühr­te schnell sei­ne Hand, die Hand die­ses Man­nes, dem jede Mit­tei­lung des­sen, was in sei­nem In­nern vor­ging, im­mer wie­der schwer­fiel. »Ich wer­de dich schon nicht drän­geln, Otto«, sag­te sie be­ru­hi­gend. »Lass dir Zeit!«

Aber gleich dar­auf be­gann er zu spre­chen, und nun sprach er fast fünf Mi­nu­ten hin­ter­ein­an­der, in lang­sa­men, kurz ab­ge­ris­se­nen, sehr über­leg­ten Sät­zen, hin­ter de­ren je­dem er erst ein­mal fest den schmal­lip­pi­gen Mund schloss, als kom­me nun be­stimmt nichts mehr. Und wäh­rend er so sprach, hat­te er den Blick auf et­was ge­rich­tet, was seit­lich hin­ter Anna in der Stu­be war.

Anna Quan­gel aber hielt die Au­gen wäh­rend sei­nes Spre­chens fest auf sein Ge­sicht ge­wen­det, und sie war ihm fast dank­bar, dass er sie nicht an­sah, so schwer wur­de es ihr, die Ent­täu­schung, die sich im­mer stär­ker ih­rer be­mäch­tig­te, zu ver­ber­gen. Mein Gott, was hat­te sich die­ser Mann da aus­ge­dacht! Sie hat­te an große Ta­ten ge­dacht (und sich ei­gent­lich auch vor ih­nen ge­fürch­tet), an ein At­ten­tat auf den Füh­rer, zum min­des­ten aber an einen tä­ti­gen Kampf ge­gen die Bon­zen und die Par­tei.

 

Und was woll­te er tun? Gar nichts, et­was lä­cher­lich Klei­nes, so et­was, das so ganz in sei­ner Art lag, et­was Stil­les, Ab­sei­ti­ges, das ihm sei­ne Ruhe be­wahr­te. Kar­ten woll­te er schrei­ben, Post­kar­ten mit Auf­ru­fen ge­gen den Füh­rer und die Par­tei, ge­gen den Krieg, zur Auf­klä­rung sei­ner Mit­menschen, das war al­les. Und die­se Kar­ten woll­te er nun nicht etwa an be­stimm­te Men­schen sen­den oder als Pla­ka­te an die Wän­de kle­ben, nein, er woll­te sie nur auf den Trep­pen sehr be­gan­ge­ner Häu­ser nie­der­le­gen, sie dort ih­rem Schick­sal über­las­sen, ganz un­be­stimmt, wer sie auf­nahm, ob sie nicht gleich zer­tre­ten wur­den, zer­ris­sen … Al­les in ihr em­pör­te sich ge­gen die­sen ge­fahr­lo­sen Krieg aus dem Dun­keln. Sie woll­te tä­tig sein, es muss­te et­was ge­tan wer­den, von dem man eine Wir­kung sah!

Quan­gel aber, nach­dem er zu Ende ge­re­det hat­te, schi­en gar kei­ne Er­wi­de­rung von sei­ner Frau zu er­war­ten, die da still mit sich kämp­fend in ih­rer So­fae­cke saß. Soll­te sie ihm nicht doch lie­ber et­was sa­gen?

Er war auf­ge­stan­den und wie­der zum Lau­schen an die Fl­ur­tür ge­gan­gen. Als er zu­rück­kam, nahm er nur die De­cke vom Tisch, fal­te­te sie zu­sam­men und häng­te sie sorg­fäl­tig über die Stuhl­leh­ne. Dann ging er an den al­ten Ma­ha­go­ni­se­kre­tär, such­te das Schlüs­sel­bund aus sei­ner Ta­sche her­vor und schloss auf.

Wäh­rend er noch im Schran­ke kram­te, ent­schloss sich Anna. Zö­gernd sag­te sie: »Ist das nicht ein biss­chen we­nig, was du da tun willst, Otto?«

Er hielt inne in sei­ner Kra­me­rei, noch ge­bückt dort ste­hend, dreh­te er den Kopf sei­ner Frau zu. »Ob we­nig oder viel, Anna«, sag­te er, »wenn sie uns dar­auf kom­men, wird es uns un­sern Kopf kos­ten …«

Es lag et­was so schreck­lich Über­zeu­gen­des in die­sen Wor­ten, in dem dunklen, un­er­gründ­li­chen Vo­gelblick, mit dem der Mann sie in die­ser Mi­nu­te an­sah, dass sie zu­sam­men­schau­der­te. Und einen Au­gen­blick sah sie deut­lich vor sich den grau­en, stei­ner­nen Ge­fäng­nis­hof, das Fall­beil auf­ge­rich­tet, in dem grau­en Früh­licht hat­te sein Stahl nichts Glän­zen­des, es war wie eine stum­me Dro­hung.

Anna Quan­gel spür­te, dass sie zit­ter­te. Dann sah sie rasch wie­der zu Otto hin­über. Er hat­te viel­leicht recht, ob we­nig oder viel, nie­mand konn­te mehr als sein Le­ben wa­gen. Je­der nach sei­nen Kräf­ten und An­la­gen – die Haupt­sa­che: man wi­der­stand.

Noch im­mer sah Quan­gel sie stumm an, als be­ob­ach­te er den Kampf, den sie in sich kämpf­te. Nun wur­de sein Blick hel­ler, er nahm die Hän­de aus dem Se­kre­tär, rich­te­te sich auf und sag­te fast lä­chelnd: »Aber so leicht sol­len die uns nicht krie­gen! Wenn die schlau sind, wir kön­nen auch schlau sein. Schlau und vor­sich­tig. Vor­sich­tig, Anna, im­mer auf der Hut – je län­ger wir kämp­fen, umso län­ger wer­den wir wir­ken. Es nützt nichts, zu früh zu ster­ben. Wir wol­len le­ben, es noch er­le­ben, dass die fal­len. Wir wol­len dann sa­gen kön­nen, wir sind auch da­bei ge­we­sen, Anna!«

Er hat­te die­se Wor­te leicht, fast scher­zend ge­spro­chen. Nun, wäh­rend er wie­der kram­te, lehn­te sich Anna er­leich­tert in das Sofa zu­rück. Eine Last war ihr ab­ge­nom­men, jetzt war sie auch da­von über­zeugt, dass Otto et­was Gro­ßes vor­hat­te.

Er trug sein Fläsch­chen Tin­te, sei­ne in ei­nem Um­schlag be­find­li­chen Post­kar­ten, die wei­ßen, rie­si­gen Hand­schu­he an den Tisch. Er zog den Pfrop­fen aus der Fla­sche, glüh­te mit ei­nem Streich­holz die Fe­der aus und steck­te sie in die Tin­te. Es zisch­te lei­se, er be­sah auf­merk­sam die Fe­der und nick­te dann. Nun zog er um­ständ­lich die Hand­schu­he an, nahm eine Kar­te aus dem Um­schlag, leg­te sie vor sich hin. Er nick­te Anna lang­sam zu. Sie hat­te je­den die­ser be­hut­sa­men, lan­ge vor­be­rei­te­ten Grif­fe mit auf­merk­sa­mem Auge ver­folgt. Nun deu­te­te er auf die Hand­schu­he und sag­te: »We­gen Fin­ger­ab­drücken – du ver­stehst!«

Dann nahm er die Fe­der zur Hand und sag­te lei­se, aber mit Nach­druck: »Der ers­te Satz un­se­rer ers­ten Kar­te wird lau­ten: ›Mut­ter! Der Füh­rer hat mir mei­nen Sohn er­mor­det‹ …«

Und wie­der er­schau­er­te sie. Es lag et­was so Un­heil­vol­les, so Düs­te­res, so Ent­schlos­se­nes in die­sen Wor­ten, die Otto eben ge­spro­chen hat­te. Sie be­griff in ei­nem Au­gen­blick, dass er mit die­sem ers­ten Satz für heu­te und ewig den Krieg an­ge­sagt hat­te, und sie er­fass­te auch dun­kel, was das hieß: Krieg zwi­schen ih­nen bei­den, den ar­men, klei­nen, be­deu­tungs­lo­sen Ar­bei­tern, die we­gen ei­nes Wor­tes für im­mer aus­ge­löscht wer­den konn­ten, und auf der an­de­ren Sei­te der Füh­rer, die Par­tei, die­ser gan­ze un­ge­heu­re Ap­pa­rat mit all sei­ner Macht und sei­nem Glanz und drei Vier­tel, ja vier Fünf­tel des gan­zen deut­schen Vol­kes da­hin­ter. Und sie bei­de hier in die­sem klei­nen Zim­mer in der Ja­blons­ki­stra­ße al­lein!

Sie sieht zu dem Man­ne hin­über. Wäh­rend sie dies al­les ge­dacht hat, ist er erst beim drit­ten Wort des ers­ten Sat­zes an­ge­kom­men. Unend­lich ge­dul­dig malt er das »F« von Füh­rer hin. »Lass mich doch schrei­ben, Otto!«, bit­tet sie. »Bei mir geht das viel schnel­ler!«

Erst knurrt er wie­der nur. Aber dann gibt er ihr doch eine Er­klä­rung. »Dei­ne Hand­schrift«, sagt er. »Sie wür­den uns frü­her oder spä­ter durch dei­ne Hand­schrift er­wi­schen. Dies ist eine Kunst­schrift, Block­schrift – du siehst, eine Art Druck­buch­sta­ben …«

Er ver­stummt wie­der, malt wei­ter. Ja, so hat er es sich aus­ge­dacht. Er glaubt nicht, dass er was ver­ges­sen hat. Die­se Kunst­schrift kann­te er von den Mö­bel­zeich­nun­gen der In­nen­ar­chi­tek­ten her, nie­mand kann ei­ner sol­chen Schrift an­se­hen, von wem sie stammt. Na­tür­lich fällt sie bei Otto Quan­gels schrei­bun­ge­wohn­ten Hän­den sehr grob und klo­big aus. Aber das scha­det nichts, das ver­rät ihn nicht. Es ist eher gut, so be­kommt die Kar­te et­was Pla­kat­ar­ti­ges, das so­fort das Auge auf sich zieht. Er malt ge­dul­dig wei­ter.

Und sie ist auch ge­dul­dig ge­wor­den. Sie fängt an, sich dar­ein­zu­den­ken, dass dies ein lan­ger Krieg wird. Es ist jetzt Ruhe in ihr, Otto hat al­les be­dacht, auf Otto ist Ver­lass, im­mer und im­mer. Wie er al­les über­legt hat! Die ers­te Kar­te in die­sem Krie­ge, sie hat im ge­fal­le­nen Soh­ne ih­ren Ur­sprung, sie spricht von ihm. Ein­mal hat­ten sie einen Sohn, der Füh­rer hat ihn er­mor­det, jetzt schrei­ben sie Kar­ten. Ein neu­er Le­bens­ab­schnitt. Äu­ßer­lich hat sich nichts ge­än­dert. Ruhe um die Quan­gels. In­ner­lich ist al­les ganz an­ders ge­wor­den, da ist Krieg …

Sie holt sich ih­ren Stopf­korb und fängt an, St­rümp­fe zu stop­fen. Ab und zu sieht sie zu Otto hin­über, der lang­sam, ohne je das Tem­po zu be­schleu­ni­gen, sei­ne Buch­sta­ben malt. Fast nach je­dem Buch­sta­ben hält er die Kar­te in Ar­mes­län­ge vor sich und be­trach­tet sie mit ein­ge­knif­fe­nen Au­gen. Dann nickt er.

Schließ­lich zeigt er ihr die­sen ers­ten fer­ti­gen Satz. Er nimmt an­dert­halb sehr große Zei­len der Kar­te ein.

Sie sagt: »Du wirst nicht viel her­auf­be­kom­men auf so eine Kar­te!«

Er ant­wor­tet: »Ganz egal! Ich wer­de noch vie­le sol­che Kar­ten schrei­ben!«

»Und sol­che Kar­te dau­ert lan­ge.«

»Ich wer­de eine, spä­ter viel­leicht zwei Kar­ten an ei­nem Sonn­tag schrei­ben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, das Mor­den geht im­mer wei­ter.«

Er ist nicht zu er­schüt­tern. Er hat einen Ent­schluss ge­fasst, und er wird nach die­sem Ent­schluss han­deln. Nichts kann ihn um­sto­ßen, nie­mand wird Otto Quan­gel auf sei­nem Wege Halt ge­bie­ten.

Er sagt: »Der zwei­te Satz: ›Mut­ter! Der Füh­rer wird auch dei­ne Söh­ne er­mor­den, er wird noch nicht auf­hö­ren, wenn er Trau­er in je­des Haus auf der Welt ge­bracht hat‹ …«

Sie wie­der­holt: »Mut­ter, der Füh­rer wird auch dei­ne Söh­ne er­mor­den!«

Sie denkt an die Vor­stands­da­me in der Frau­en­schaft, an die Weiß­haa­ri­ge mit dem Mut­ter­kreuz, die ihr ge­sagt hat, man sol­le eben nicht nur einen Sohn, man sol­le vie­le Söh­ne ha­ben. Sie hat­te die hef­ti­ge Ant­wort auf den Lip­pen ge­habt: ›Da­mit mir das Herz Stück um Stück zer­ris­sen wird, nicht wahr? Nein, lie­ber will ich al­les auf ein­mal ver­lie­ren.‹ Sie hat die­se Ant­wort un­ter­drückt, jetzt gibt Otto sie: ›Mut­ter! Der Füh­rer wird auch dei­ne Söh­ne er­mor­den!‹

Sie nickt, sie sagt: »Das schreib!« Sie über­legt: »Man müss­te die­se Kar­te dort­hin le­gen, wo­hin Frau­en kom­men!«

Er denkt nach, dann schüt­telt er den Kopf: »Nein. Bei Frau­en, die einen Schreck be­kom­men, weiß man nie, was sie tun. Ein Mann wird sol­che Kar­te schnell in die Ta­sche ste­cken, auf der Trep­pe. Spä­ter wird er sie dann gründ­lich le­sen. Au­ßer­dem: alle Män­ner sind Söh­ne von Müt­tern.«

Er schweigt wie­der, er fängt von Neu­em mit Ma­len an. Der Nach­mit­tag ver­geht, sie den­ken nicht an das Ve­s­per­brot. Schließ­lich, der Abend ist da, wird auch die Kar­te fer­tig. Er steht auf. Er sieht sie noch ein­mal an.

»So!«, sagt er. »Das wäre ge­schafft. Nächs­ten Sonn­tag die zwei­te.«

Sie nickt.

»Wann trägst du sie weg?«, flüs­tert sie.

Er sieht sie an. »Mor­gen Vor­mit­tag.«

Sie bit­tet: »Lass mich da­bei sein, die­ses ers­te Mal!«

Er schüt­telt den Kopf. »Nein«, sagt er. »Gra­de das ers­te Mal nicht. Ich muss erst se­hen, wie das läuft.«

»Doch!«, bit­tet sie. »Es ist mei­ne Kar­te! Es ist die Kar­te von der Mut­ter!«

»Gut!«, ent­schei­det er. »Komm mit. Aber nur bis ans Haus. Drin­nen will ich al­lein sein.«

»Es ist recht.«

Dann ist die Kar­te vor­sich­tig in ein Buch ge­scho­ben, das Schreib­zeug ver­wahrt, die Hand­schu­he in sei­ne Jop­pe ge­steckt.

Sie es­sen zu Abend, sie spre­chen kaum. Aber sie mer­ken gar nicht, dass sie so schweig­sam sind, auch Anna nicht. Bei­de sind müde, ganz als hät­ten sie eine schwe­re Ar­beit hin­ter sich oder als sei eine wei­te Rei­se ge­tan.

Er sagt, vom Es­sen auf­ste­hend: »Ich lege mich dann gleich hin.«

Und sie: »Ich mach bloß noch die Kü­che. Dann komm ich auch. Gott, wie müde ich bin, und wir ha­ben doch nichts ge­tan!«

Er sieht sie mit ei­nem hal­b­en Lä­cheln an, dann geht er schnell in die Schlaf­stu­be und fängt an, sich aus­zu­zie­hen.

Aber dann, als sie bei­de lie­gen, als es dun­kel ist, kön­nen sie bei­de nicht ein­schla­fen. Sie wäl­zen sich hin und her, sie hor­chen auf den Atem des an­de­ren, und schließ­lich fan­gen sie an zu re­den. In der Dun­kel­heit spricht es sich bes­ser.

»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit un­sern Kar­ten ge­schieht?«

»Alle wer­den zu­erst einen Schreck be­kom­men, wenn sie die­se Kar­ten da­lie­gen se­hen und die ers­ten Wor­te le­sen. Alle ha­ben doch heu­te Angst.«

»Ja«, sagt sie. »Alle …«

Aber sie nimmt sie bei­de, die Quan­gels, aus. Fast alle ha­ben Angst, denkt sie. Wir nicht.

»Die Fin­der«, wie­der­holt er hun­dert­mal Durch­dach­tes, »wer­den Angst ha­ben, dass sie auf der Trep­pe be­ob­ach­tet wor­den sind. Sie wer­den die Kar­te schnell fort­ste­cken und weg­lau­fen. Oder sie le­gen sie auch wie­der hin und ver­drücken sich, und der Nächs­te kommt …«

»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Trep­pen­haus vor sich, ir­gend solch ein Ber­li­ner Trep­pen­haus, schlecht be­leuch­tet, und je­der, der eine sol­che Kar­te in der Hand hat, wird sich plötz­lich füh­len, als sei er ein Ver­bre­cher. Weil ei­gent­lich je­der denkt wie die­ser Kar­ten­schrei­ber und doch nicht so den­ken darf, weil Tod auf sol­chem Den­ken steht …

»Man­che«, fährt Quan­gel fort, »wer­den die Kar­te auch so­fort ab­ge­ben, an den Block­wart oder die Po­li­zei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Par­tei oder nicht, ob Po­li­ti­scher Lei­ter oder Po­li­zist, sie alle wer­den die Kar­te le­sen, sie wird Wir­kung in ih­nen tun. Und wenn sie nur die eine Wir­kung tut, dass sie wie­der ein­mal er­fah­ren, es ist noch Wi­der­stand da, nicht alle fol­gen die­sem Füh­rer …«

»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«

»Und es wer­den mehr wer­den, Anna. Durch uns wer­den es mehr wer­den. Vi­el­leicht brin­gen wir an­de­re auf den Ge­dan­ken, sol­che Kar­ten zu schrei­ben, wie ich es tue. Schließ­lich wer­den Dut­zen­de, Hun­der­te sit­zen wie ich und schrei­ben. Wir wer­den Ber­lin mit die­sen Kar­ten über­schwem­men, wir wer­den den Gang der Ma­schi­nen hem­men, wir wer­den den Füh­rer stür­zen, den Krieg be­en­den …«

 

Er hält inne, be­stürzt von sei­nen ei­ge­nen Wor­ten, von die­sen Träu­men, die sein küh­les Herz so spät noch auf­su­chen.

Aber Anna Quan­gel sagt, be­geis­tert von die­ser Vi­si­on: »Und wir wer­den die Ers­ten ge­we­sen sein! Nie­mand wird es wis­sen, aber wir wis­sen es.«

Er sagt plötz­lich nüch­tern: »Vi­el­leicht den­ken schon vie­le so wie wir, Tau­sen­de von Män­nern müs­sen schon ge­fal­len sein. Vi­el­leicht gibt es schon sol­che Kar­ten­schrei­ber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«

»Ja«, sagt sie.

Und er, noch ein­mal hin­ge­ris­sen von den Aus­sich­ten des be­gon­ne­nen Un­ter­neh­mens: »Und wir wer­den die Po­li­zei in Gang set­zen, die Ge­sta­po, die SS, die SA. Über­all wird man von dem ge­heim­nis­vol­len Kar­ten­schrei­ber spre­chen, sie wer­den fahn­den, ver­däch­ti­gen, be­ob­ach­ten, Haus­su­chun­gen ma­chen – ver­geb­lich! Wir schrei­ben wei­ter, im­mer wei­ter!«

Und sie: »Vi­el­leicht wer­den sie dem Füh­rer selbst sol­che Kar­ten vor­le­gen – er selbst wird sie le­sen, wir kla­gen ihn an! Er wird to­ben! Er soll doch im­mer gleich to­ben, wenn was nicht nach sei­nem Wil­len geht. Er wird be­feh­len, uns zu fin­den, und sie wer­den uns nicht fin­den! Er wird wei­ter un­se­re An­kla­gen le­sen müs­sen!«

Sie schwei­gen bei­de, bei­de ge­blen­det von die­sem Aus­blick. Was wa­ren sie eben noch? Un­be­kann­te Exis­ten­zen; im großen, dunklen Ge­wim­mel hat­ten sie mit­ge­wim­melt. Und nun sind sie bei­de ganz al­lein, ge­trennt, er­ho­ben vor den an­de­ren, mit kei­nem von ih­nen zu ver­wech­seln. Es ist Ei­ses­käl­te um sie, so al­lein sind sie.

Und Quan­gel sieht sich in der Werk­statt ste­hen, wie im­mer im glei­chen Ge­trie­be, trei­bend und ge­trie­ben, den Kopf acht­sam, ruck­wei­se von Ma­schi­ne zu Ma­schi­ne ge­dreht. Für die wird er im­mer der olle doofe Quan­gel sein, nur von sei­ner Ar­beit und sei­nem schmut­zi­gen Geiz be­ses­sen. In sei­nem Kopf aber hat er Ge­dan­ken, wie sie kei­ner von ih­nen hat. Je­der von ih­nen wür­de vor Angst um­kom­men, wenn er sol­che Ge­dan­ken hät­te. Er aber, der duss­li­ge olle Quan­gel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.

Anna Quan­gel aber denkt jetzt an den Weg, den sie mor­gen bei­de ge­hen wer­den, die ers­te Kar­te fort­zu­brin­gen. Sie ist et­was un­zu­frie­den mit sich, dass sie nicht dar­auf be­stan­den hat, mit Quan­gel ins Haus hin­ein­zu­ge­hen. Sie über­legt, ob sie ihn nicht noch ein­mal dar­um bit­ten soll. Vi­el­leicht. Im All­ge­mei­nen ist Otto Quan­gel durch Bit­ten nicht um­zu­stim­men. Aber viel­leicht heu­te Abend, da er so un­ge­wöhn­lich hei­te­rer Lau­ne zu sein scheint? Vi­el­leicht gleich jetzt?

Aber es dau­ert zu lan­ge, bis sie sich ent­schlos­sen hat. Da merkt sie: Quan­gel ist schon ein­ge­schla­fen. So schickt auch sie sich an zu schla­fen, sie wird se­hen, ob es mor­gen passt. Wenn es passt, wird sie be­stimmt fra­gen.

Und dann schläft auch sie ein.