Ihre Benommenheit ist in einem langsamen, unaufhaltsamen Wachsen. Man kann nicht sagen, dass sie schläft, aber sie ist auch nicht wach. Wie sie die schwer gewordenen Glieder nur langsam und unbeholfen bewegen kann, weil sie wie taub sind, so ist auch ihr Gehirn wie taub. Es kommen Bilder wie Flocken und zerrinnen auch schon wieder, ehe sie sie noch recht deutlich sehen konnte. Sie sitzt in der Sofaecke, die Füße auf der verschmutzten Wäsche, sie sieht sich langsam und träge um. In der Hand hält sie noch immer die Schlüssel und das Saphirarmband, das ihr Siegfried zu Evas Geburt schenkte. Der Gewinn einer ganzen Weißen Woche … Sie lächelt ein bisschen.
Dann hört sie, wie die Flurtür vorsichtig geöffnet wird, und sie weiß: das ist Siegfried. Jetzt kommt er. Deswegen bin ich doch hier raufgegangen. Ich will ihm entgegengehen.
Aber sie bleibt sitzen, ein Lächeln ausgebreitet auf dem ganzen grauen Gesicht. Sie wird ihn hier so sitzend empfangen, als sei sie nie fort gewesen, habe immer hier, zu seinem Empfang, gesessen.
Dann geht endlich die Tür, und statt des erwarteten Siegfried stehen drei Männer in der Tür. Schon als sie unter den dreien eine verhasste braune Uniform sieht, weiß sie: das ist nicht Siegfried, Siegfried ist nicht dabei. Ein bisschen Angst will sich in ihr rühren, aber wirklich nur ein ganz klein bisschen. Nun ist es endlich soweit!
Langsam schwindet das Lächeln von ihrem Gesicht, das vom Grauen ins gelblich Grüne hinüberwechselt.
Die drei stehen jetzt direkt vor ihr. Sie hört, wie ein großer, schwerer Mann in schwarzem Paletot sagt: »Nicht besoffen, mein Junge. Wahrscheinlich schlafmittelvergiftet. Wir wollen schnell mal sehen, dass wir aus ihr rausquetschen, was zu holen ist. Hören Sie mal, Sie sind Frau Rosenthal?«
Sie nickt. »Jawohl, meine Herren, Lore oder richtiger Sara Rosenthal. Mein Mann sitzt in Moabit, zwei Söhne in den USA, eine Tochter in Dänemark, eine in England verheiratet …«
»Und wie viel Geld haben Sie denen geschickt?«, fragte der Kriminalkommissar Rusch schnell.
»Geld? Zu was denn Geld? Die haben doch alle Geld genug! Zu was soll ich denen noch Geld schicken?«
Sie nickt ernst. Ihre Kinder leben alle in guten Verhältnissen. Die könnten noch ohne Mühe die Eltern ernähren. Plötzlich fällt ihr etwas ein, was sie unbedingt diesen Herren noch sagen muss. »Es ist meine Schuld«, sagt sie unbeholfen mit schwerer Zunge, die immer schwerer zu sprechen, zu lallen anfängt, »es ist allein meine Schuld. Siegfried wollte längst aus Deutschland fort. Aber ich sagte ihm: ›Warum all die schönen Sachen, das gute Geschäft hier lassen, für einen Dreck verkaufen? Wir haben nie jemandem etwas getan, uns werden sie nichts tun.‹ Ich habe ihn überredet, sonst wären wir längst weg!«
»Und wo haben Sie Ihr Geld gelassen?«, fragte der Kommissar, ein wenig ungeduldiger.
»Das Geld?« Sie versucht, sich zu besinnen. Es war ja wirklich noch etwas da gewesen. Wo war es nur hingekommen? Aber das scharfe Nachdenken macht ihr Mühe, dafür fällt ihr etwas anderes ein. Sie hält das Saphirarmband dem Kommissar hin. »Da«, sagt sie einfach. »Da!«
Der Kommissar Rusch wirft einen raschen Blick darauf, dann sieht er sich nach seinen beiden Begleitern um, diesem zackigen HJ-Führer und nach seinem ständigen Gefolgsmann, dem Friedrich, einem dicken Klotz, anzusehen wie ein Scharfrichtergehilfe. Er sieht, dass die beiden ihn gespannt beobachten. So stößt er die Hand mit dem Armband ungeduldig beiseite, er packt die schwere Frau bei den Schultern und beutelt sie ordentlich durch. »Wachen Sie jetzt endlich auf, Frau Rosenthal!«, schreit er. »Ich befehle es Ihnen! Sie sollen aufwachen!«
Dann lässt er sie los: Ihr Kopf fällt hinten gegen die Sofalehne, der Körper sackt in sich zusammen – ihre Zunge lallt etwas Unverständliches. Dieses Mittel, sie wach zu machen, scheint nicht ganz richtig gewesen zu sein. Eine Weile betrachten die drei schweigend die alte Frau, wie sie da zusammengesunken hockt, das Bewusstsein scheint nicht in sie zurückzukehren.
Der Kommissar flüstert plötzlich ganz leise: »Nimm sie dir mal mit, da hinten in die Küche, und sieh, dass du sie wach kriegst!«
Der Henkersknecht Friedrich nickt nur. Er nimmt die schwere Frau wie ein Kind auf den Arm und steigt vorsichtig mit ihr über die am Boden liegenden Hindernisse fort.
Als er an der Tür ist, ruft der Kommissar noch: »Sieh, dass sie ruhig bleibt! Ich will keinen Krach haben am Sonntagmorgen in einem Mietshause! Sonst machen wir es in der Prinz-Albrecht-Straße.1 Ich nehme sie sowieso dahin mit.«
Die Tür klappt hinter den beiden, der Kommissar und der HJ-Führer sind allein.
Kommissar Rusch steht am Fenster und sieht auf die Straße. »Ruhige Straße das«, sagt er. »Richtiger Kinderspielplatz, wie?«
Baldur Persicke bestätigt, dass die Jablonskistraße eine ruhige Straße ist.
Der Kommissar ist ein bisschen nervös, nicht etwa wegen der Sache, die der Friedrich da mit der alten Jüdin in der Küche anstellt. I wo, solche Sachen und tollere noch entsprechen seinem Wesen. Rusch ist ein verkrachter Jurist, der den Weg zur Kriminalpolizei fand. Die gab ihn später an die Gestapo ab. Er tut gerne seinen Dienst. Er würde jeder Regierung gerne jeden Dienst getan haben, aber die zackigen Methoden dieser Regierung gefallen ihm besonders. »Bloß keine Gefühlsduselei«, sagt er manchmal zu einem Neuling. »Wir erfüllen unsere Pflicht nur dann, wenn wir unser Ziel erreichen. Der Weg dahin ist ganz egal.«
Nein, wegen der ollen Jüdin macht sich der Kommissar nicht die geringsten Gedanken, er ist wirklich frei von jeder Gefühlsduselei.
Aber dieser Junge, der HJ-Führer Persicke, passt ihm nicht recht in den Kram. Er hat Außenseiter nicht gerne bei so was, man weiß nie genau, wie sie’s aufnehmen. Freilich, dieser scheint die richtige Sorte, aber genau weiß man es immer erst nachher.
»Haben Sie gesehen, Herr Kommissar«, fragt Baldur Persicke eifrig – er will jetzt einfach nicht mehr nach der Küche hinhorchen, das ist deren Sache! »Haben Sie gesehen, sie trug keinen Judenstern?«
»Ich habe noch mehr gesehen«, sagt der Kommissar nachdenklich, »ich habe zum Beispiel gesehen, dass die Frau saubere Schuhe anhatte, und draußen ist Dreckwetter.«
»Ja«, bestätigt Baldur Persicke, noch verständnislos.
»Also muss sie einer hier im Hause versteckt gehalten haben, seit Mittwoch, wenn sie wirklich so lange nicht in der Wohnung war, wie Sie sagen.«
»Ich bin fast sicher«, fängt Baldur Persicke an, etwas unsicher gemacht durch diesen nachdenklichen, nicht von ihm ablassenden Blick.
»Fast sicher ist gar nichts, mein Junge«, sagt der Kommissar verächtlich. »Fast sicher gibt es nicht!«
»Ich bin ganz sicher!«, sagt Baldur schnell. »Ich kann jederzeit beeiden, dass Frau Rosenthal seit Mittwoch nicht in ihrer Wohnung war!«
»Schönschön«, sagt der Kommissar leichthin. »Sie wissen natürlich, dass Sie seit Mittwoch die Wohnung unmöglich allein unter Beobachtung gehalten haben können. So was nimmt Ihnen kein Richter ab.«
»Ich habe zwei Brüder in der SS«, sagt Baldur Persicke eifrig.
»Na schön«, gibt sich Kommissar Rusch zufrieden. »Es wird alles schon schiefgehen. Übrigens, was ich Ihnen noch sagen wollte, ich werde erst gegen Abend dazu kommen, hier Haussuchung zu halten. Vielleicht observieren Sie die Wohnung so lange weiter? Schlüssel haben Sie ja wohl?«
Baldur Persicke versichert zufrieden, dass er das gerne tun würde. Seinen Augen war tiefe Freude anzusehen. Na also – so ging es auch, er wusste es ja, und ganz legal!
»Es wäre ja ganz gut«, sagt der Kommissar gelangweilt und sieht wieder aus dem Fenster, »wenn dann alles etwa so rumläge wie jetzt. Natürlich, für das, was in den Schränken und Koffern ist, können Sie nicht stehen, aber sonst …«
Ehe Baldur noch antworten kann, ertönt aus dem Innern der Wohnung ein schriller, hoher Angstschrei.
»Verdammt!«, sagt der Kommissar, tut aber keinen Schritt.
Bleich, mit spitzer Nase starrt ihn Baldur an, seine Knie sind weich geworden.
Der Angstschrei ist sofort erstickt, man hört nur den Friedrich fluchen.
»Was ich sagen wollte …«, fängt der Kommissar langsam wieder an.
Er spricht aber, immerfort lauschend, nicht weiter. Plötzlich sehr lautes Schimpfen in der Küche, Getrappel, Hin- und Herstampfen. Nun brüllt Friedrich sehr laut: »Willste gleich! Willste woll!«
Dann ein lauter Schrei. Noch wüsteres Fluchen. Nun wird eine Tür aufgerissen, Gestampf über den Flur, und ins Zimmer hinein brüllt Friedrich: »Was sagen Sie nun, Herr Kommissar? Grade hatte ich sie so weit, dass sie vernünftig reden konnte, springt das Aas mir doch aus dem Fenster!«
Der Kommissar schlägt ihm wütend ins Gesicht: »Gottverdammter Trottel, ich reiß dir die Kaldaunen aus dem Leibe! Los, schnell!«
Und er stürzt aus dem Zimmer, läuft die Treppen hinunter …
»Auf den Hof doch!«, ruft Friedrich flehend, während er hinterdreinläuft. »Sie ist ja bloß auf den Hof gefallen, nicht auf die Straße! Es wird gar kein Aufsehen geben, Herr Kommissar!«
Er bekommt keine Antwort. Alle drei laufen sie die Treppen hinunter, wobei sie sich bemühen, möglichst wenig Lärm in dem sonntagsstillen Haus zu machen. Als Letzter läuft, mit einer halben Treppe Abstand, Baldur Persicke. Er hat nicht vergessen, die Wohnungstür der Rosenthals gut ins Schloss zu ziehen. Wenn ihm auch noch der Schreck in den Gliedern sitzt, weiß er doch, dass er jetzt die Verantwortung für alle die schönen Sachen dort hat. Da darf nichts fortkommen!
Die drei laufen an der Wohnung der Quangels vorbei, an der von den Persickes, an der vom Kammergerichtsrat a.D. Fromm. Nur noch zwei halbe Treppen, und sie sind auf dem Hof.
Otto Quangel war unterdes aufgestanden, hatte sich gewaschen und sah seiner Frau in der Küche zu, wie sie das Frühstück fertigmachte. Nach dem Frühstück würden sie miteinander sprechen, vorläufig hatten sie nur einen Guten-Morgen-Gruß gewechselt, aber einen freundlichen.
Plötzlich schrecken sie beide zusammen. In der Küche über ihnen ist Geschrei, sie lauschen, eines das andere gespannt und besorgt ansehend. Dann wird für Sekundenschnelle das Küchenfenster verdunkelt, etwas Schweres scheint vorbeizustürzen – und nun hören sie es schwer aufschlagen auf dem Hof. Unten schreit jemand auf – ein Mann. Und Totenstille.
Otto Quangel reißt das Küchenfenster auf, fährt aber zurück, als er Gepolter auf der Treppe hört.
»Steck du mal schnell den Kopf raus, Anna!«, sagt er. »Sieh, ob du was sehen kannst. Eine Frau fällt bei so was weniger auf.« Er fasst sie bei der Schulter und drückt sie sehr stark. »Schrei nicht!«, sagt er befehlend. »Du sollst nicht schreien! So, mach das Fenster wieder zu!«
»Gott, Otto!«, ächzt Frau Quangel und starrt ihren Mann mit weißem Gesicht an. »Die Rosenthal ist aus dem Fenster gestürzt. Sie liegt unten auf dem Hof. Der Barkhausen steht bei ihr und …«
»Still!«, sagt er. »Jetzt still! Wir wissen von nichts. Wir haben nichts gesehen und nichts gehört. Bring den Kaffee in die Stube!«
Und drinnen noch einmal, mit Nachdruck: »Wir wissen nichts, Anna. Haben die Rosenthal fast nie gesehen. Und nun iss! Iss, sage ich dir. Und trink Kaffee! Wenn einer kommt, er darf uns nichts anmerken!«
Der Kammergerichtsrat Fromm hatte noch immer auf seinem Beobachtungsposten gestanden. Er hatte zwei Zivilisten die Treppe hinaufgehen sehen, und nun stürmten drei Mann – und der Persicke-Junge dabei – die Treppe hinunter. Es hatte also etwas gegeben, und schon brachte ihm seine Bedienerin aus der Küche die Nachricht, dass eben Frau Rosenthal von oben auf den Hof gestürzt sei. Er starrte sie erschrocken an.
Einen Augenblick stand er ganz still. Dann nickte er langsam mit dem Kopf, ein paarmal.
»Ja, Liese«, sagte er. »Das ist nicht anders. Man muss nicht nur retten wollen. Der andere muss auch mit der Rettung richtig einverstanden sein.« Und dann rasch: »Ist das Küchenfenster wieder zu?« Liese nickte. »Schnell, Liese, bring das Zimmer vom gnädigen Fräulein wieder in Ordnung; niemand darf sehen, dass es benutzt war. Geschirr weg! Wäsche weg!«
Wieder nickte Liese.
Dann fragte sie: »Und das Geld und der Schmuck auf dem Tisch, Herr Rat?«
Einen Augenblick stand er beinahe hilflos da, kläglich sah er aus mit dem ratlosen Lächeln auf dem Gesicht. »Ja, Liese«, sagte er dann. »Damit wird’s schwer werden. Erben werden sich wohl keine melden. Und für uns ist’s nur eine Last …«
»Ich tu’s in den Mülleimer«, schlug Liese vor.
Er schüttelte den Kopf. »Für Mülleimer sind die zu schlau, Liese«, sagte er dann. »Das können die ja gerade, im Müll rumwühlen! Na, ich werde schon sehen, wo ich damit erst einmal bleibe. Mach bloß schnell mit dem Zimmer! Die können jede Minute kommen!«
Vorläufig standen sie noch auf dem Hof, der Barkhausen bei ihnen.
Der Barkhausen hatte den Schreck zuerst abgekriegt, und am stärksten. Er war da seit dem frühen Morgen auf dem Hof herumgestrichen, gequält von seinem Hass auf die Persickes und seiner Gier nach den entschwundenen Sachen. Er wollte doch wenigstens wissen – und so beobachtete er ständig das Treppenhaus, die Fenster vorne …
Plötzlich war da etwas ganz dicht bei ihm niedergestürzt, so nah und aus großer Höhe, es hatte ihn gestreift. Der Schrecken war ihm derart in die Glieder gefahren, dass er sich gegen die Hofwand lehnte, und gleich darauf musste er sich auf die Erde setzen, es wurde ihm schwarz vor den Augen.
Dann war er wieder hochgefahren, denn plötzlich hatte er gemerkt, dass er neben Frau Rosenthal auf dem Hofe saß. Gott, da hatte sich also die alte Frau aus dem Fenster gestürzt, und wer daran schuld war, das wusste er auch.
Barkhausen sah gleich, dass die Frau tot war. Ein bisschen Blut war aus ihrem Mund gelaufen, aber das verunstaltete sie kaum. Auf dem Gesicht lag ein solcher Ausdruck von tiefem Frieden, dass selbst der erbärmliche kleine Spitzel wegsehen musste. Dabei fiel sein Blick auf ihre Hände, und er sah, dass sie in der einen Hand etwas hielt, ein Schmuckstück, dessen Steine leuchteten.
Barkhausen warf einen argwöhnischen Blick um sich. Wenn er etwas tun wollte, musste es schnell geschehen. Er bückte sich; von der Toten abgewandt, sodass er ihr nicht ins Gesicht sehen musste, zog er ihr das Saphirarmband aus der Hand und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Wieder sah er argwöhnisch um sich. Ihm war, als würde bei den Quangels das Küchenfenster vorsichtig geschlossen.
Und da kamen sie schon über den Hof gelaufen, drei Mann, und wer die zwei anderen waren, das sah er auch gleich. Nun kam es darauf an, dass er sich von Anfang an richtig benahm.
»Da hat sich eben die Frau Rosenthal aus dem Fenster gestürzt, Herr Kommissar«, sagte er, als melde er ein ganz alltägliches Ereignis. »Beinahe wäre mir die Frau auf den Kopf gefallen.«
»Woher kennen Sie mich denn?«, fragte der Kommissar beiläufig, während er sich mit dem Friedrich über die Tote beugte.
»Ich kenn Sie nicht, Herr Kommissar«, sagte Barkhausen. »Ich hab’s mir bloß gedacht. Weil ich nämlich manchmal was für den Herrn Kommissar Escherich arbeiten darf.«
»So!«, sagte der Kommissar nur. »So. Dann bleiben Sie hier noch mal ein bisschen stehen. Sie, junger Mann«, wandte er sich zu Persicke, »passen Sie mal ein bisschen auf, dass uns dieser Junge nicht verlorengeht. Friedrich, sorg dafür, dass keine Leute auf den Hof kommen. Sag dem Fahrer Bescheid, er soll in der Torfahrt aufpassen. Ich geh nur mal rasch in Ihre Wohnung telefonieren!«
Als der Herr Kommissar Rusch vom Telefonieren auf den Hof zurückkam, hatte sich die Lage dort ein wenig geändert. In den Fenstern des Hinterhauses lagen überall Gesichter, es standen auch ein paar Leute auf dem Hof – aber ferne. Die Leiche war jetzt mit einem Laken zugedeckt, das etwas zu kurz war, die Beine der Frau Rosenthal sahen bis zu den Knien darunter hervor.
Der Herr Barkhausen aber sah etwas gelb im Gesicht aus und trug jetzt Handkettlein. Von der Hofseite her beobachteten ihn schweigend seine Frau und die fünf Kinder.
»Herr Kommissar, ich protestiere dagegen!«, rief Barkhausen jetzt jämmerlich. »Ich habe das Armband bestimmt nicht in die Kellerluke geworfen. Der junge Herr Persicke hat einen Hass auf mich …«
Es stellte sich heraus, dass Friedrich, von der Erledigung seiner Aufträge zurückgekehrt, sofort begonnen hatte, nach dem Armband zu suchen. Frau Rosenthal hatte es in der Küche doch noch in der Hand gehabt – grade um dieses Armbandes willen, das sie durchaus nicht loslassen wollte, war ja ein gewisser Ärger bei Friedrich entstanden. Und in diesem Ärger hatte er nicht wie sonst aufgepasst, und die Frau hatte ihm den Streich mit dem Fenster spielen können. Das Armband musste also hier irgendwo auf dem Hof liegen.
Als der Friedrich so herumzusuchen anfing, hatte Barkhausen an der Hauswand gestanden. Plötzlich hatte Baldur Persicke etwas blitzen gesehen, und darauf hatte es in der Kellerluke geraschelt. Er hatte gleich nachgesehen, und – siehe! – da lag das Armband in der Luke!
»Ich hab’s bestimmt nicht reingeworfen, Herr Kommissar!«, beteuerte Barkhausen angstvoll. »Es muss von der Frau Rosenthal fortgefallen sein in das Kellerloch!«
»So!«, sagte der Kommissar Rusch. »So ein Vogel bist du also! So ein Vogel arbeitet also für meinen Kollegen Escherich! Das wird meinen Kollegen Escherich mächtig freuen, so was zu hören!«
Aber während der Kommissar so ganz friedlich vor sich hin schwätzte, ging sein Blick zwischen dem Barkhausen und dem Baldur Persicke hin und her, hin und her. Dann fuhr Rusch fort: »Na, ich denke, du wirst nichts dagegen haben, uns auf einem kleinen Spaziergang zu begleiten? Oder?«
»Aber nein!«, versicherte Barkhausen, zitterte dabei, und sein Gesicht wurde noch fahler. »Aber gerne komme ich mit! Mir liegt ja am meisten daran, dass alles richtig aufgeklärt wird, Herr Kommissar!«
»Na, dann ist’s ja schön!«, sagte der Kommissar trocken. Und nach einem raschen Blick auf Persicke: »Friedrich, nimm dem Mann die Handfessel ab. Der kommt auch so mit. Oder?«
»Gewiss komme ich mit! Gewiss doch, gerne!«, versicherte Barkhausen eifrig. »Ich lauf nicht weg. Und wenn auch – Sie würden mich ja doch überall einfangen, Herr Kommissar!«
»Richtig!«, sagte der wieder trocken. »So ’n Vogel wie dich fangen wir überall!« Er unterbrach sich. »Da ist ja auch schon der Unfallwagen. Und die Polizei. Da wollen wir mal sehen, dass wir den Kram schnell hinter uns bringen. Ich habe heute früh noch mehr zu tun.«
Später, als sie dann »den Kram schnell hinter sich gebracht« hatten, stiegen der Kommissar Rusch und der junge Persicke noch einmal die Treppen zur Rosenthal’schen Wohnung hinauf. »Bloß, um das Küchenfenster zuzumachen!«, hatte der Kommissar gesagt.
Auf der Treppe blieb der junge Persicke plötzlich stehen. »Ist Ihnen nicht was aufgefallen, Herr Kommissar?«, fragte er flüsternd.
»Mir ist Verschiedenes aufgefallen«, erwiderte Kommissar Rusch. »Aber was ist denn dir zum Bleistift aufgefallen, mein Junge?«
»Fällt Ihnen nicht auf, wie still das Vorderhaus ist? Haben Sie nicht darauf geachtet, dass im Vorderhaus kein Kopf zum Fenster hinausgesehen hat, und im Hinterhaus haben sie doch überall geguckt! Das ist doch verdächtig. Die müssen doch was gemerkt haben, die hier im Vorderhaus. Die wollen nur nichts gemerkt haben. Sie müssten jetzt eigentlich gleich Haussuchungen bei denen machen, Herr Kommissar!«
»Und bei den Persickes würde ich damit anfangen«, antwortete der Kommissar und stieg ruhig weiter treppauf. »Bei denen hat nämlich auch keiner aus dem Fenster gesehen.«
Baldur lachte verlegen auf. »Meine Brüder von der SS«, erklärte er dann, »die haben sich beide gestern Abend so bildschön besoffen …«
»Mein lieber Sohn«, fuhr der Kommissar fort, als hätte er nichts gehört. »Was ich tu, das ist meine Sache, und was du tust, das ist deine Sache. Ratschläge von dir sind unerwünscht. Dafür bist du mir noch zu grün.« Er sah, im Stillen belustigt, über die Schulter in das bekniffene Gesicht des Jungen. »Junge«, sagte er dann, »wenn ich hier keine Haussuchungen mehr mache, so nur darum, weil die viel zu viel Zeit gehabt haben, alles Belastende wegzuschaffen. Und wozu so viel Aufstand um ’ne tote Judenfrau? Ich habe mit den lebendigen genug zu tun.«
Sie waren unterdes vor der Wohnung der Rosenthals angelangt. Baldur schloss auf. In der Küche wurde das Fenster geschlossen und ein Stuhl wieder aufgestellt, der umgefallen war.
»So!«, sagte der Kommissar Rusch und sah sich um. »Alles in bester Butter!«
Er ging voran in die Stube und setzte sich in das Sofa, auf genau die Stelle, wo er eine Stunde zuvor die alte Frau Rosenthal in eine völlige Ohnmacht hineingebeutelt hatte. Er streckte sich behaglich und sagte: »So, mein Sohn, und nun hole uns einmal eine Flasche Kognak und zwei Gläser!«
Baldur ging, kam dann zurück, schenkte ein. Sie prosteten einander zu.
»Schön, mein Sohn«, sagte der Kommissar behaglich und brannte sich eine Zigarette an, »und nun erzähl mir mal, was du und der Barkhausen hier schon in der Wohnung vorgehabt habt!«
Er sagte schneller, als er die empörte Bewegung des jungen Baldur Persicke sah: »Überleg dir’s gut, mein Sohn! Eventuell nehme ich sogar einen HJ-Führer mit in die Prinz-Albrecht-Straße, wenn er mich nämlich gar zu unverschämt ansohlt. Überleg dir’s, ob du nicht die Wahrheit vorziehst. Vielleicht bleibt die Wahrheit ganz unter uns, wollen mal sehen, was du zu erzählen hast.« Und da er Baldur schwanken sah: »Ich hab nämlich auch ein paar Beobachtungen gemacht, Observationen nennen wir so was. Zum Bleistift habe ich deine Stibbelsohlen da hinten auf der Bettwäsche gesehen. In die Ecke biste heute noch gar nicht gekommen. Und woher haste eigentlich so schnell gewusst, dass hier Kognak ist und wo er steht? Und was denkst du, was mir der Barkhausen alles in seiner Angst erzählt? Nee, habe ich das nötig, hier sitzen und mich von dir anlügen lassen? Dafür biste mir noch zu grün!«
Das sah der Baldur auch ein, und er packte aus.
»So!«, sagte der Kommissar schließlich. »So. Na ja, jeder tut, was er kann. Die Dummen Dummes und die Klugen oft noch was viel Dümmeres. Na, mein Sohn, zum Schluss biste ja denn doch noch schlau geworden und hast den Vater Rusch nicht angelogen. So was soll nicht unbelohnt bleiben. Was möchtste hier denn gerne haben?«
Baldurs Augen leuchteten auf. Eben noch war er völlig entmutigt gewesen, aber nun sah er wieder Licht.
»Den Radioapparat mit dem Plattenspieler und den Platten, Herr Kommissar!«, flüsterte er gierig.
»Na schön!«, sagte der Kommissar gnädig. »Ich habe dir ja gesagt, vor sechse komme ich nicht wieder hierher. Sonst noch was?«
»Vielleicht ein oder zwei Handkoffer mit Wäsche!«, bat Baldur. »Meine Mutter ist mächtig knapp mit Wäsche!«
»Gott, wie rührend!«, spottete der Kommissar. »Was für ’n rührender Sohn! So ’n richtiges ergreifendes Muttersöhnchen! Na, meinethalben! Damit ist dann aber auch Schluss! Für alles andere bist du mir verantwortlich! Und ich habe ein verdammt gutes Gedächtnis dafür, wie was steht und liegt, mich legst du so leicht nicht rein! Und wie schon bemerkt, in jedem Zweifelsfall Haussuchung bei den Persickes. In jedem Fall gefunden: ein Radioapparat mit Plattenspieler, zwei Handkoffer mit Wäsche. Aber keine Angst, Sohn, solange du reell bist, bin ich’s auch.«
Er ging zur Tür. Er sagte noch, über die Schulter weg: »Übrigens, wenn dieser Barkhausen hier wieder auftauchen sollte, es gibt keine Stänkereien mit ihm. Ich mag so was nicht, verstanden?«
»Jawohl, Herr Kommissar«, antwortete Baldur Persicke gehorsam, und damit trennten sich die beiden Herren – nach einem so erfolgreich verbrachten Morgen.
1 Sitz der Gestapo-Zentrale in Berlin <<<