Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ihre Be­nom­men­heit ist in ei­nem lang­sa­men, un­auf­halt­sa­men Wach­sen. Man kann nicht sa­gen, dass sie schläft, aber sie ist auch nicht wach. Wie sie die schwer ge­wor­de­nen Glie­der nur lang­sam und un­be­hol­fen be­we­gen kann, weil sie wie taub sind, so ist auch ihr Ge­hirn wie taub. Es kom­men Bil­der wie Flo­cken und zer­rin­nen auch schon wie­der, ehe sie sie noch recht deut­lich se­hen konn­te. Sie sitzt in der So­fae­cke, die Füße auf der ver­schmutz­ten Wä­sche, sie sieht sich lang­sam und trä­ge um. In der Hand hält sie noch im­mer die Schlüs­sel und das Sa­phi­r­arm­band, das ihr Sieg­fried zu Evas Ge­burt schenk­te. Der Ge­winn ei­ner gan­zen Wei­ßen Wo­che … Sie lä­chelt ein biss­chen.

Dann hört sie, wie die Fl­ur­tür vor­sich­tig ge­öff­net wird, und sie weiß: das ist Sieg­fried. Jetzt kommt er. Des­we­gen bin ich doch hier rauf­ge­gan­gen. Ich will ihm ent­ge­gen­ge­hen.

Aber sie bleibt sit­zen, ein Lä­cheln aus­ge­brei­tet auf dem gan­zen grau­en Ge­sicht. Sie wird ihn hier so sit­zend emp­fan­gen, als sei sie nie fort ge­we­sen, habe im­mer hier, zu sei­nem Empfang, ge­ses­sen.

Dann geht end­lich die Tür, und statt des er­war­te­ten Sieg­fried ste­hen drei Män­ner in der Tür. Schon als sie un­ter den drei­en eine ver­hass­te brau­ne Uni­form sieht, weiß sie: das ist nicht Sieg­fried, Sieg­fried ist nicht da­bei. Ein biss­chen Angst will sich in ihr rüh­ren, aber wirk­lich nur ein ganz klein biss­chen. Nun ist es end­lich so­weit!

Lang­sam schwin­det das Lä­cheln von ih­rem Ge­sicht, das vom Grau­en ins gelb­lich Grü­ne hin­über­wech­selt.

Die drei ste­hen jetzt di­rekt vor ihr. Sie hört, wie ein großer, schwe­rer Mann in schwar­zem Pa­le­tot sagt: »Nicht be­sof­fen, mein Jun­ge. Wahr­schein­lich schlaf­mit­tel­ver­gif­tet. Wir wol­len schnell mal se­hen, dass wir aus ihr raus­quet­schen, was zu ho­len ist. Hö­ren Sie mal, Sie sind Frau Ro­sen­thal?«

Sie nickt. »Ja­wohl, mei­ne Her­ren, Lore oder rich­ti­ger Sara Ro­sen­thal. Mein Mann sitzt in Moa­bit, zwei Söh­ne in den USA, eine Toch­ter in Dä­ne­mark, eine in Eng­land ver­hei­ra­tet …«

»Und wie viel Geld ha­ben Sie de­nen ge­schickt?«, frag­te der Kri­mi­nal­kom­missar Rusch schnell.

»Geld? Zu was denn Geld? Die ha­ben doch alle Geld ge­nug! Zu was soll ich de­nen noch Geld schi­cken?«

Sie nickt ernst. Ihre Kin­der le­ben alle in gu­ten Ver­hält­nis­sen. Die könn­ten noch ohne Mühe die El­tern er­näh­ren. Plötz­lich fällt ihr et­was ein, was sie un­be­dingt die­sen Her­ren noch sa­gen muss. »Es ist mei­ne Schuld«, sagt sie un­be­hol­fen mit schwe­rer Zun­ge, die im­mer schwe­rer zu spre­chen, zu lal­len an­fängt, »es ist al­lein mei­ne Schuld. Sieg­fried woll­te längst aus Deutsch­land fort. Aber ich sag­te ihm: ›Wa­rum all die schö­nen Sa­chen, das gute Ge­schäft hier las­sen, für einen Dreck ver­kau­fen? Wir ha­ben nie je­man­dem et­was ge­tan, uns wer­den sie nichts tun.‹ Ich habe ihn über­re­det, sonst wä­ren wir längst weg!«

»Und wo ha­ben Sie Ihr Geld ge­las­sen?«, frag­te der Kom­missar, ein we­nig un­ge­dul­di­ger.

»Das Geld?« Sie ver­sucht, sich zu be­sin­nen. Es war ja wirk­lich noch et­was da ge­we­sen. Wo war es nur hin­ge­kom­men? Aber das schar­fe Nach­den­ken macht ihr Mühe, da­für fällt ihr et­was an­de­res ein. Sie hält das Sa­phi­r­arm­band dem Kom­missar hin. »Da«, sagt sie ein­fach. »Da!«

Der Kom­missar Rusch wirft einen ra­schen Blick dar­auf, dann sieht er sich nach sei­nen bei­den Beglei­tern um, die­sem za­cki­gen HJ-Füh­rer und nach sei­nem stän­di­gen Ge­folgs­mann, dem Fried­rich, ei­nem di­cken Klotz, an­zu­se­hen wie ein Scharf­rich­ter­ge­hil­fe. Er sieht, dass die bei­den ihn ge­spannt be­ob­ach­ten. So stößt er die Hand mit dem Arm­band un­ge­dul­dig bei­sei­te, er packt die schwe­re Frau bei den Schul­tern und beu­telt sie or­dent­lich durch. »Wa­chen Sie jetzt end­lich auf, Frau Ro­sen­thal!«, schreit er. »Ich be­feh­le es Ih­nen! Sie sol­len auf­wa­chen!«

Dann lässt er sie los: Ihr Kopf fällt hin­ten ge­gen die So­fa­leh­ne, der Kör­per sackt in sich zu­sam­men – ihre Zun­ge lallt et­was Un­ver­ständ­li­ches. Die­ses Mit­tel, sie wach zu ma­chen, scheint nicht ganz rich­tig ge­we­sen zu sein. Eine Wei­le be­trach­ten die drei schwei­gend die alte Frau, wie sie da zu­sam­men­ge­sun­ken hockt, das Be­wusst­sein scheint nicht in sie zu­rück­zu­keh­ren.

Der Kom­missar flüs­tert plötz­lich ganz lei­se: »Nimm sie dir mal mit, da hin­ten in die Kü­che, und sieh, dass du sie wach kriegst!«

Der Hen­kers­knecht Fried­rich nickt nur. Er nimmt die schwe­re Frau wie ein Kind auf den Arm und steigt vor­sich­tig mit ihr über die am Bo­den lie­gen­den Hin­der­nis­se fort.

Als er an der Tür ist, ruft der Kom­missar noch: »Sieh, dass sie ru­hig bleibt! Ich will kei­nen Krach ha­ben am Sonn­tag­mor­gen in ei­nem Miets­hau­se! Sonst ma­chen wir es in der Prinz-Al­brecht-Stra­ße.1 Ich neh­me sie so­wie­so da­hin mit.«

Die Tür klappt hin­ter den bei­den, der Kom­missar und der HJ-Füh­rer sind al­lein.

Kom­missar Rusch steht am Fens­ter und sieht auf die Stra­ße. »Ru­hi­ge Stra­ße das«, sagt er. »Rich­ti­ger Kin­der­spiel­platz, wie?«

Bal­dur Per­si­cke be­stä­tigt, dass die Ja­blons­ki­stra­ße eine ru­hi­ge Stra­ße ist.

Der Kom­missar ist ein biss­chen ner­vös, nicht etwa we­gen der Sa­che, die der Fried­rich da mit der al­ten Jü­din in der Kü­che an­stellt. I wo, sol­che Sa­chen und tol­le­re noch ent­spre­chen sei­nem We­sen. Rusch ist ein ver­krach­ter Ju­rist, der den Weg zur Kri­mi­nal­po­li­zei fand. Die gab ihn spä­ter an die Ge­sta­po ab. Er tut ger­ne sei­nen Dienst. Er wür­de je­der Re­gie­rung ger­ne je­den Dienst ge­tan ha­ben, aber die za­cki­gen Metho­den die­ser Re­gie­rung ge­fal­len ihm be­son­ders. »Bloß kei­ne Ge­fühls­du­se­lei«, sagt er manch­mal zu ei­nem Neu­ling. »Wir er­fül­len un­se­re Pf­licht nur dann, wenn wir un­ser Ziel er­rei­chen. Der Weg da­hin ist ganz egal.«

Nein, we­gen der ol­len Jü­din macht sich der Kom­missar nicht die ge­rings­ten Ge­dan­ken, er ist wirk­lich frei von je­der Ge­fühls­du­se­lei.

Aber die­ser Jun­ge, der HJ-Füh­rer Per­si­cke, passt ihm nicht recht in den Kram. Er hat Au­ßen­sei­ter nicht ger­ne bei so was, man weiß nie ge­nau, wie sie’s auf­neh­men. Frei­lich, die­ser scheint die rich­ti­ge Sor­te, aber ge­nau weiß man es im­mer erst nach­her.

»Ha­ben Sie ge­se­hen, Herr Kom­missar«, fragt Bal­dur Per­si­cke eif­rig – er will jetzt ein­fach nicht mehr nach der Kü­che hin­hor­chen, das ist de­ren Sa­che! »Ha­ben Sie ge­se­hen, sie trug kei­nen Ju­dens­tern?«

»Ich habe noch mehr ge­se­hen«, sagt der Kom­missar nach­denk­lich, »ich habe zum Bei­spiel ge­se­hen, dass die Frau sau­be­re Schu­he an­hat­te, und drau­ßen ist Dreck­wet­ter.«

»Ja«, be­stä­tigt Bal­dur Per­si­cke, noch ver­ständ­nis­los.

»Also muss sie ei­ner hier im Hau­se ver­steckt ge­hal­ten ha­ben, seit Mitt­woch, wenn sie wirk­lich so lan­ge nicht in der Woh­nung war, wie Sie sa­gen.«

»Ich bin fast si­cher«, fängt Bal­dur Per­si­cke an, et­was un­si­cher ge­macht durch die­sen nach­denk­li­chen, nicht von ihm ab­las­sen­den Blick.

»Fast si­cher ist gar nichts, mein Jun­ge«, sagt der Kom­missar ver­ächt­lich. »Fast si­cher gibt es nicht!«

»Ich bin ganz si­cher!«, sagt Bal­dur schnell. »Ich kann je­der­zeit be­ei­den, dass Frau Ro­sen­thal seit Mitt­woch nicht in ih­rer Woh­nung war!«

»Schön­schön«, sagt der Kom­missar leicht­hin. »Sie wis­sen na­tür­lich, dass Sie seit Mitt­woch die Woh­nung un­mög­lich al­lein un­ter Beo­b­ach­tung ge­hal­ten ha­ben kön­nen. So was nimmt Ih­nen kein Rich­ter ab.«

»Ich habe zwei Brü­der in der SS«, sagt Bal­dur Per­si­cke eif­rig.

»Na schön«, gibt sich Kom­missar Rusch zu­frie­den. »Es wird al­les schon schief­ge­hen. Üb­ri­gens, was ich Ih­nen noch sa­gen woll­te, ich wer­de erst ge­gen Abend dazu kom­men, hier Haus­su­chung zu hal­ten. Vi­el­leicht ob­ser­vie­ren Sie die Woh­nung so lan­ge wei­ter? Schlüs­sel ha­ben Sie ja wohl?«

Bal­dur Per­si­cke ver­si­chert zu­frie­den, dass er das ger­ne tun wür­de. Sei­nen Au­gen war tie­fe Freu­de an­zu­se­hen. Na also – so ging es auch, er wuss­te es ja, und ganz le­gal!

»Es wäre ja ganz gut«, sagt der Kom­missar ge­lang­weilt und sieht wie­der aus dem Fens­ter, »wenn dann al­les etwa so rum­lä­ge wie jetzt. Na­tür­lich, für das, was in den Schrän­ken und Kof­fern ist, kön­nen Sie nicht ste­hen, aber sonst …«

Ehe Bal­dur noch ant­wor­ten kann, er­tönt aus dem In­nern der Woh­nung ein schril­ler, ho­her Angst­schrei.

»Ver­dammt!«, sagt der Kom­missar, tut aber kei­nen Schritt.

Bleich, mit spit­zer Nase starrt ihn Bal­dur an, sei­ne Knie sind weich ge­wor­den.

Der Angst­schrei ist so­fort er­stickt, man hört nur den Fried­rich flu­chen.

»Was ich sa­gen woll­te …«, fängt der Kom­missar lang­sam wie­der an.

Er spricht aber, im­mer­fort lau­schend, nicht wei­ter. Plötz­lich sehr lau­tes Schimp­fen in der Kü­che, Ge­trap­pel, Hin- und Her­stamp­fen. Nun brüllt Fried­rich sehr laut: »Wills­te gleich! Wills­te woll!«

Dann ein lau­ter Schrei. Noch wüs­te­res Flu­chen. Nun wird eine Tür auf­ge­ris­sen, Ge­stampf über den Flur, und ins Zim­mer hin­ein brüllt Fried­rich: »Was sa­gen Sie nun, Herr Kom­missar? Gra­de hat­te ich sie so weit, dass sie ver­nünf­tig re­den konn­te, springt das Aas mir doch aus dem Fens­ter!«

Der Kom­missar schlägt ihm wü­tend ins Ge­sicht: »Gott­ver­damm­ter Trot­tel, ich reiß dir die Kaldau­nen aus dem Lei­be! Los, schnell!«

Und er stürzt aus dem Zim­mer, läuft die Trep­pen hin­un­ter …

»Auf den Hof doch!«, ruft Fried­rich fle­hend, wäh­rend er hin­ter­drein­läuft. »Sie ist ja bloß auf den Hof ge­fal­len, nicht auf die Stra­ße! Es wird gar kein Auf­se­hen ge­ben, Herr Kom­missar!«

 

Er be­kommt kei­ne Ant­wort. Alle drei lau­fen sie die Trep­pen hin­un­ter, wo­bei sie sich be­mü­hen, mög­lichst we­nig Lärm in dem sonn­tags­stil­len Haus zu ma­chen. Als Letz­ter läuft, mit ei­ner hal­b­en Trep­pe Ab­stand, Bal­dur Per­si­cke. Er hat nicht ver­ges­sen, die Woh­nungs­tür der Ro­sent­hals gut ins Schloss zu zie­hen. Wenn ihm auch noch der Schreck in den Glie­dern sitzt, weiß er doch, dass er jetzt die Verant­wor­tung für alle die schö­nen Sa­chen dort hat. Da darf nichts fort­kom­men!

Die drei lau­fen an der Woh­nung der Quan­gels vor­bei, an der von den Per­sickes, an der vom Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm. Nur noch zwei hal­be Trep­pen, und sie sind auf dem Hof.

Otto Quan­gel war un­ter­des auf­ge­stan­den, hat­te sich ge­wa­schen und sah sei­ner Frau in der Kü­che zu, wie sie das Früh­stück fer­tig­mach­te. Nach dem Früh­stück wür­den sie mit­ein­an­der spre­chen, vor­läu­fig hat­ten sie nur einen Gu­ten-Mor­gen-Gruß ge­wech­selt, aber einen freund­li­chen.

Plötz­lich schre­cken sie bei­de zu­sam­men. In der Kü­che über ih­nen ist Ge­schrei, sie lau­schen, ei­nes das an­de­re ge­spannt und be­sorgt an­se­hend. Dann wird für Se­kun­den­schnel­le das Kü­chen­fens­ter ver­dun­kelt, et­was Schwe­res scheint vor­bei­zu­stür­zen – und nun hö­ren sie es schwer auf­schla­gen auf dem Hof. Un­ten schreit je­mand auf – ein Mann. Und To­ten­stil­le.

Otto Quan­gel reißt das Kü­chen­fens­ter auf, fährt aber zu­rück, als er Ge­pol­ter auf der Trep­pe hört.

»Steck du mal schnell den Kopf raus, Anna!«, sagt er. »Sieh, ob du was se­hen kannst. Eine Frau fällt bei so was we­ni­ger auf.« Er fasst sie bei der Schul­ter und drückt sie sehr stark. »Schrei nicht!«, sagt er be­feh­lend. »Du sollst nicht schrei­en! So, mach das Fens­ter wie­der zu!«

»Gott, Otto!«, ächzt Frau Quan­gel und starrt ih­ren Mann mit weißem Ge­sicht an. »Die Ro­sen­thal ist aus dem Fens­ter ge­stürzt. Sie liegt un­ten auf dem Hof. Der Bark­hau­sen steht bei ihr und …«

»Still!«, sagt er. »Jetzt still! Wir wis­sen von nichts. Wir ha­ben nichts ge­se­hen und nichts ge­hört. Bring den Kaf­fee in die Stu­be!«

Und drin­nen noch ein­mal, mit Nach­druck: »Wir wis­sen nichts, Anna. Ha­ben die Ro­sen­thal fast nie ge­se­hen. Und nun iss! Iss, sage ich dir. Und trink Kaf­fee! Wenn ei­ner kommt, er darf uns nichts an­mer­ken!«

Der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm hat­te noch im­mer auf sei­nem Beo­b­ach­tungs­pos­ten ge­stan­den. Er hat­te zwei Zi­vi­lis­ten die Trep­pe hin­auf­ge­hen se­hen, und nun stürm­ten drei Mann – und der Per­si­cke-Jun­ge da­bei – die Trep­pe hin­un­ter. Es hat­te also et­was ge­ge­ben, und schon brach­te ihm sei­ne Be­die­ne­rin aus der Kü­che die Nach­richt, dass eben Frau Ro­sen­thal von oben auf den Hof ge­stürzt sei. Er starr­te sie er­schro­cken an.

Ei­nen Au­gen­blick stand er ganz still. Dann nick­te er lang­sam mit dem Kopf, ein paar­mal.

»Ja, Lie­se«, sag­te er. »Das ist nicht an­ders. Man muss nicht nur ret­ten wol­len. Der an­de­re muss auch mit der Ret­tung rich­tig ein­ver­stan­den sein.« Und dann rasch: »Ist das Kü­chen­fens­ter wie­der zu?« Lie­se nick­te. »Schnell, Lie­se, bring das Zim­mer vom gnä­di­gen Fräu­lein wie­der in Ord­nung; nie­mand darf se­hen, dass es be­nutzt war. Ge­schirr weg! Wä­sche weg!«

Wie­der nick­te Lie­se.

Dann frag­te sie: »Und das Geld und der Schmuck auf dem Tisch, Herr Rat?«

Ei­nen Au­gen­blick stand er bei­na­he hilf­los da, kläg­lich sah er aus mit dem rat­lo­sen Lä­cheln auf dem Ge­sicht. »Ja, Lie­se«, sag­te er dann. »Da­mit wird’s schwer wer­den. Er­ben wer­den sich wohl kei­ne mel­den. Und für uns ist’s nur eine Last …«

»Ich tu’s in den Müll­ei­mer«, schlug Lie­se vor.

Er schüt­tel­te den Kopf. »Für Müll­ei­mer sind die zu schlau, Lie­se«, sag­te er dann. »Das kön­nen die ja ge­ra­de, im Müll rum­wüh­len! Na, ich wer­de schon se­hen, wo ich da­mit erst ein­mal blei­be. Mach bloß schnell mit dem Zim­mer! Die kön­nen jede Mi­nu­te kom­men!«

Vor­läu­fig stan­den sie noch auf dem Hof, der Bark­hau­sen bei ih­nen.

Der Bark­hau­sen hat­te den Schreck zu­erst ab­ge­kriegt, und am stärks­ten. Er war da seit dem frü­hen Mor­gen auf dem Hof her­um­ge­stri­chen, ge­quält von sei­nem Hass auf die Per­sickes und sei­ner Gier nach den ent­schwun­de­nen Sa­chen. Er woll­te doch we­nigs­tens wis­sen – und so be­ob­ach­te­te er stän­dig das Trep­pen­haus, die Fens­ter vor­ne …

Plötz­lich war da et­was ganz dicht bei ihm nie­der­ge­stürzt, so nah und aus großer Höhe, es hat­te ihn ge­streift. Der Schre­cken war ihm der­art in die Glie­der ge­fah­ren, dass er sich ge­gen die Hof­wand lehn­te, und gleich dar­auf muss­te er sich auf die Erde set­zen, es wur­de ihm schwarz vor den Au­gen.

Dann war er wie­der hoch­ge­fah­ren, denn plötz­lich hat­te er ge­merkt, dass er ne­ben Frau Ro­sen­thal auf dem Hofe saß. Gott, da hat­te sich also die alte Frau aus dem Fens­ter ge­stürzt, und wer dar­an schuld war, das wuss­te er auch.

Bark­hau­sen sah gleich, dass die Frau tot war. Ein biss­chen Blut war aus ih­rem Mund ge­lau­fen, aber das ver­un­stal­te­te sie kaum. Auf dem Ge­sicht lag ein sol­cher Aus­druck von tie­fem Frie­den, dass selbst der er­bärm­li­che klei­ne Spit­zel weg­se­hen muss­te. Da­bei fiel sein Blick auf ihre Hän­de, und er sah, dass sie in der einen Hand et­was hielt, ein Schmuck­stück, des­sen Stei­ne leuch­te­ten.

Bark­hau­sen warf einen arg­wöh­ni­schen Blick um sich. Wenn er et­was tun woll­te, muss­te es schnell ge­sche­hen. Er bück­te sich; von der To­ten ab­ge­wandt, so­dass er ihr nicht ins Ge­sicht se­hen muss­te, zog er ihr das Sa­phi­r­arm­band aus der Hand und ließ es in sei­ner Ho­sen­ta­sche ver­schwin­den. Wie­der sah er arg­wöh­nisch um sich. Ihm war, als wür­de bei den Quan­gels das Kü­chen­fens­ter vor­sich­tig ge­schlos­sen.

Und da ka­men sie schon über den Hof ge­lau­fen, drei Mann, und wer die zwei an­de­ren wa­ren, das sah er auch gleich. Nun kam es dar­auf an, dass er sich von An­fang an rich­tig be­nahm.

»Da hat sich eben die Frau Ro­sen­thal aus dem Fens­ter ge­stürzt, Herr Kom­missar«, sag­te er, als mel­de er ein ganz all­täg­li­ches Er­eig­nis. »Bei­na­he wäre mir die Frau auf den Kopf ge­fal­len.«

»Wo­her ken­nen Sie mich denn?«, frag­te der Kom­missar bei­läu­fig, wäh­rend er sich mit dem Fried­rich über die Tote beug­te.

»Ich kenn Sie nicht, Herr Kom­missar«, sag­te Bark­hau­sen. »Ich hab’s mir bloß ge­dacht. Weil ich näm­lich manch­mal was für den Herrn Kom­missar Esche­rich ar­bei­ten darf.«

»So!«, sag­te der Kom­missar nur. »So. Dann blei­ben Sie hier noch mal ein biss­chen ste­hen. Sie, jun­ger Mann«, wand­te er sich zu Per­si­cke, »pas­sen Sie mal ein biss­chen auf, dass uns die­ser Jun­ge nicht ver­lo­ren­geht. Fried­rich, sorg da­für, dass kei­ne Leu­te auf den Hof kom­men. Sag dem Fah­rer Be­scheid, er soll in der Tor­fahrt auf­pas­sen. Ich geh nur mal rasch in Ihre Woh­nung te­le­fo­nie­ren!«

Als der Herr Kom­missar Rusch vom Te­le­fo­nie­ren auf den Hof zu­rück­kam, hat­te sich die Lage dort ein we­nig ge­än­dert. In den Fens­tern des Hin­ter­hau­ses la­gen über­all Ge­sich­ter, es stan­den auch ein paar Leu­te auf dem Hof – aber fer­ne. Die Lei­che war jetzt mit ei­nem La­ken zu­ge­deckt, das et­was zu kurz war, die Bei­ne der Frau Ro­sen­thal sa­hen bis zu den Kni­en dar­un­ter her­vor.

Der Herr Bark­hau­sen aber sah et­was gelb im Ge­sicht aus und trug jetzt Hand­kett­lein. Von der Hof­sei­te her be­ob­ach­te­ten ihn schwei­gend sei­ne Frau und die fünf Kin­der.

»Herr Kom­missar, ich pro­tes­tie­re da­ge­gen!«, rief Bark­hau­sen jetzt jäm­mer­lich. »Ich habe das Arm­band be­stimmt nicht in die Kel­ler­lu­ke ge­wor­fen. Der jun­ge Herr Per­si­cke hat einen Hass auf mich …«

Es stell­te sich her­aus, dass Fried­rich, von der Er­le­di­gung sei­ner Auf­trä­ge zu­rück­ge­kehrt, so­fort be­gon­nen hat­te, nach dem Arm­band zu su­chen. Frau Ro­sen­thal hat­te es in der Kü­che doch noch in der Hand ge­habt – gra­de um die­ses Arm­ban­des wil­len, das sie durch­aus nicht los­las­sen woll­te, war ja ein ge­wis­ser Är­ger bei Fried­rich ent­stan­den. Und in die­sem Är­ger hat­te er nicht wie sonst auf­ge­passt, und die Frau hat­te ihm den Streich mit dem Fens­ter spie­len kön­nen. Das Arm­band muss­te also hier ir­gend­wo auf dem Hof lie­gen.

Als der Fried­rich so her­um­zu­su­chen an­fing, hat­te Bark­hau­sen an der Haus­wand ge­stan­den. Plötz­lich hat­te Bal­dur Per­si­cke et­was blit­zen ge­se­hen, und dar­auf hat­te es in der Kel­ler­lu­ke ge­ra­schelt. Er hat­te gleich nach­ge­se­hen, und – sie­he! – da lag das Arm­band in der Luke!

»Ich hab’s be­stimmt nicht rein­ge­wor­fen, Herr Kom­missar!«, be­teu­er­te Bark­hau­sen angst­voll. »Es muss von der Frau Ro­sen­thal fort­ge­fal­len sein in das Kel­ler­loch!«

»So!«, sag­te der Kom­missar Rusch. »So ein Vo­gel bist du also! So ein Vo­gel ar­bei­tet also für mei­nen Kol­le­gen Esche­rich! Das wird mei­nen Kol­le­gen Esche­rich mäch­tig freu­en, so was zu hö­ren!«

Aber wäh­rend der Kom­missar so ganz fried­lich vor sich hin schwätz­te, ging sein Blick zwi­schen dem Bark­hau­sen und dem Bal­dur Per­si­cke hin und her, hin und her. Dann fuhr Rusch fort: »Na, ich den­ke, du wirst nichts da­ge­gen ha­ben, uns auf ei­nem klei­nen Spa­zier­gang zu be­glei­ten? Oder?«

»Aber nein!«, ver­si­cher­te Bark­hau­sen, zit­ter­te da­bei, und sein Ge­sicht wur­de noch fah­ler. »Aber ger­ne kom­me ich mit! Mir liegt ja am meis­ten dar­an, dass al­les rich­tig auf­ge­klärt wird, Herr Kom­missar!«

»Na, dann ist’s ja schön!«, sag­te der Kom­missar tro­cken. Und nach ei­nem ra­schen Blick auf Per­si­cke: »Fried­rich, nimm dem Mann die Hand­fes­sel ab. Der kommt auch so mit. Oder?«

»Ge­wiss kom­me ich mit! Ge­wiss doch, ger­ne!«, ver­si­cher­te Bark­hau­sen eif­rig. »Ich lauf nicht weg. Und wenn auch – Sie wür­den mich ja doch über­all ein­fan­gen, Herr Kom­missar!«

»Rich­tig!«, sag­te der wie­der tro­cken. »So ’n Vo­gel wie dich fan­gen wir über­all!« Er un­ter­brach sich. »Da ist ja auch schon der Un­fall­wa­gen. Und die Po­li­zei. Da wol­len wir mal se­hen, dass wir den Kram schnell hin­ter uns brin­gen. Ich habe heu­te früh noch mehr zu tun.«

Spä­ter, als sie dann »den Kram schnell hin­ter sich ge­bracht« hat­ten, stie­gen der Kom­missar Rusch und der jun­ge Per­si­cke noch ein­mal die Trep­pen zur Ro­sent­hal’­schen Woh­nung hin­auf. »Bloß, um das Kü­chen­fens­ter zu­zu­ma­chen!«, hat­te der Kom­missar ge­sagt.

Auf der Trep­pe blieb der jun­ge Per­si­cke plötz­lich ste­hen. »Ist Ih­nen nicht was auf­ge­fal­len, Herr Kom­missar?«, frag­te er flüs­ternd.

»Mir ist Ver­schie­de­nes auf­ge­fal­len«, er­wi­der­te Kom­missar Rusch. »Aber was ist denn dir zum Blei­stift auf­ge­fal­len, mein Jun­ge?«

»Fällt Ih­nen nicht auf, wie still das Vor­der­haus ist? Ha­ben Sie nicht dar­auf ge­ach­tet, dass im Vor­der­haus kein Kopf zum Fens­ter hin­aus­ge­se­hen hat, und im Hin­ter­haus ha­ben sie doch über­all ge­guckt! Das ist doch ver­däch­tig. Die müs­sen doch was ge­merkt ha­ben, die hier im Vor­der­haus. Die wol­len nur nichts ge­merkt ha­ben. Sie müss­ten jetzt ei­gent­lich gleich Haus­su­chun­gen bei de­nen ma­chen, Herr Kom­missar!«

»Und bei den Per­sickes wür­de ich da­mit an­fan­gen«, ant­wor­te­te der Kom­missar und stieg ru­hig wei­ter trepp­auf. »Bei de­nen hat näm­lich auch kei­ner aus dem Fens­ter ge­se­hen.«

Bal­dur lach­te ver­le­gen auf. »Mei­ne Brü­der von der SS«, er­klär­te er dann, »die ha­ben sich bei­de ges­tern Abend so bild­schön be­sof­fen …«

»Mein lie­ber Sohn«, fuhr der Kom­missar fort, als hät­te er nichts ge­hört. »Was ich tu, das ist mei­ne Sa­che, und was du tust, das ist dei­ne Sa­che. Ratschlä­ge von dir sind un­er­wünscht. Da­für bist du mir noch zu grün.« Er sah, im Stil­len be­lus­tigt, über die Schul­ter in das be­knif­fe­ne Ge­sicht des Jun­gen. »Jun­ge«, sag­te er dann, »wenn ich hier kei­ne Haus­su­chun­gen mehr ma­che, so nur dar­um, weil die viel zu viel Zeit ge­habt ha­ben, al­les Be­las­ten­de weg­zu­schaf­fen. Und wozu so viel Auf­stand um ’ne tote Ju­den­frau? Ich habe mit den le­ben­di­gen ge­nug zu tun.«

Sie wa­ren un­ter­des vor der Woh­nung der Ro­sent­hals an­ge­langt. Bal­dur schloss auf. In der Kü­che wur­de das Fens­ter ge­schlos­sen und ein Stuhl wie­der auf­ge­stellt, der um­ge­fal­len war.

»So!«, sag­te der Kom­missar Rusch und sah sich um. »Al­les in bes­ter But­ter!«

 

Er ging vor­an in die Stu­be und setz­te sich in das Sofa, auf ge­nau die Stel­le, wo er eine Stun­de zu­vor die alte Frau Ro­sen­thal in eine völ­li­ge Ohn­macht hin­ein­ge­beu­telt hat­te. Er streck­te sich be­hag­lich und sag­te: »So, mein Sohn, und nun hole uns ein­mal eine Fla­sche Ko­gnak und zwei Glä­ser!«

Bal­dur ging, kam dann zu­rück, schenk­te ein. Sie pros­te­ten ein­an­der zu.

»Schön, mein Sohn«, sag­te der Kom­missar be­hag­lich und brann­te sich eine Zi­ga­ret­te an, »und nun er­zähl mir mal, was du und der Bark­hau­sen hier schon in der Woh­nung vor­ge­habt habt!«

Er sag­te schnel­ler, als er die em­pör­te Be­we­gung des jun­gen Bal­dur Per­si­cke sah: »Über­leg dir’s gut, mein Sohn! Even­tu­ell neh­me ich so­gar einen HJ-Füh­rer mit in die Prinz-Al­brecht-Stra­ße, wenn er mich näm­lich gar zu un­ver­schämt an­sohlt. Über­leg dir’s, ob du nicht die Wahr­heit vor­ziehst. Vi­el­leicht bleibt die Wahr­heit ganz un­ter uns, wol­len mal se­hen, was du zu er­zäh­len hast.« Und da er Bal­dur schwan­ken sah: »Ich hab näm­lich auch ein paar Beo­b­ach­tun­gen ge­macht, Ob­ser­va­tio­nen nen­nen wir so was. Zum Blei­stift habe ich dei­ne Stib­belsoh­len da hin­ten auf der Bett­wä­sche ge­se­hen. In die Ecke bis­te heu­te noch gar nicht ge­kom­men. Und wo­her has­te ei­gent­lich so schnell ge­wusst, dass hier Ko­gnak ist und wo er steht? Und was denkst du, was mir der Bark­hau­sen al­les in sei­ner Angst er­zählt? Nee, habe ich das nö­tig, hier sit­zen und mich von dir an­lü­gen las­sen? Da­für bis­te mir noch zu grün!«

Das sah der Bal­dur auch ein, und er pack­te aus.

»So!«, sag­te der Kom­missar schließ­lich. »So. Na ja, je­der tut, was er kann. Die Dum­men Dum­mes und die Klu­gen oft noch was viel Düm­me­res. Na, mein Sohn, zum Schluss bis­te ja denn doch noch schlau ge­wor­den und hast den Va­ter Rusch nicht an­ge­lo­gen. So was soll nicht un­be­lohnt blei­ben. Was möchts­te hier denn ger­ne ha­ben?«

Bal­durs Au­gen leuch­te­ten auf. Eben noch war er völ­lig ent­mu­tigt ge­we­sen, aber nun sah er wie­der Licht.

»Den Ra­dio­ap­pa­rat mit dem Plat­ten­spie­ler und den Plat­ten, Herr Kom­missar!«, flüs­ter­te er gie­rig.

»Na schön!«, sag­te der Kom­missar gnä­dig. »Ich habe dir ja ge­sagt, vor sech­se kom­me ich nicht wie­der hier­her. Sonst noch was?«

»Vi­el­leicht ein oder zwei Hand­kof­fer mit Wä­sche!«, bat Bal­dur. »Mei­ne Mut­ter ist mäch­tig knapp mit Wä­sche!«

»Gott, wie rüh­rend!«, spot­te­te der Kom­missar. »Was für ’n rüh­ren­der Sohn! So ’n rich­ti­ges er­grei­fen­des Mut­ter­söhn­chen! Na, mei­net­hal­ben! Da­mit ist dann aber auch Schluss! Für al­les an­de­re bist du mir ver­ant­wort­lich! Und ich habe ein ver­dammt gu­tes Ge­dächt­nis da­für, wie was steht und liegt, mich legst du so leicht nicht rein! Und wie schon be­merkt, in je­dem Zwei­fels­fall Haus­su­chung bei den Per­sickes. In je­dem Fall ge­fun­den: ein Ra­dio­ap­pa­rat mit Plat­ten­spie­ler, zwei Hand­kof­fer mit Wä­sche. Aber kei­ne Angst, Sohn, so­lan­ge du re­ell bist, bin ich’s auch.«

Er ging zur Tür. Er sag­te noch, über die Schul­ter weg: »Üb­ri­gens, wenn die­ser Bark­hau­sen hier wie­der auf­tau­chen soll­te, es gibt kei­ne Stän­ke­rei­en mit ihm. Ich mag so was nicht, ver­stan­den?«

»Ja­wohl, Herr Kom­missar«, ant­wor­te­te Bal­dur Per­si­cke ge­hor­sam, und da­mit trenn­ten sich die bei­den Her­ren – nach ei­nem so er­folg­reich ver­brach­ten Mor­gen.

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