Es war mühsam für Kufalt, wirklich wach zu werden, sich zu erinnern, was geschehen war und wo er lag.
Noch ehe er die Augen öffnete, während das Bewusstsein langsam in ihn zurückkehrte, hatte er von außen ein Gefühl von Kälte, von Nässe. Er zog die Knie an, seine Hände tasteten umher, als suchten sie eine Decke. Dann war eine Weile wieder alles fort, aber wieder kam die Kälte, wieder griffen die Hände vergeblich nach der Decke.
Diesmal öffnete er ein wenig die Augen und schloss sie wieder sofort: Eine trübe, graue Luft stand um ihn, durch die Schneeteilchen trieben. Er musste sich geirrt haben.
Aber die Kälte wurde schlimmer, er setzte sich langsam auf, sein Kopf war seltsam dumpf und benommen. Er sah verständnislos um sich. Dann unterschied er im dicken, diesigen Grau der späten Dämmerung Büsche um sich, einen Baumstumpf, halb verschneit. Er schloss wieder die Augen. Er musste doch noch träumen.
Die Kälte drang immer mahnender auf ihn ein, und als er die Augen zum zweiten Mal öffnete, zum zweiten Mal dieselben kahlen Büsche, denselben verschneiten Baumstumpf sah, versuchte er, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war.
Sein Kopf schmerzte unsinnig, es war ihm, als müsste er springen. Er fasste mit den Händen danach, spürte Schwellungen und Beulen – und langsam kehrte die Erinnerung zurück an Batzke, an die Schläge, die er bekommen hatte.
Er stand taumelnd auf. Er sah sich um. Nein, er lag nicht auf dem Weg, wo er seine Auseinandersetzung mit Batzke gehabt hatte, er lag irgendwo in einem Gebüsch, in das ihn der andere geschleppt haben musste.
Er entdeckte im Schnee etwas Schwärzliches, hob es auf. Es war sein Hut. Er behielt ihn in der Hand und ging langsam los.
Er hatte nicht weit zu gehen. Nur sechs oder acht Schritte. Da stand er auf jenem Weg, auf dem er von Batzke überrumpelt war. Viel Mühe hatte der sich nicht mit ihm gegeben. Und trotzdem hatte er nicht nur Minuten, sondern Stunden unentdeckt gelegen. Es war schon fast dunkel.
Nur, dass er gerade für die ersten Minuten außer Sicht war.
Das Gehen wurde ihm sehr schwer, alle paar Schritte überkamen ihn Schwindelanfälle, dann warf er sich rasch gegen irgendeinen Baum, um nicht zu fallen. Nur nicht auf die Erde! Es würde zu schwer sein, wieder hochzukommen.
Und während er die fünf oder zehn Minuten Weg, die er vor ein paar Stunden leicht gegangen war, mühsam entlangstolperte, dachte er ununterbrochen an sein gemütliches Zimmer bei der Fleege, an sein Bett, an die angebrochene Flasche mit Kognak, die noch im Schrank stand, wie gut ihm das tun würde! An Batzke, an die Ringe, an das Geld dachte er gar nicht mehr. Er war nichts wie ein verwundetes Tier, das nur den einen Trieb hat, sich in seiner Höhle zu verkriechen.
Aber allmählich, während er weiterging, während die Schwindelanfälle seltener wurden, der Schritt fester, wurde auch das Erinnern stärker. Erst war es wie bei einem Menschen, der etwas sagen will, und gerade im Moment, wo er es aussprechen möchte, hat er vergessen, was eigentlich. Es war doch noch etwas zu bedenken, es war doch noch etwas nicht in Ordnung! Was war eigentlich los mit der Wohnung?
Dann kam es: Er sitzt auf der Bettkante, jemand spricht mit ihm. Er steht auf, fängt an, sich anzuziehen. Sind Sie eigentlich Fetischist? fragt der andere. Er sieht ihn, oh, er sieht ihn, als stünde er jetzt hier im winterlich verlassenen Stadtpark, der Bulle, der die Heimkehr zur Wohnung unmöglich macht.
Der Schwindel kreist wieder in ihm. Er hält sich an einem Baum fest. Plötzlich packt ihn Schüttelfrost. Er klappert mit den Zähnen und muss sich erbrechen.
Habe Schiss, denkt er.
Dann lässt der Anfall nach, aber er bleibt noch sehr lange fast bewegungslos dort stehen, an seinem Baum. Der Abend rückt weiter vor. Es ist ihm, als peitschte ihn der Schnee immer kälter und böser, als heulte der Wind immer stärker.
Geräusche werden laut um ihn, Laub raschelt, ein Ast reibt sich knarrend an einem anderen – eine dunkle Erinnerung überkommt ihn an eine andere solche Nacht. Damals war ein Mädchen bei ihm, wie hieß sie doch? Und damals ging es auch nicht gut aus. – Vorbei, verloren.
Schließlich geht er wieder weiter. Er geht nur weiter, weil er eben einfach nicht ewig dort stehenbleiben kann. Ginge das, bliebe er dort stehen. Aber nun geht er langsam weiter. Die Lichter des Parkcafés kommen in Sicht. Nun gut. Er kann sich nicht an die Menschen um Hilfe wenden. Aber er kann einen oder zwei Schnäpse trinken. Das wird ihn aufmuntern.
Flüchtig denkt er daran, wie er wohl aussehen mag. Ob er so ohne aufzufallen ins Café gehen kann. Er klopft den Schnee vom Mantel, so gut es geht, setzt den Hut zurecht und wartet den Schein einer Laterne ab, um sich in seinem Taschenspiegel zu mustern.
Es ist ein geisterhaft bleiches Gesicht, das ihn aus dem kleinen Scherben anschaut. Aber das kann die Beleuchtung machen. Das ist nicht so schlimm. Am Kinn ist eine dicke, rote Schwellung. Batzke hat nicht sanft zugeschlagen. Auf der Mitte der Schwellung ist die Haut geplatzt und Blut herausgetreten. Er sucht in seiner Brusttasche nach seinem Taschentuch und reibt das Blut ab. So, nun kann er ins Café gehen.
Nein, er kann nicht gehen. Schon als er den Taschenspiegel aus der Westentasche nahm, dann, als er aus der Brusttasche das Taschentuch holte, hatte er ein deutliches Gefühl gehabt, dass nicht alles an ihm in Ordnung war. Er griff in seine Brusttasche, in die andere, auf der linken Seite, und siehe, es ist richtig, der Laden stimmt, die Brieftasche mit seinen Papieren und seinen siebenhundert Mark ist fort!
Einen Augenblick denkt er daran, zurückzugehen an die Stelle, wo er lag, ob sie ihm nicht etwa herausgerutscht ist. Aber es lohnt sich nicht. Die Brieftasche war etwas zu groß gewesen. Sie hatte immer zu stramm in der Tasche gesessen, sie konnte nicht von selbst herausrutschen. Das hatte Freund Batzke getan. Nicht Kippe gemacht, ihn halbtot geschlagen und dann noch um sein letztes Geld erleichtert. Es war alles richtig. Es passte alles haargenau in diese letzten Wochen, in denen es immer tiefer bergab ging, einem Ende zu, vor dem man wohl die Augen schließen konnte, aber das deswegen nicht weniger sicher herankam.
Nein. Jetzt, wo er allen Grund dazu gehabt hätte, war keine Rede von Wut oder Verzweiflung. Im Gegenteil. Es war gerade so, als hätte sich an diesem letzten, schlimmsten Schlag seine schon fast verbrauchte Widerstandskraft von Neuem entzündet. Auf diesem schmerzvollen Weg, mit dem immer wieder versagenden Kopf hatte er zuerst den Gedanken aufgeben müssen an die Hilfe der Menschen: Er war allein. Dann den Gedanken an sein Heim bei der alten, herzensguten Frau: Er hatte kein Heim mehr. Dann den Gedanken an Geld: Sein bisschen mühsam zusammengekratztes, gefahrvoll zusammengestohlenes Geld hatte ihn auch verlassen.
Es gab auch nicht mehr die Hilfe Alkohol für ihn. Was es an Hilfe gab, musste aus ihm selbst kommen. Früher, in Wochen, da es ihm noch verhältnismäßig gut gegangen war, hatte er vielleicht einmal daran denken können, sich freiwillig auf einer Polizeiwache zu stellen oder etwas auszufressen, bei dem er gekitscht wurde, dass er nur wieder in die Heimat, das Kittchen, kam – jetzt dachte er nicht einmal an so etwas.
Jetzt stand er unter seinem Baum, halb erfroren, halbtot geschlagen, und grübelte über einen Plan, wie er noch einmal zu Geld kommen und noch einmal sich die Freiheit erwerben könnte, mit der er doch nichts anzufangen wusste.
Das Gemüsegeschäft von Frau Lehmann liegt nicht in der Fuhlentwiete selbst, sondern um die Ecke herum, in der Neustädter Straße. Kufalt ist dort bekannt als Herr Lederer. Er hat sich da nach der Katze Pussi von Frau Pastor Fleege erkundigt. Auch hat er manchmal bei Frau Lehmann für sich oder seine Wirtin eingekauft.
So wird er dort freundlich begrüßt, als er wenige Minuten nach sieben auftaucht und noch zehn Eier und zwei Flaschen Bier verlangt. Er bekommt sie. Aber während sie noch zusammengepackt werden und ehe er noch bezahlen kann, wird dem armen Herrn Lederer schlecht. Frau Lehmann muss ihm schnell einen Stuhl hinschieben und lässt das letzte Dienstmädchen, das noch im Laden steht, schnell in die Kneipe an der Ecke laufen, um ein Achtel Kognak für den Herrn zu holen.
Es muss ihm sehr schlecht gehen. Er ist auf der Straße gefallen, erzählt er zwischendurch. Gerade auf einen Kantstein mit dem Kinn, und in seinem Kopf dreht es sich noch immer, sagt er.
Als das Mädchen mit dem Kognak kommt, will Frau Lehmann es noch zu der Frau Pastorin Fleege schicken, aber dem widersetzt sich Herr Lederer energisch. Die alte siebzigjährige Frau könnte von einem solchen Schrecken den Tod haben, und es ginge doch gleich vorüber. Wenn er sich nur fünf Minuten in das warme Zimmer hinter dem Laden setzen dürfte?
Das darf er natürlich. Er nimmt sein Achtel Kognak mit, und dann, während Frau Lehmann den Laden aufräumt, bittet er noch einmal, schon etwas munterer, um zwanzig Zigaretten. Er bekommt sie und verschwindet wieder im Hinterzimmer. Die Tür macht er zu.
Als er in der Hinterstube ist, trinkt er zuerst rasch den Kognak aus, brennt sich dann eine Zigarette an, öffnet das Fenster und springt auf den Hof.
Er kennt den Hof gut. Da stehen die Müllkästen, in denen Pussi so gern nach Bücklingsresten stöberte. Er steigt auf einen Müllkasten und zieht sich an der Mauer hoch. Nun ist er in einem Garten, der um diese Jahreszeit ganz verlassen ist. Er geht rasch hindurch, zieht sich auf der anderen Seite wieder hoch und steht auf dem Hof des Fleegeschen Hauses.
Jetzt kommt das Schwerste. Er muss vom Hof in das beleuchtete Treppenhaus gehen, und vielleicht steht der Greifer, den er vorhin in der Fuhlentwiete gesehen hat, gerade vor der Haustür. Oder kommt gerade an die Haustür und entdeckt ihn im Treppenhaus, wenn er, offen jedem Blick, die Treppe zur Fleegeschen Wohnung hinaufsteigt.
Aber es muss gewagt werden, und Zögern ist sinnlos. So geht er rasch ins Treppenhaus, steigt die Treppe hinauf und schließt die Tür auf. Erst beim Aufschließen kann er einen Blick hinunter wagen: Die Luft ist rein. Nun kommt es nur noch darauf an, dass auch der Rückweg glatt gelingt.
Er hat ganz leise aufgeschlossen, er ist ganz leise eingetreten. Dann zieht er lautlos die Entreetür hinter sich zu und bleibt lauschend stehen. In der Küche, gleich neben ihm, ist Licht und Geklapper von Töpfen. Die alte Frau macht ihr Abendessen. Er täte ihr ungern was. Gut so.
Er geht gar nicht erst in sein Zimmer. Er geht sofort in ihr Wohnzimmer und schließt die Tür leise hinter sich. Es ist dunkel darin. Aber nicht sehr dunkel. Die Straßenlampen werfen einen Lichtschein gegen die Decke, und er kann deutlich auf dem Fenstertritt den kleinen Nähtisch stehen sehen. Er braucht nur einen Augenblick mit den Händen zu tasten und hat schon den Schlüsselkorb gefunden. Es ist ein ganzes Schlüsselbund darin, aber das will er nicht. Seine Finger suchen weiter und finden unter einem Taschentuch den glatten Einzelschlüssel mit dem gezackten Bart.
Auf Zehenspitzen geht er rasch an das Vertiko, sucht mit der einen Hand im Dunkeln das Schlüsselloch, führt den Schlüssel ein, öffnet die Tür, die ein wenig knarrt, und steht einen Augenblick lauschend: nichts. Seine Finger tasten im obersten Fach, fassen den glatten, hohen Nähkasten aus Holz, heben ihn heraus. Er trägt ihn an den Sofatisch, schlägt ihn auf, nimmt den Einsatz heraus, setzt ihn neben den Kasten – und in diesem Augenblick knackt es an der Tür, das Licht geht an, die alte Frau Pastorin Fleege steht in der Tür.
Er steht wie erstarrt.
Sie blickt ihn fassungslos an. Er sieht das Entsetzen in ihrem Gesicht, ihr Unterkiefer fängt an zu zittern, über das alte, faltige Frauengesicht laufen Tränen …
Er weiß nicht, was er tun soll. Da steht sie und weint. Er sieht verwirrt in den Kasten. Er macht die Schachtel auf, sieht das Geld, das Sparbuch, seine Hand greift danach …
»Oh, Herr Lederer …«, flüstert sie.
Plötzlich hört er sich sprechen. Hört sich selbst sprechen, während er das Geld wegstopft, das Sparbuch, hört sich flüstern: »Setzen Sie sich hin, schnell, keinen Laut. Ich tu Ihnen nichts.«
Sie flüstert noch einmal, noch entsetzter, noch fassungsloser: »Herr Lederer …« Dann macht sie eine Bewegung, als wollte sie hinaus auf den Flur.
Er ist in drei Sprüngen bei ihr. Er umfasst die kleine, gebrechliche, wehrlose, zitternde Gestalt. Er legt die Hand über den Mund der Schluchzenden, zerrt die Frau durch das Wohnzimmer in das Schlafzimmer, legt sie auf das Bett und flüstert noch einmal: »Liegen Sie nur drei Minuten ruhig! Dann dürfen Sie schreien.«
Er läuft aus dem Schlafzimmer, wieder in das Wohnzimmer, sieht sich einen Augenblick verwirrt um: Wo hat er seinen Hut? Ach, er ist wahnsinnig, er hat seinen Hut auf dem Kopf. Gleich wird sie schreien.
Er ist schon auf dem Gang, läuft auf die Entreetür zu und steht einen Augenblick lauschend still.
Nichts, alles totenstill. Kein Laut. Er fasst die Klinke. Er drückt sie behutsam herunter, Zentimeter um Zentimeter öffnet er lautlos die Tür, späht in den Flur, sieht nichts, tritt rasch heraus – und steht vor seinem Kriminalbeamten.
»Na also, Kufalt, habe ich Ihnen nicht versprochen, dass ich Sie wiederfinde?!« Und zu einem anderen von der Schmiere, der dahinter steht: »Sehen Sie gleich nach in der Wohnung, ob er nicht auch da noch Geschichten gemacht hat.« Und wieder zu Kufalt: »Na, wie ist Ihnen denn so? Nicht sehr erfreut, was?«
Das Haus lag am obersten Punkt einer Berggasse, gleich unterhalb des Burgbergs. Die Stube des Schülers lag vier immer enger und steiler werdende Treppen hoch, in der obersten Spitze des Hausgiebels.
Trat der Schüler an sein Fenster, und der Tag war klar, so sah er über die Dächer der kleinen Stadt fort, über das mäßig weite Flusstal fort, über die sanften Laubhügel, die die andere Seite des Tals begrenzten, fort bis zu jenen schroffen Basaltfelsen mit ihren dunklen Tannen und Fichten, die »der Uhu« hießen.
Er sah oft dahin, denn unterhalb des Uhus, eine schwache Stunde nur zu gehen, lag seine Heimat, Rittergut Triebkendorf.
Der Schüler steht am Fenster, er geht in Gedanken den steilen Fußpfad den Uhu abwärts. Abfließender Regen hat den Lehm vom Wege gewaschen, er klettert vorsichtig über Felsblock auf Felsblock. Manche Steine sind fest eingesponnen von den zähen Stricken losgespülter Wurzeln, andere schwanken leise, als wollten sie unter seinem Fuß abstürzen.
Allmählich wird der Pfad weniger steil, die Bäume treten dichter an ihn heran, er geht nun wie in einer kühlen grünen Halle. Dann wird es heller vor ihm, er tritt hinaus aus dem Wald, der Bergzug ist über Hügel in eine fruchtbare Ebene ausgelaufen.
Noch ein paar Schritte, der Fahrweg geht um eine Heckenecke, und vor dem Jungen liegt das Dorf. Kaum Dorf, mehr Gut, mit den langen, öden Leutehäusern der Deputanten, um die es immer feucht nach faulen Kartoffeln riecht.
Nun taucht am Ende des Weges die große Torfahrt zum Rittergutshof in der schwarzgrauen Feldsteinmauer auf. Geradezu, am anderen Ende des Hofes, der von Scheunen, Stallungen und Schuppen begrenzt ist, liegt das Herrenhaus. Aber nicht das ist wichtig. Wichtiger ist gleich rechts vorn das kleine rote Backsteinhaus, mit den sechs Fenstern unter dem tiefen Dach, das die Heimat des Jungen ist. Es ist nichts, gar nichts. Ein roter Kasten, ein Inspektorenhaus, wie es auf tausend Rittergütern steht, innen mit getünchten Wänden, abgetretenen Dielen, verräucherter Küche – aber hier ist er zu Haus.
Zwei Linden stehen vor der Tür, sie sind hoch und stark, weit reichen sie über Dachfirst und Schornstein hinaus. Sie sind immer dagewesen, seit er ganz klein war, er kann sich nicht erinnern, dass sie je weniger stolz und schirmend waren. Wenn das Wetter nur einigermaßen war, so hatte die Mutter den Wagen mit dem Kind hinausgeschoben. Es hatte hinaufgesehen in die grün verwunschene, durchgoldete Blätterwildnis, die sich sachte verschob, wenn der Wind ging, es hatte auch danach gegriffen.
Es lernte die Bäume kennen, wenn sie noch hell und schütter waren und überall der Himmel durch die knorrigen, schwarzen Schlangen der Äste hindurchschaute. Später dann, wenn sie voller wurden, und man sah nichts mehr als Grün, Grün, Grün. Bald blühten sie, und die Bäume erklangen wie große Glocken von dem unablässigen Gesumm der Bienen. Am Ende wurden die Blätter schlaff und gelblich, sie lösten sich erst einzeln, dann wurden es ihrer mehr und mehr. Jeder Windstoß trieb sie über den Hof, sie häuften sich in den Tränksteinen der Pferde, an den Feldsteinmauern der Stallungen und erfüllten alles mit ihrem scharfen und trüben Geruch.
Als der Schüler, größer geworden, aus dem Schlafzimmer der Eltern in die Giebelstube umzog, allein schlafen lernte, da waren es die Linden, die ihn trösteten, wenn er sich in der einsamen Leere der Nacht ängstigen wollte – er kannte jeden Laut von ihnen, er war ja an ihnen groß geworden.
Der Schüler steht am Fenster des Pastorenhauses in der Berggasse und starrt auf den Uhu. Er meint, den glatten, über eine Näharbeit gesenkten Scheitel der Mutter am Fenster zu sehen. Aus dem Pferdestall kommt der Vater, die Reitpeitsche in der Hand. Er bleibt stehen unter dem Holzgestell in der Hofmitte, an dem eine ausgediente Pflugschar hängt.
Der Vater zieht die Uhr, er wartet noch einen Augenblick, dann sagt er zum Leutevogt: »Eins!« Und der Leutevogt schlägt mit dem Hammer gegen die Pflugschar, dass es hell und stählern über den Hof erklingt.
Aus der Stalltür taucht das erste Gespann Pferde auf. Gegenüber dem Inspektorenhaus stellen sich die Leute in Reihen an. Vorne die Hofgänger, erst die Jungen, dann die Mädels. Dahinter die Deputanten, erst die Frauen, dann die Männer …
Er sieht es, er hat es hundertmal gesehen, tausendmal. Darum kann er es auch jetzt sehen, vom Fenster im Pastorenhause über sieben Bergrücken, sieben Täler hin.
Nun beginnen die Glocken im Tal eilfertig zu klingeln, es ist Sonnabendnachmittag, Feierabend. Der Schüler seufzt. Er sieht nicht mehr den Uhu, er sieht über das Städtchen hin, drüben am Fluss liegt das Gymnasium, um dessentwillen er hier sein muss. Dann sieht er näher, in die Berggasse, in das Haus schräg gegenüber, in dem eine Schneiderstube ist. Dort packen sie auch zusammen, es ist ja Feierabend. Ein Geschwirr von jungen Mädchen ist beim Aufräumen. Es sind die höheren Bürgertöchter, die Nähstunde gehabt haben.
Wie schon oft fällt ihm wieder eine lustige schlanke Blonde auf, und als sie hersieht, nickt er hin.
Sie nickt wieder. So stehen sie eine Weile sich gegenüber an den Fenstern. Der Fünfzehnjährige und die kleine Blondine. Sie nicken einander zu und lachen.
Plötzlich hat er einen Gedanken. Er macht ihr ein Zeichen, läuft ins Zimmer, sieht sich auf seinem Tisch um, ergreift den leeren Briefumschlag, der vom heutigen Brief der Mutter noch dort liegt, und stürzt wieder ans Fenster.
Sie sieht ihm entgegen, er hebt den Briefumschlag hoch und nickt voller Bedeutung. Sie sieht zögernd zurück, nickt dann aber auch langsam …
Er stürzt fort vom Fenster, die Treppe hinunter.
Auf dem ersten Absatz bleibt er stehen, sie ist auch eine Treppe hinuntergelaufen, sie ist auch stehengeblieben. Er hebt den Brief wieder, und sie nicken beide.
Nächste Treppe, nächstes Nicken.
Letzte Treppe, letztes Nicken.
Auf mit der schweren, ächzenden, eichenen Haustür! Hinaus auf die holprige Kopfsteingasse.
In der Mitte, zwischen den beiden Häusern, auf der Gasse, treffen sie sich.
»Guten Tag«, sagt er befangen.
»Guten Tag«, antwortet sie verlegen.
Damit ist es erst einmal alle.
Sie sieht zögernd auf den Brief in seinen Händen. Ein komischer Umschlag, aufgerissen, mit einer Marke und einem Stempel darauf.
Er sieht auch auf den Umschlag.
»Geben Sie mir doch den Brief«, sagt sie schnell.
»Ich habe ja gar keinen«, sagt er. »Ich wollte ja nur, dass Sie runterkämen.«
Pause.
»Ich muss rauf«, sagt sie.
»Heute Abend um acht am Stadtwall«, schlägt er vor.
»Das geht nicht«, sagt sie. »Meine Mutti …«, sagt sie.
»Bitte!« sagt er.
Sie verzieht den Mund und sieht ihn an. »Ich will es versuchen«, sagt sie.
»Bitte!« sagt er.
»Acht, Stadtwall«, sagt er.
»Gut«, sagt sie.
Sie sehen sich an. Plötzlich müssen sie alle beide lachen.
»Sind Sie komisch mit Ihrem Brief!« lacht sie.
»Nicht wahr?« fragt er stolz. »Habe ich Sie doch endlich erwischt!«
»Also um acht!«
»Pünktlich!«
»Bis dahin!«
»Tjüs!«
Zurück in die Häuser. Zurück hinauf im Sturm die Treppen.
Es sind nur noch ein paar Stunden bis acht, bis acht sind’s nur ein paar Stunden – man kann das singen, entdeckt er.
Man kann es aber nicht lange singen.
Schon als er sieht, dass die dicke Schneiderin Gubalke mit dem weißen, kurzgeschnittenen Haar über die Gasse kommt, bei ihnen unten am Haus klingelt, hereingeht – schon da will er den Gesang abbrechen. Der Schüler zwingt sich, er singt weiter, aber es klingt jetzt spärlich, und zu oft setzt er aus, wenn er sich aus dem Fenster lehnt, um zu sehen, ob die Schneidermeisterin noch immer nicht zurückkommt.
Nein, sie kommt noch nicht, und die leere Schneiderstube drüben grinst ihn öde und hässlich an. Ein paar Stunden bis acht …? Eine endlose Zeit bis acht!
Da kommt sie. Sie geht über die Gasse zurück zu ihrem Haus, aber in der Tür dreht sie sich um und entdeckt den Schüler in seinem Fenster, sie blickt ihn böse an, ja, sie schüttelt die Faust gegen ihn. Dann knallt die Tür drüben zu.
Es kann so schlimm nicht werden. Ich habe ja eigentlich gar nichts getan, beruhigt er sich.
Doch schon klopft es an seiner Tür, und Mädchen Minna, ein älteres, bitteres Reibeisen, sagt: »Sie sollen zu Herrn Pastor kommen! Gleich!!«
»Schön«, sagt der Schüler und glättet vor dem Spiegel sein Haar mit dem Kamm.
»Gleich! Sofort!!«
»Komme ja schon.«
»Sie werden was erleben! Na!!«
»Zitrone …«, sagt der Schüler und geht die beiden Treppen hinunter in das Arbeitszimmer des Pastors.
Er klopft an, es wird »Herein« gerufen, ölig-sanft, und vor seinem Pastor steht der Schüler.
Sanft, viel zu sanft. Immerhin doch: Betrübnis und Enttäuschung. Leichtfertige Liebschaft, Entweihung des geistlichen Heims, unerlaubte Korrespondenz, überhaupt viel zu jung.
»Was soll denn später aus dir werden, wenn du so anfängst?«
»Ich habe doch gar keinen Brief geschrieben.«
»Dies Leugnen ergänzt dein Bild. Minna hat es auch gesehen, nicht nur Frau Gubalke. Die ganze Gasse wird es gesehen haben. Morgen weiß die Stadt, welch ein Mensch in meinem Heim wohnt …«
»Ich habe aber wirklich nicht …«
»Ich hege nicht die Absicht, mich mit dir zu unterhalten. Geh hinauf und pack deine Sachen. Dein Vater ist bereits telefonisch von mir benachrichtigt. Schon diese Nacht darfst du nicht mehr unter meinem Dach schlafen.«
Des Schülers Mund verzieht sich weinerlich …
»Bitte, Herr Pastor, ich bitte Sie …«
»Nichts. Erst fünfzehn und schon mit Mädchen. Pfui! Pfui! Ich sage pfui!«
Der geistliche Zeigefinger droht. Dann weist er gegen die Tür, und der Schüler hat nur zu gehen.
Oben ist er allein. Er versucht zu packen, muss aber weinen. Minna bringt noch seine Wäsche. »Ja, jetzt können Sie heulen! Pfui!«
»Raus, Zitrone!« brüllt er und kann nun auch nicht mehr heulen. Und indes der Tag mit all seinen fröhlichen, eiligen Sonnabendgeräuschen in den Abend übergeht, sitzt er da auf seinem Wachstuchsofa, auf einem Stuhl den halb gepackten Koffer, den er doch nicht ganz füllen mag, weil er immer noch nicht glauben kann, dass es wirklich ganz zu Ende ist …
Kurz nach sieben hört er die Fahrradklingel vom Vater. Er stürzt ans Fenster, er ruft: »Vati, komm doch erst rauf zu mir!«
Aber wenn der Vater auch nickt, so kommt er doch nicht. Sicher hat ihn der Pastor abgefangen. Vater hält sonst immer Wort.
Noch fünf Minuten Warten, dann knackt die Treppe unter Vaters festen Reitstiefeln, und er tritt ein.
»Na, mein Sohn? An den Wassern Babylons saßen sie und weinten? Zu spät! Zu spät! Erzähle schon deine Sünden!«
Vater ist immer herrlich. Wie da der große starke Mann am Tisch auf einem Stühlchen sitzt, in den Reithosen mit dem grauen Ledereinsatz, der grünen Joppe, mit dem gesunden, rotbraun gebrannten Gesicht und der schneeweißen Stirn darüber – weiß und rotbraun grenzen scharf aneinander, das macht der Mützenrand –, ja, wie er das schon sagt: Erzähl deine Sünden – da ist alles gleich leichter.
Er hört zu, gut hört er zu. »Schön«, sagt er schließlich. »Und weiter war nichts? – Schön. Geh ich noch mal runter zu deinem Pastor.«
Aber er war sehr schnell wieder da, mit etwas gerötetem Gesicht.
»Nichts zu machen, mein Sohn, du bist und bleibst ein Sündenschippel. Also kommst du zuerst mal mit mir nach Haus. Mutter wird sich bestimmt freuen.«
»Den Koffer lassen wir hier. Den kann morgen der Eli holen. Der muss sowieso in die Stadt. Soweit die Straße glatt ist, kannst du hinten auf dem Rad stehen. Nachher in den Bergen schieben wir beide. Um elf sind wir zu Haus.«
»Aber die Schule?«
»Fürchte, Söhnchen, mit dem Gymnasium ist es auch alle. Der wird dich bei deinem Direktor hübsch verklatschen. Das sehen wir morgen. Ich reite noch mal rüber.«
Und so gehen sie los. Der Vater links vom Rad, der Sohn rechts.
Minna lacht aus dem Küchenfenster.
»Sie Pute!« schreit der Vater plötzlich hochrot.
»Ich nenne sie immer die Zitrone«, erklärt der Sohn.
»Zitrone ist auch viel besser«, bestätigt der Vater.
»Du, Vater«, fängt der Sohn vorsichtig an.
»Na?«
»Es ist doch gleich acht …«
»Stimmt, der Zebedäus wird gleich schlagen.«
»Und wir kommen am Stadtwall vorbei …«
Der Vater pfiff langgedehnt. »Nachtigall, ich hör dir trapsen …«
»Es ist doch nur, weil ich sie bestellt habe. Ich kann sie doch nicht einfach versetzen. Adieu sagen möchte ich ihr doch.«
»Glaubst du, es ist richtig, wenn ich es dir erlaube …?«
»Ach, tu ’s doch, Vater, bitte!«
»Na schön. Richtig wird’s schon nicht sein. Aber meinethalben. Und nicht länger als fünf Minuten!«
»Bestimmt nicht.«
»Ich will’s lieber nicht so offiziell machen«, überlegt der Vater. »Ich stell mich hier mit dem Rade hin. Wenn die fünf Minuten um sind, pfeif ich meinen Pfiff. Und dann heißt’s angeschwirrt wie Zieten aus dem Busch.«
»Bestimmt, Vater.«
*
Sie wartet wirklich schon.
»Guten Abend. Sie sind aber pünktlich!«
»Das muss man auch sein. Guten Abend.«
»Jetzt schlägt’s grade acht.«
»Ja, ich höre es.«
Die Unterhaltung hat schön lebhaft eingesetzt und ist plötzlich alle.
Schließlich fragt er: »Sind Sie gut weggekommen?«
»Ich habe einen kleinen Schwindel gemacht. Und Sie?«
»Ach ja, es ging.«
»Haben Sie was?« fragt sie plötzlich.
»Nein, nichts. Was soll ich haben? Es ist schön heute Abend, nicht?«
»Ja. Ein bisschen schwül, nicht?«
»Das kann sein – ich muss nämlich gleich wieder weg …«
»Ach …«
»Da hinten steht mein Vater …«
»Wo?«
»Da. Der Mann mit dem Rad. Hier am Busch müssen Sie vorbeigucken …«
»Und er weiß …? Und er hat Ihnen erlaubt?«
»Ja, mein Vater ist so.«
Sie sieht ihn einen Augenblick an.
»Aber ich bin nicht so, ich finde es nicht nett von Ihnen.«
Er wird langsam rot.
»Ich hätte es nicht von Ihnen gedacht.«
»Ich …«, fängt er an.
»Nein«, sagt sie. »Jetzt gehe ich nach Haus.«
»Fräulein«, sagt er. »Fräulein, ich muss nämlich fort. Der Pastor hat mich nämlich rausgesetzt, weil … Sie verstehen … Frau Gubalke hat sich beschwert.«