Als Otto Quangel seine Arbeit in der Tischlerwerkstatt begann, stand Enno Kluge schon seit sechs Stunden an einer Drehbank. Ja, es hat den kleinen Mann nicht mehr in seinem Bette gelitten, trotz seiner Schwäche und seiner Schmerzen ist er in die Fabrik gefahren. Der Empfang dort war freilich nicht sehr freundlich, aber das war kaum anders zu erwarten.
»Na, bist du auch mal wieder bei uns zu Besuch, Enno?«, hatte ihn der Meister gefragt. »Wie lange willste denn diesmal wieder mitmachen, eine oder zwei Wochen?«
»Ich bin jetzt wieder ganz gesund, Meister«, versicherte Enno Kluge eifrig. »Ich kann wieder arbeiten, und ich werd auch arbeiten, das sollst du schon sehen!«
»Nana!«, meinte der Meister ziemlich ungläubig und wollte wieder gehen. Aber er blieb noch einmal stehen, betrachtete nachdenklich Ennos Gesicht und fragte: »Und was haste denn mit deiner Visage gemacht, Enno? Ein bisschen in die Heißmangel gekommen, was?«
Enno hat den Kopf auf sein Werkstück gesenkt, er sieht den Meister auch nicht an, als er schließlich antwortet: »Jawohl, Meister, durch die Mangel gedreht …«
Der Meister bleibt nachdenklich vor ihm stehen und betrachtet ihn immer weiter. Schließlich glaubt er sich einen Vers auf die Sache machen zu können und sagt: »Na, vielleicht hat’s wirklich geholfen, vielleicht hast du nun wirklich Trieb zur Arbeit, Enno!«
Damit ging der Meister, und Enno Kluge war froh, dass die Schläge so verstanden worden waren. Sollte der nur ruhig denken, er war wegen seiner Arbeitsscheu so abgerollt worden, umso besser! Darüber wollte er mit keinem reden. Und wenn sie hier so dachten, würden sie ihn mit allen Fragen verschonen. Sie würden höchstens hinter seinem Rücken über ihn lachen, und das sollten sie ruhig, das war ihm egal. Er wollte jetzt arbeiten, wundern sollten sich die über ihn!
Bescheiden lächelnd und doch nicht ohne Stolz ließ sich Enno Kluge für die freiwillige Sonntagsschicht aufschreiben. Ein paar ältere Arbeitskollegen, die ihn noch von früher her kannten, machten spöttische Bemerkungen. Er lachte einfach mit und sah es gerne, dass auch der Meister grinste.
Übrigens hatte ihm die irrtümliche Annahme des Meisters, er habe die Schläge wegen seiner Arbeitsscheu bezogen, sicher auch bei der Direktion genützt. Dorthin war er gleich nach der Mittagspause gerufen worden. Wie ein Angeklagter stand er dort, und dass von seinen Richtern einer in Wehrmachtsuniform, einer in SA-Uniform steckte, während nur einer Zivil trug, freilich auch mit dem Hoheitszeichen geschmückt, das erhöhte noch seine Angst.
Der Wehrmachtsoffizier blätterte in einem Aktenstück und hielt Enno Kluge mit einer ebenso gleichgültigen wie angeekelten Stimme seine Sünden vor. Den und den Tag von der Wehrmacht zur Rüstungsindustrie entlassen, dann und dann erst Meldung in dem zugewiesenen Betrieb, elf Tage gearbeitet, krankgeschrieben wegen Magenblutungen, drei Ärzte, zwei Krankenhäuser in Anspruch genommen. Dann und dann arbeitsfähig gesundgeschrieben, fünf Tage gearbeitet, drei Tage blaugemacht, einen Tag gearbeitet, wieder Magenblutungen usw. usw.
Der Wehrmachtsoffizier legte das Aktenstück weg, er sah angeekelt den Kluge an, das heißt, er richtete seinen Blick etwa auf den obersten Knopf von Ennos Jackett und sagte mit erhobener Stimme: »Was denkst du dir eigentlich, du Schwein?« Plötzlich schrie er, aber man sah es ihm an, dass er ganz gewohnheitsmäßig schrie, ohne jede innere Erregung. »Denkst du, du kannst hier einen Einzigen mit deinen dussligen Magenblutungen an der Nase rumführen? Ich werde dich zu einer Strafkompanie schicken, da werden sie dir deine stinkenden Gedärme aus dem Leibe reißen, da sollst du lernen, was Magenblutungen sind!«
So schrie der Offizier noch eine ganze Weile. Enno war das vom Militär her gewohnt, es konnte ihn nicht besonders schrecken. Er hörte sich diese Strafpredigt an, die Hände vorschriftsmäßig an die Naht seiner Zivilhose gelegt, das Auge aufmerksam auf den Scheltenden geheftet. Musste der Offizier einmal Luft holen, so sagte Enno im vorgeschriebenen Ton, klar und deutlich, aber weder demütig noch frech, sondern sachlich: »Jawohl, Herr Oberleutnant! Zu Befehl, Herr Oberleutnant!« An einer Stelle gelang es ihm sogar, freilich ohne jede sichtbare Wirkung, den Satz einzuschieben: »Melde mich gehorsamst gesund, Herr Oberleutnant! Melde gehorsamst, werde arbeiten!«
Ebenso plötzlich, wie er mit dem Schreien begonnen hatte, hörte der Offizier wieder damit auf. Er machte den Mund zu, nahm den Blick von dem obersten Rockknopf Kluges und richtete ihn auf seinen Nachbar in Braun. »Sonst noch was?«, fragte er angeekelt.
Jawohl, auch dieser Herr hatte noch etwas zu sagen oder vielmehr zu schreien – alle diese Herren Vorgesetzten schienen ja nur mit ihren Leuten schreien zu können. Dieser schrie von Volksverrat und Arbeitssabotage, vom Führer, der keine Verräter in den eigenen Reihen duldete, und von den KZs, wo ihm schon sein Recht werden solle.
»Und wie kommst du zu uns?«, schrie der Braune plötzlich. »Wie haste dich zugerichtet, du Schwein, du? Mit solcher Fresse kommst du zur Arbeit? Bei den Weibern haste rumgehurt, du Hurenbock! Da lässte deine Kraft, und wir dürfen dich hier bezahlen! Wo biste gewesen, wo haste dich so zugerichtet, du elender Zuhälter, du?«
»Mich haben sie durch die Rolle gedreht«, sagte Enno, verschüchtert unter dem Blick des anderen.
»Wer, wer hat dich so zugerichtet, ich will’s wissen!«, schrie das Braunhemd. Und er fuchtelte mit der Faust unter der Nase des anderen und stampfte mit dem Fuße auf.
Hier war der Augenblick gekommen, wo jeder eigene Gedanke den Schädel Enno Kluges verließ. Unter der Bedrohung mit neuen Schlägen entliefen ihm Vorsatz wie Vorsicht, er flüsterte angstvoll: »Melde gehorsamst, die SS hat mich so zugerichtet.«
In der sinnlosen Angst dieses Mannes lag etwas so Überzeugendes, dass die drei Männer am Tisch ihm sofort Glauben schenkten. Ein verständnisvolles, billigendes Lächeln trat auf ihre Gesichter. Der Braune schrie noch: »Zugerichtet nennst du das? Gezüchtigt heißt das, zu Recht bestraft! Wie heißt das?«
»Melde gehorsamst, es heißt: zu Recht bestraft!«
»Na, ich hoffe, du wirst es dir merken. Das nächste Mal kommst du nicht so billig davon weg! Abtreten!«
Noch eine halbe Stunde danach zitterte Enno Kluge so stark, dass er seine Arbeit an der Drehbank nicht verrichten konnte. Er drückte sich auf dem Abtritt herum, wo ihn der Meister schließlich aufstöberte und scheltend an die Arbeit jagte. Der Meister stellte sich dann daneben und sah schimpfend zu, wie Enno Kluge ein Werkstück nach dem anderen verdarb. In dem Kopf des kleinen Kerls drehte sich noch alles: vom Meister beschimpft, von den Arbeitskollegen verspottet, von Konzentrationslager und Strafkompanie bedroht, vermochte er nichts mehr klar zu sehen. Die sonst so geschickten Hände verweigerten ihm den Dienst. Er konnte nicht, und doch musste er, sonst war er ganz verloren.
Schließlich sah es selbst der Meister ein, dass hier nicht übler Wille und Arbeitsscheu vorlagen. »Wenn du nicht gerade krank gewesen wärst, würde ich sagen, leg dich erst ein paar Tage ins Bett und kurier dich gesund.« Mit diesen Worten verließ ihn der Meister. Und er setzte hinzu: »Aber du weißt ja wohl, was dir dann passiert!«
Ja, er wusste es. Er machte immer weiter, versuchte, nicht an die Schmerzen, an den unerträglichen Druck in seinem Kopf zu denken. Eine Weile zog ihn das sich schimmernd drehende Eisen magisch an. Er brauchte nur die Finger dazwischenzuhalten, und er hatte Ruhe, kam in ein Bett, konnte liegen, ausruhen, schlafen, vergessen! Aber gleich dachte er wieder daran, dass mit dem Tode bestraft wird, wer sich mutwillig selbst verstümmelt, und die Hand zuckte zurück …
Und so war es: Tod in der Strafkompanie, Tod in einem KZ, Tod auf einem Gefängnishof, das waren die Dinge, die ihn täglich bedrohten, die er von sich abwenden musste. Und er hatte so wenig Kraft …
Irgendwie ging dieser Nachmittag hin, irgendwie war er kurz nach fünf auch im Strome der Heimkehrenden. Er hatte sich so nach Ruhe und Schlaf gesehnt; als er dann aber in seinem engen Hotelzimmerchen stand, brachte er es nicht über sich, ins Bett zu gehen. Er lief wieder los, er kaufte sich ein wenig Essen ein.
Und wieder im Zimmer, die Esswaren auf dem Tisch vor sich, das Bett neben sich – aber er konnte hier einfach nicht bleiben. Er war wie gehetzt, es litt ihn nicht in diesem Zimmer. Er musste sich noch ein bisschen Waschzeug kaufen, auch sehen, dass er bei einem Trödler eine blaue Bluse kaufen konnte.
Lief wieder los, und als er in einer Drogerie stand, fiel ihm ein, dass er noch einen ganzen schweren Handkoffer mit all seinen Besitztümern bei der Lotte zu stehen hatte, deren auf Urlaub kommender Mann ihn so roh hinausgeworfen hatte. Er rannte aus der Drogerie, er stieg auf eine Elektrische; er riskierte es: er fuhr einfach zu ihr. Er konnte doch nicht alle seine Sachen preisgeben! Vor einer Wucht Prügel graute es ihn, aber es trieb ihn, er musste zur Lotte.
Und er hatte Glück, er fand die Lotte zu Haus, der Mann war nicht da. »Deine Sachen, Enno?«, fragte sie. »Ich habe sie gleich in den Keller gesetzt, damit er sie nicht findet. Warte, ich hole den Schlüssel!«
Aber er hielt sie umfasst, er lehnte den Kopf gegen ihre starke Brust. Die Anstrengungen der letzten Wochen waren zu viel für ihn gewesen, er weinte einfach los.
»Ach, Lotte, Lotte, ich halt es einfach ohne dich nicht aus! Ich hab solche Sehnsucht nach dir!«
Sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen. Sie war ordentlich erschrocken. Sie war den Umgang mit Männern gewohnt, auch den mit flennenden, aber dann waren sie betrunken, und dieser hier war nüchtern … Und dann dieses Gerede von Sehnsucht nach ihr und nicht ohne sie auskommen, das war Ewigkeiten her, dass jemand so was zu ihr gesagt hatte! Wenn es überhaupt je jemand zu ihr gesagt hatte!
Sie beruhigte ihn, so gut sie konnte. »Er bleibt ja nur drei Wochen auf Urlaub, dann kannste wieder bei mir, Enno! Nimm dich jetzt zusammen, hol deine Sachen, eh er kommt. Du weißt doch!«
Oh, wie er wusste, wie genau er wusste, was alles ihn bedrohte!
Sie setzte ihn noch in seine Elektrische, half ihm mit dem Handkoffer.
Enno Kluge fuhr in sein Hotel, doch ein wenig erleichtert. Nur noch drei Wochen, von denen vier Tage schon rum waren. Dann ging er wieder an die Front, und er konnte sich in sein Bett legen! Enno hatte gedacht, er hielte es ganz ohne Weiber aus, aber das ging nicht, er konnte es einfach nicht. Er würde bis dahin auch noch einmal nach der Tutti sehen; er sah doch jetzt, wenn man ihnen nur was vorweinte, dann waren sie gar nicht so schlimm. Dann halfen sie einem gleich! Er konnte vielleicht die drei Wochen bei der Tutti bleiben, das einsame Hotelzimmer war zu schlimm!
Aber trotz der Weiber würde er arbeiten, arbeiten, arbeiten! Er würde keine Zicken machen, er nicht, nie wieder! Er war geheilt!
Am Sonntagmorgen wachte Frau Rosenthal mit einem Schreckensschrei aus tiefem Schlaf auf. Sie hatte wieder etwas Grausiges von dem geträumt, was sie jetzt fast in jeder Nacht heimsuchte: sie war mit Siegfried auf der Flucht. Sie versteckten sich, die Verfolger gingen an ihnen vorüber, wobei sie die so schlecht Versteckten aus den Augenwinkeln zu verhöhnen schienen.
Plötzlich fing Siegfried an zu laufen, sie hinter ihm drein. Sie konnte nicht so schnell laufen wie er. Sie rief: »Nicht so schnell, Siegfried! Ich komme nicht mit! Lass mich nicht allein!«
Er hob sich von der Erde, er flog. Flog erst wenig über dem Pflaster, dann hob er sich immer höher, nun entschwand er über den Dächern. Sie stand allein auf der Greifswalder Straße. Ihre Tränen liefen. Eine große, riechende Hand legte sich erdrückend vor ihr Gesicht, eine Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Olle Judensau, hab ich dich endlich?«
Sie starrte nach der Verdunkelung vor den Fenstern, an den Spalten sickerte Tageslicht hinein. Die Schrecken der Nacht entwichen vor denen des Tages, der ihr bevorstand. Es war schon wieder Tag! Wieder hatte sie den Kammergerichtsrat verschlafen, den einzigen Menschen, mit dem sie sprechen konnte! Sie hatte sich fest vorgenommen, wach zu bleiben, und nun war sie doch wieder eingeschlafen! Wieder einen Tag allein, zwölf Stunden, fünfzehn Stunden! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wände dieses Zimmers stürzten über ihr zusammen, immer das gleiche bleiche Gesicht im Spiegel, stets wieder dasselbe Geld zählen – nein, so ging es nicht weiter! Das Schlimmste war nicht so schlimm wie dieses tatenlose Eingesperrtsein.
Hastig kleidet sich Frau Rosenthal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Riegel, öffnet leise und späht auf den Flur hinaus. Alles ist still in der Wohnung, auch im Hause ist noch alles still. Die Kinder lärmen noch nicht auf der Straße – es muss noch sehr früh sein. Vielleicht ist der Rat noch in seinem Bücherzimmer? Vielleicht kann sie ihm noch guten Morgen sagen, zwei, drei Sätze mit ihm wechseln, die ihr Mut machen werden, einen endlosen Tag zu ertragen?
Sie wagt es, gegen sein Verbot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zimmer ein. Sie schreckt etwas vor der Helle zurück, die durch die geöffneten Fenster hereinströmt, vor der Straße, der Öffentlichkeit, die mit dieser Luft zusammen hier jetzt herrschen. Aber mehr noch erschrickt sie vor einer Frau, die mit einem Teppichroller den Zwickauer Teppich reinigt. Sie ist eine dürre, ältere Frau; das Tuch um den Kopf, der Teppichroller bestätigen, dass sie hier die Reinmachefrau ist.
Beim Eintritt von Frau Rosenthal hat diese Frau die Arbeit unterbrochen. Sie starrt erst einen Augenblick die unerwartete Besucherin an, wobei sie die Augenlider rasch hintereinander ein paar Mal zukneift, als könne sie den Anblick da nicht für ganz wirklich nehmen. Dann lehnt sie den Teppichroller gegen den Tisch und fängt an, mit Händen und Armen abwehrende Bewegungen zu machen, wobei sie von Zeit zu Zeit ein scharfes »Sch! Sch!« ausstößt, als scheuche sie Hühner.
Frau Rosenthal, schon im Rückzug, sagt flehend:
»Wo ist der Kammergerichtsrat? Ich muss ihn einen Augenblick sprechen!«
Die Frau kneift die Lippen eng zusammen und schüttelt heftig den Kopf. Dann beginnt sie wieder mit ihren Scheuchbewegungen und dem »Sch! Sch!«, bis Frau Rosenthal ganz in ihr Zimmer zurückgewichen ist. Dort sinkt sie, während die Reinmachefrau leise die Tür schließt, an ihrem Tisch in den Sessel und bricht fassungslos in Tränen aus. Alles umsonst! Wieder ein Tag, der sie nur zum einsamen, sinnlosen Warten verurteilt! Viel geschieht in der Welt, vielleicht stirbt jetzt gerade Siegfried, oder eine deutsche Fliegerbombe tötet ihr die Eva – sie aber muss hier immer weiter im Dunkeln sitzen und nichts tun.
Sie schüttelt unwillig den Kopf: sie macht dies einfach nicht mehr mit. Sie macht es nicht! Wenn sie unglücklich sein soll, wenn sie denn ewig gehetzt und in Angst leben soll, so will sie dies auf ihre Art tun. Möge sich denn diese Tür für immer hinter ihr schließen, sie kann es nicht hindern. Sie war gut gemeint, diese Gastfreundschaft, aber sie tut ihr nicht gut.
Als sie wieder an der Tür steht, besinnt sie sich. Sie geht wieder an den Tisch zurück und nimmt das dicke, goldene Armband mit den Saphiren. Vielleicht so …
Doch in dem Arbeitszimmer ist die Frau nicht mehr, die Fenster sind schon wieder geschlossen. Frau Rosenthal steht abwartend auf dem Flur, nahe der Ausgangstür. Dann hört sie Tellergeklapper, und sie folgt diesem Geräusch, bis sie die Frau in der Küche beim Abwaschen findet.
Sie hält ihr flehend das Armband hin und sagt stockend: »Ich muss den Kammergerichtsrat wirklich sprechen. Bitte, bitte doch!«
Die Bedienerin hat bei der neuerlichen Störung die Stirn gerunzelt. Nur einen flüchtigen Blick wirft sie auf das hingehaltene Armband. Dann beginnt sie wieder zu scheuchen, mit rudernden Armbewegungen und »Sch! Sch!«, und vor diesem Scheuchen flieht Frau Rosenthal in ihr Zimmer. Sie stürzt geradezu auf ihren Nachttisch zu, sie nimmt aus der Lade das ihr vom Kammergerichtsrat verordnete Schlafmittel.
Sie schüttet alle Tabletten, zwölf oder vierzehn an der Zahl, in ihre hohle Hand, geht zum Waschtisch und spült sie mit einem Glase Wasser hinunter. Sie muss heute schlafen, sie wird heute den Tag verschlafen … Dann wird sie abends den Kammergerichtsrat sprechen und hören, was zu tun ist. Sie legt sich angekleidet auf das Bett, zieht die Decke nur leicht über sich. Still auf dem Rücken liegend, die Augen zur Decke gerichtet, wartet sie auf den Schlaf.
Und er scheint wirklich zu kommen. Die quälenden Gedanken, die immer gleichen Schreckbilder, die von der Angst in ihrem Hirn geboren werden, sie verschwimmen. Sie schließt die Augen, ihre Glieder entspannen sich, werden schlaff, sie hat sich schon fast hinübergerettet in ihren Schlaf …
Da ist es, als hätte sie auf der Schwelle zu diesem Schlaf eine Hand zurückgestoßen ins Wachen. Sie ist förmlich zusammengeschreckt, solch einen Ruck hat es ihr gegeben. Ihr Körper ist zusammengezuckt wie in einem plötzlichen Krampf …
Und wieder liegt sie, die Decke anstarrend, auf dem Rücken, die ewig gleiche Mühle dreht die ewig gleichen Qualgedanken und Angstbilder in ihr. Dann – allmählich – wird das schwächer, die Augen schließen sich, der Schlaf ist nahe. Und wieder auf seiner Schwelle der Stoß, der Ruck, der Krampf, der ihren ganzen Körper zusammenzieht. Wieder ist sie vertrieben aus der Ruhe, dem Frieden, dem Vergessen …
Als sich das drei- oder viermal wiederholt hat, gibt sie es auf, den Schlaf zu erwarten. Sie steht auf, geht langsam, ein wenig taumelig, mit hängenden Gliedern an den Tisch und setzt sich. Sie starrt vor sich hin. Sie erkennt in dem Weißen, das vor ihr liegt, den Brief an Siegfried, den sie vor drei Tagen begann, der nicht über die ersten Zeilen hinauskam. Sie sieht weiter: sie erkennt die Scheine, die Schmucksachen. Dort hinten steht auch das Tablett mit dem ihr bestimmten Essen. Sonst hat sie sich morgens völlig ausgehungert darübergestürzt, jetzt mustert sie es mit gleichgültigem Blick. Sie mag nicht essen …
Während sie dort so sitzt, ist ihr dunkel bewusst, dass die Tabletten doch eine Veränderung in ihr hervorgerufen haben: wenn sie ihr auch keinen Schlaf schenken konnten, so haben sie ihr doch die jagende Unruhe des Morgens genommen. Sie sitzt nur so da, manchmal ist sie auch im Sessel beinahe eingenickt, dann fährt sie wieder hoch. Einige Zeit ist vergangen, ob viel oder wenig, das weiß sie nicht, aber einige Zeit von diesem Schreckenstag ist doch wohl fort …
Dann, später, hört sie einen Schritt auf der Treppe. Sie fährt zusammen – in einem Augenblick der Selbstbeobachtung sucht sie sich darüber klarzuwerden, ob sie von diesem Zimmer aus überhaupt hören kann, wenn jemand auf der Treppe geht. Aber diese kritische Minute ist schon wieder vorbei, und sie lauscht nur angespannt auf den Schritt im Treppenhaus, den Schritt eines Menschen, der sich mühsam treppauf schleppt, immer wieder innehaltend, dann, nach einem Hüsteln, sich wieder am Treppengeländer hochziehend.
Jetzt hört sie nicht nur, jetzt sieht sie auch. Sie sieht Siegfried ganz deutlich, wie er sich da durch das noch stille Treppenhaus in ihre Wohnung hinaufschleicht. Sie haben ihn natürlich wieder misshandelt, um seinen Kopf liegen ein paar hastig geschlungene Binden, die schon wieder durchblutet sind, und sein Gesicht ist wund und fleckig von ihren Faustschlägen. So schleppt sich Siegfried mühselig die Treppen hinauf. In seiner Brust krächzt und orgelt es, in dieser Brust, die von ihren Fußtritten verletzt ist. Sie sieht Siegfried um den Treppenabsatz herum entschwinden …
Eine Weile sitzt sie noch so da. Bestimmt denkt sie an gar nichts, auch nicht an den Kammergerichtsrat und das mit ihm Vereinbarte. Sondern sie muss da oben in die Wohnung – was soll Siegfried denken, wenn er sie leer findet? – Aber sie ist so schrecklich müde, und es ist fast unmöglich, aus dem Sessel hochzukommen!
Dann steht sie doch wieder da. Sie nimmt das Schlüsselbund aus der Handtasche, greift nach dem Saphirarmband, als sei es ein Talisman, der sie beschützen kann – und langsam und taumelig geht sie aus der Wohnung. Die Tür fällt hinter ihr zu.
Der nach langem Bedenken von seiner Bedienerin doch endlich geweckte Kammergerichtsrat kommt zu spät, um seinen Gast von diesem Ausflug in eine zu gefährliche Welt abzuhalten.
Der Rat steht einen Augenblick in der leise wieder geöffneten Tür, er lauscht nach oben, er lauscht nach unten. Er hört nichts. Dann, als er doch etwas hört, nämlich den raschen, energischen Schritt von Stiefeln, zieht er sich wieder in seine Wohnung zurück. Aber er verlässt den Ausguck an der Tür nicht. Sollte es doch noch eine Möglichkeit geben, diese Unselige zu retten, er wird ihr doch noch einmal trotz aller Gefahr seine Tür öffnen.
Frau Rosenthal hat es gar nicht gemerkt, dass sie auf der Treppe an jemand vorüberging. Sie hat nur den einen Gedanken, möglichst rasch die Wohnung mit Siegfried zu erreichen. Aber der HJ-Führer Baldur Persicke, der eben zu einem Morgenappell will, bleibt völlig verblüfft, mit offenem Munde auf der Treppe stehen, als diese Frau, ihn fast anstoßend, an ihm vorübergeht. Die Rosenthal, die tagelang verschwundene Rosenthal, an diesem Sonntagmorgen unterwegs, in einer dunklen gestickten Bluse ohne Judenstern, ein Schlüsselbund und ein Armband in der einen Hand, mit der anderen sich mühsam am Treppengeländer hochziehend – so besoffen ist die Frau! Am frühen Sonntagmorgen schon so besoffen!
Einen Augenblick steht Baldur noch so da, in völliger Verblüffung. Aber als Frau Rosenthal um die Treppenkehre herum verschwunden ist, kehren seine Gedanken wieder in ihn zurück, und sein Mund schließt sich. Er hat das Gefühl, jetzt ist der richtige Augenblick gekommen, jetzt darf er nur nichts falsch machen! Nein, diesmal wird er die Sache allein erledigen, weder die Brüder noch der Vater noch ein Barkhausen sollen sie ihm versauen.
Baldur wartet noch, bis er sicher ist, dass Frau Rosenthal jetzt schon die Quangel’sche Wohnung erreicht hat, dann geht er leise in die elterliche Wohnung. Dort schläft noch alles, und das Telefon hängt auf dem Flur. Er hebt ab und dreht die Scheibe, dann verlangt er einen bestimmten Apparat. Er hat Glück: trotz des Sonntags bekommt er die Verbindung und auch den richtigen Mann. Er sagt kurz, was zu sagen ist; dann rückt er sich einen Stuhl an die Tür, öffnet sie einen Spalt und macht sich geduldig darauf gefasst, eine halbe oder auch eine Stunde Wache halten zu müssen, damit der Vogel nicht wieder entwischt …
Bei Quangels ist nur erst Anna wach, leise wirtschaftet sie in der Wohnung. Zwischendurch sieht sie nach Otto, er schläft noch immer ganz fest. Er sieht müde und gequält aus, selbst jetzt im Schlaf. Als ließe ihm irgendetwas keine Ruhe. Sie steht da und sieht nachdenklich in das Gesicht des Mannes, mit dem sie fast drei Jahrzehnte Tag für Tag zusammengelebt hat. Sie hat sich natürlich längst an dieses Gesicht gewöhnt, das vogelscharfe Profil, der dünne, fast stets geschlossene Mund – das erschreckt sie nicht mehr. So sieht eben der Mann aus, dem sie ihr ganzes Leben geweiht hat. Es kommt nicht auf das Aussehen an …
Aber an diesem Morgen scheint ihr doch, als sei das Gesicht noch schärfer geworden, der Mund noch schmaler, als hätten sich die Falten von der Nase her noch mehr vertieft. Er hat Sorgen, schwere Sorgen, und sie hat es versäumt, rechtzeitig mit ihm darüber zu sprechen, ihm die Last tragen zu helfen. An diesem Sonntagmorgen, vier Tage nachdem sie die Nachricht vom Tode des Sohnes bekommen hat, ist Anna Quangel wieder fest davon überzeugt, nicht nur, dass sie bei diesem Manne wie bisher auszuhalten hat, sondern dass sie auch im Unrecht war, überhaupt erst mit dieser Trotzerei anzufangen. Sie hätte ihn besser kennen müssen: er schwieg lieber, als dass er sprach. Sie musste ihn stets ermuntern, ihm die Zunge lösen – von selbst sprach dieser Mann nie.
Nun, heute wird er sprechen. Er hatte es ihr zugesagt, heute in der Nacht, als er von der Arbeit heimgekommen war. Anna hatte da einen schlimmen Tag hinter sich gebracht. Als er ganz ohne Frühstück losgelaufen war, als sie Stunden vergeblich auf ihn gewartet hatte, als er auch nicht zum Mittagessen erschienen war, als ihr klar wurde, jetzt hatte seine Arbeit schon begonnen, jetzt würde er bestimmt nicht mehr kommen – da war sie völlig verzweifelt gewesen.
Was war in diesen Mann gefahren, seit sie jenes vorschnelle, unbedachte Wort gesagt hatte? Was trieb ihn so ruhelos um? Sie kannte ihn doch: Seitdem sie das gesagt hatte, sann er nur darauf, ihr zu zeigen, dass der nicht »sein« Führer war. Als wenn sie es je ernstlich so gemeint hätte! Sie hätte es ihm sagen müssen, dass sie das Wort nur im ersten trauernden Zorn gesagt hatte. Sie hätte auch ganz andere Dinge sagen können gegen diese Verbrecher, die sie so sinnlos des Sohnes beraubt hatten – grade dieses Wort musste ihr herausfahren!
Aber nun hatte sie eben grade dies gesagt, und nun lief er in der Welt umher und begab sich in alle möglichen Gefahren, um recht zu behalten, um ihr das Unrecht, das sie ihm angetan, noch ganz handgreiflich zu beweisen! Womöglich kam er gar nicht wieder. Hatte etwas gesagt oder getan, was die Werkleitung oder die Gestapo auf ihn hetzte – womöglich saß er schon im Loch! So unruhig, wie dieser ruhige Mann schon am frühen Morgen gewesen war!
Anna Quangel hält es nicht aus, so tatenlos kann sie nicht mehr auf ihn warten. Sie macht ein paar Stullen zurecht und tritt den Weg zu seiner Fabrik an. Auch darin ist sie ganz sein getreues Eheweib, dass sie selbst jetzt, wo es ihr auf jede Minute, die sie früher Gewissheit hat, ankommt, nicht die Bahn benutzt. Nein, sie geht zu Fuß – sie spart den Groschen wie er.
Vom Pförtner der Möbelfabrik erfährt sie dann, dass der Werkmeister Quangel pünktlich wie immer auf seine Arbeitsstelle gekommen ist. Sie lässt ihm durch einen Boten die »vergessenen« Stullen hineinschicken und wartet auch noch die Rückkehr des Boten ab.
»Nun, was hat er gesagt?«
»Was soll er denn gesagt haben …? Der sagt doch nie was!«
Jetzt kann sie beruhigter nach Haus gehen. Es ist noch nichts geschehen, trotz all seiner Unruhe am Morgen nicht. Und heute Abend wird sie mit ihm sprechen …
Er kommt in der Nacht. Sie sieht seinem Gesicht an, wie müde er ist.
»Otto«, sagt sie bittend, »ich habe es doch nicht so gemeint. Nur im ersten Erschrecken ist es mir so rausgefahren. Sei nicht mehr böse!«
»Ich – böse – dir? Wegen so was? Nie!«
»Aber du willst was tun, ich spüre es! Otto, tu’s nicht, stürze dich wegen so was nicht ins Unglück! Ich könnte es mir nie verzeihen.«
Er sieht sie einen Augenblick an, fast lächelnd. Dann legt er beide Hände rasch auf ihre Schultern. Schon zieht er sie wieder fort, als schäme er sich dieser raschen Zärtlichkeit.
»Was ich tun werde? Schlafen werde ich! Und morgen sage ich dir, was wir tun werden!«
Nun ist der Morgen gekommen, und Quangel schläft noch. Aber jetzt kommt es auf eine halbe Stunde mehr oder weniger nicht an. Er ist bei ihr, er kann nichts Gefährliches tun, er schläft.
Sie wendet sich ab von seinem Bett, sie macht sich wieder an ihre kleinen Hausarbeiten. –
Unterdes ist Frau Rosenthal längst bei ihrer Wohnungstür angekommen, so langsam sie auch treppauf ging. Sie ist nicht überrascht, die Tür verschlossen zu finden – sie schließt sie auf. Und auch in der Wohnung drinnen sucht sie nicht erst lange nach Siegfried oder ruft nach ihm. Auch das wüste Durcheinander beachtet sie nicht, wie sie auch schon wieder vergessen hat, dass sie ja eigentlich dem Schritt ihres Mannes folgend die Wohnung betreten hat.