Der größte Irrtum der Weltgeschichte

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Zweifel

»Und wenn ich's wohl bedenke scheint mir, dass diese Sach' allein entsteht, weil es nicht ist, wo sie es suchen...« 1

Ein Dogma voller Widersprüche

Die Chronologie des Joseph J. Scaliger

Joseph Justus Scaliger (1540 - 1609) gilt als einer der größten Gelehrten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Sein 1583 erschienenes Werk De emendatione temporum führte erstmals die Überlieferungen der griechisch-römischen Antike mit jenen der Israeliten, Ägypter, Babylonier und Perser zusammen. 78 verschiedene Ären wurden hierzu mit der abendländischen Zeitrechnung abgeglichen. Diese Chronologie bildet bis heute die Grundlage der Geschichtswissenschaft.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeiten gelang es ihm, auch die verloren gegangene Chronik des Eusebius zu rekonstruieren – allerdings mit einer beträchtlichen Anzahl von durchaus gewagten Vermutungen. Das auf diese Weise wiederhergestellte Werk ist bis heute praktisch die einzige Quelle zu Konstantin dem Großen und seiner Zeit.

Schließlich hatte Scaligers Freund Isaac Casaubon in Paris 1605 eine Liste aufgefunden, auf der alle Sieger von Olympia von Anbeginn bis zur 249. Olympiade verzeichnet waren.2 Mittels dieser Liste ordnete Scaliger sodann die Königslisten Griechenlands, daran anschließend die bei Euseb enthaltene Königsliste des Manetho sowie weitere Herrscherlisten des Orients.

Kaum zu glauben: Obwohl Scaliger die Mittel der modernen Wissenschaft noch nicht zur Verfügung standen, wären ihm dennoch keine größeren Fehler unterlaufen. Allerdings stieß er auf eine Vielzahl von Unstimmigkeiten. Zur Chronik des Eusebius stellte er fest: »Die Chronologie geht durcheinander, die Olympiaden sind falsch datiert, etliche Paare von Konsuln sind falsch.«

Als Regierungszeit des Xerxes nennt das Chronicon Paschale 28 Jahre und als Thronbesteigungsjahr des Artaxerxes das Anno Mundi 5078. Scaliger ging hingegen von nur 11 Jahren aus.1 Dem entsprechend erscheint auch Alexander der Große verfrüht, während noch Ibn Yunus die heutige 'Seleukidenära' unmissverständlich als 'Ära nach Alexander' bezeichnet hatte.

Dies alles störte ihn genau so wenig wie viele astronomische Beobachtungen, die er leichthin als Irrtümer »a quibusdam Astronomis magni nominis« bezeichnete, obgleich er ihre mathematischen und physikalischen Grundlagen nicht nachvollziehen konnte.

Bei der Festlegung der Grundlagen antiker Chronologie verließ er sich einige Male auf Haltloses, manchmal sogar auf absurde Hypothesen, oft auf eine unvollständige Schlussfolgerung. Gelegentlich missverstand er die Astronomie der Antike, gelegentlich auch die von Nikolaus Kopernikus und Tycho Brahe. Und er war kein Mathematiker.2

Als Hochschullehrer in Leiden hatte sich Scaliger im Laufe der Jahre etliche Feinde gemacht. Alle, die seine Ansichten nicht teilten, hatte er öffentlich zurechtgewiesen.

Die Gelegenheit zur Revanche kam, nachdem er 1594 die Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae et JC Scaligeri vita veröffentlicht hatte, mit der er sich als Spross dieses veroneser Fürstengeschlechts auswies. Wenige Jahre darauf erschien die Schmähschrift 'Der untergeschobene Scaliger' des Gaspar Scoppius. Der Autor behauptete, 500 Lügen Scaligers aufzudecken. Von dieser Demütigung erholte sich Scaliger nicht mehr.

Azaria ben Rossi und der jüdische Mondkalender

Azaria(h) Bonaiuto dei Rossi ben Moses (um 1511-1578) war ein italienisch-jüdischer Humanist, Arzt und Historiker. Er lebte in Mantua und gilt als bedeutendster jüdischer Gelehrter der italienischen Renaissance. Im dritten Band seines Hauptwerks Me'or 'Enayim ('Erleuchtung der Augen'), welcher Fragen der jüdischen Chronologie gewidmet ist, wies er nach, dass die bis heute gebräuchliche Form der jüdischen Torah offenbar erst zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert u.Z. editiert und verbreitet wurde – zusammen mit der heutigen Jahreszählung 'seit Erschaffung der Welt' – und auf eine geheimnisvolle Gruppe von Gelehrten zurück ging, die Masoreten1 genannt wurden.

Man glaubt's ja nicht! Während eine Manipulation bei der christlichen Jahreszählung als völlig ausgeschlossen galt (offenbar ging auch Azaria hiervon aus), wäre eine solche Veränderung beim jüdischen Kalender tatsächlich geschehen – obwohl dessen innere Logik jedweden Irrtum wirksam ausschließen sollte. Und natürlich geht es auch hier, wie wir gleich sehen werden, wieder um die besagten drei Jahrhunderte.

Ausgehend vom Lauf des Mondes, unterteilt der jüdische Kalender das Jahr in eine Folge von Monaten mit abwechselnd 30 und 29 Tagen. Als Ausgleich zum Sonnenjahr wird in 7 von jeweils 19 Jahren im Frühjahr nach dem Monat Adar ein zusätzlicher Schaltmonat Adar II eingefügt. Weitere Regeln dienen der genauen Abstimmung mit den Festtagen.

Wie die Wochentage, so werden auch die Jahre in Anlehnung an die 7 'Tage' der Schöpfung gezählt.1 Auch über längere Zeiträume hinweg beruht der jüdische Kalender auf einem Zahlensystem mit der Basis 7: Jedes 7. Jahr einer Jahrwoche ruhte die Arbeit und es wurde ein Sabbatjahr begangen. Nach 7 x 7 Jahren wurde ein Jobeljahr gefeiert und es erfolgte ein allgemeiner Schulderlass (Lev 25.8). Nach 7 Jobeljahren, also nach 343 Jahren, wurde das Ereignis des Hepta-Jubiläums begangen (dem Analogon zur 'Jahrtausendwende' im dekadischen System der Jahreszählung). Neben diesem war jedoch auch die Periode von 6 Jobeljahren von großer Wichtigkeit: Nach ihr wurde die Feinabstimmung des Kalenders und auch der Tempeldienst geregelt, sodass alle 294 Jahre ein Hexa-Jubiläum zu vermerken war (Die Differenz zwischen der Jahreslänge des frühen jüdischen Kalenders von 364 Tagen bzw. 52 Wochen und der wahren Länge des Tropischen Jahres von 365,24 Tagen beträgt über die Hexa-Periode genau 1 Jahr, sodass sich die Folge der Schaltungen danach wiederholt).2

Hexa- und Hepta-Jubiläum fielen nach jeweils 6 x 7 Jobeljahren, also nach 2058 Jahren zusammen. Da die Jobeljahre seit 'undenklichen' Zeiten beachtet wurden, war somit davon auszugehen, dass Hexa- und Hepta- Jubiläum auch zum Zeitpunkt der 'Erschaffung der Welt' zusammengefallen waren. Andererseits umfasste die jüdische Überlieferung zur Zeit um Christi Geburt schon etwa zwei Jahrtausende seit Abraham – selbst wenn der Stammvater der Juden nur schemenhaft im Nebel der Geschichte zu erahnen war. Das Jahr der 'Erschaffung der Welt' musste demnach 2058 Jahre vor dem allerersten geschichtlichen 'Super-Jubiläum' angesetzt werden. Diese Zahl war allerdings nur von rein 'akademischem' Interesse.

Die zuverlässige Aufzeichnung der Jobeljahre, sowie der übergeordneten Jubiläen hatte dagegen durchaus praktische Bedeutung: Diese regelten die Feinjustierung des Kalenders, damit die Daten der Festtage und so schließlich den Gleichtakt aller jüdischen Gemeinden. Durch die unabhängige Zählung der Hexa- und Hepta- Jubiläen (zu denen auch noch eine Zählung nach Deka-Jubiläen kam – alle 10 x 49 Jahre, beginnend mit dem Jahr 2058 der jüdischen Weltära (JWÄ) – war jedes Jahr eindeutig zu bestimmen. Unstimmigkeiten mussten jedem aufmerksamen Beobachter auffallen. War auch noch der Wochentag eines Ereignisses überliefert, so ergab sich eine weitere Möglichkeit, die Plausibilität zu prüfen.

Rabbi Hillel, dem die Urheberschaft am jüdischen Kalender in seiner heutigen Gestalt zugeschrieben wird, kam anhand der Jahrhunderte langen, präzisen und umfangreichen Aufzeichnungen (Reste wurden in den Höhlen von Qumram gefunden) zu der Überzeugung, dass ein Großes Jubiläumsjahr unmittelbar bevorstehe – das 4116. nach der Weltschöpfung – und damit möglicherweise das Ende der Welt. Hillel habe das jüdische System der Kalenderberechnung veröffentlicht, welches bis zu diesem Zeitpunkt ein gut gehütetes Geheimnis war, weil er richtig erkannt hatte, dass dies unabdingbare Voraussetzung war, um die religiöse Einheit des Judentums in der Diaspora zu erhalten.

Nach dieser Zeitrechnung begann das derzeitige Jahr 2013 unserer Zeit im Jahr 5773 der jüdischen Weltära. Daraus folgt, dass das Jahr -3761 u.Z. dem Epochenjahr (1 JWÄ) des jüdischen Kalenders gleich zu setzen ist. Wenn Rabbi Hillel um 4116 JWÄ lebte, dann entspricht dies folglich dem Jahr 359 u.Z. So überliefert es auch die Geschichtsschreibung. Hillels Jahresangaben und die darauf bezogenen Angaben der jüdischen Überlieferung sind somit korrekt!

Folgt daraus aber auch, dass das Jahr 1 AD (»...als Kyrenius Landpfleger in Syrien war...«) dem Jahr 3761 JWÄ entspricht – und herrschte da Herodes der Große?

Hier sind Zweifel angebracht! Die masoretische Torah, dh. der heute gebräuchliche Text, datiert die Geburt Abrahams (gut ein Jahrhundert vor der Landnahme in Kanaan) auf das Jahr 1948 JWÄ. Allerdings existiert auch eine andere Version, die samaritanische Torah, nach der Abraham im Jahr 2247 der Ära nach Adam1 geboren wurde. Handelt es sich hier um eine irrige Zahlenangabe, oder bezieht sich jener Text auf ein anderes Epochenjahr? Auffällig ist die Differenz von 299 Jahren. Sofern es sich hierbei um keinen Irrtum handelt und die 'Geburt Abrahams' auf die gleiche Weise rückgerechnet wurde, so bliebe nur die Erklärung einer abweichenden Epoche.

 

Dies wäre also die Änderung der jüdischen Jahreszählung, die schon im Jahre 1575 durch den Humanisten Azaria dei Rossi 'nachgewiesen' wurde!2

Ein Augenzeugenbericht aus dem Mittelalter belegt, dass die JWÄ bereits im 11. Jh. u.Z. so wie heute verwendet wurde:

»Im Jahr 4856 nach der Erschaffung der Welt, also 1096 nach christlicher Zeitrechnung, suchten uns bitterste Leiden heim, wie sie noch nie in diesem Reich geschehen sind.« 3

Die gleichbleibend stimmige Epoche der modernen Torah sollte sich mit Hilfe der Astronomie überprüfen lassen: Durch das babylonische Exil war die jüdische Geschichte mit der spätbabylonischen verzahnt. Die Eklipsenberichte des babylonischen Reiches stimmen mit den modernen Zeitrechnungen exakt überein (besonders eindrucksvoll: Die detailreiche Beschreibung der totalen Sonnenfinsternis in Babylon am 15. April -135 u.Z.).

Bei den letzten Büchern des Alten Testaments sei nach Ansicht etlicher Historiker jedoch etwas Merkwürdiges geschehen: Erst nach mehr als 10 Generationen wären die zuvor nur mündlich überlieferten historischen Ereignisse nieder geschrieben worden Das Buch Judith sei um 150 v. Chr. verfasst. Das Buch Tobit, das von der Zerstörung der Stadt Ninive (612 v. Chr.) berichtet, um 200 v. Chr. Auch das Buch Ester, mit dem Bericht vom Tod des Xerxes (463v. Chr.), sei erst im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entstanden. All dieses lässt auch hier unterschiedliche Jahreszählungen vermuten.

Sabbatjahre

Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre deinen Weinberg beschneiden und die Früchte einsammeln, aber im siebenten Jahr soll das Land dem HERRN einen feierlichen Sabbat halten; [...] Und du sollst zählen sieben Sabbatjahre, siebenmal sieben Jahre, daß die Zeit der sieben Sabbatjahre neunundvierzig Jahre mache. [...] Als Erlassjahr soll das fünfzigste Jahr euch gelten.1 3. Mose 25, 3-11.


Aus der Antike überlieferte Sabbatjahre
-330/329 Steuererlass unter Alexander dem Großen
-162/161 Zweite Schlacht von Bar-Zeth
-134/133 Ermordung des Hasmonäers Simon
-36/35 Eroberung Jerusalems durch Herodes n. SJ.
41/42 Agrippa zit. Deut. 7:15 im Nach-Sabbatjahr
55/56 Schuldverschreibung aus Wadi Murabba'at
69/70 Zerstörung des Tempels von Jerusalem
132/133 Mietverträge des Simon bar Kochba
433/434 Grabsteine aus Sodom
440/441 Grabsteine aus Sodom

Alle aufgeführten Sabbatjahre1 liegen um ein Vielfaches von sieben Jahren auseinander, was eine gleichbleibende Berechnung über mehr als 750 Jahre beweist. Wenn Rabbi Hillel II. also davon ausging, dass das Super-Jobeljahr 4116 JWÄ zu seinen Lebzeiten stattfand, dann muss es sich um das Jahr 355/356 u.Z. gehandelt haben!

Die oben genannten Sabbatjahre wären demnach sämtlich ein Jahr zu spät gefeiert worden? Das erscheint vollkommen ausgeschlossen! Höchstes Streben der Juden war es, das Gesetz Gottes wortgetreu zu befolgen. Jobeljahre nicht auf die Erschaffung der Welt, sondern auf eine Ära nach Adam2 zu beziehen, hätte dem widersprochen und wäre auch logisch unsinnig, da Adam ja am 6. Tag der Schöpfung erschaffen wurde – zu Beginn des allerersten Jahres.

Der Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn die römische Antike 300 Jahre (=20 Indiktionszyklen) später angesetzt wird!1 Die Ära Adam stellt sich damit als ein Konstrukt des Mittelalters dar, um die Unstimmigkeiten zwischen der modernen Jahreszählung des Abendlandes und der jüdischen Überlieferung zu verschleiern.

In Zeiten des Hellenismus kam zusätzlich die heute Seleukidenära genannte Jahreszählung in Gebrauch, die auch als Anno Graecorum oder Alexanderära bezeichnet wurde und welche im 1. Makkabäerbuch als Kontraktära bezeichnet wird. Wie nach Obigem nicht anders zu erwarten, stößt man auch hier immer wieder auf Abweichungen von einem Jahr. Diese wurden ad hoc damit erklärt, dass es unterschiedliche Konventionen für den Jahresbeginn gegeben habe: Die Mazedonier hätten ab dem 1. Oktober -311 gerechnet. In Nahost hätte man sich auf den Babylonischen Kalender bezogen und mit dem 1. Nisanu am 3. April -310 begonnen.2

Zurück zu der Frage, auf welche Weise Rabbi Hillel und seine JWÄ mit der christlichen Jahreszählung verbunden worden sind: Kaiser Julian (331-363 AD) habe Hillel persönlich geschrieben, er wolle die Lebensbedingungen der Juden verbessern, und er habe den Patriarchen seiner Freundschaft versichert. Vor seinem Kriegszug nach Persien habe Julian dann ein Rundschreiben an die jüdischen Gemeinden verfasst, in dem er deren Besteuerung aufhob und den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem aus seiner Privatschatulle in Aussicht stellte... Diese Informationen entstammen den 'Res Gestae' des Ammianus Marcellinus, von dem sich Fragmente über die Jahre 353 bis 378 AD in einer Abschrift des Klosters Fulda aus dem 9. Jh. erhalten hätten.1

So bleibt festzuhalten: Die Authentizität des Berichtes ist höchst fragwürdig und sein Inhalt ist aus Sicht der Juden schlichtweg zu schön, um wahr zu sein! Ging es hier also nur um 'virales Marketing', um die Verbreitung einer sensationellen Botschaft mit dem Ziel, Hillel und damit die JWÄ mit der christlichen Jahreszählung zu verknüpfen – ohne dass irgendwer hätte widersprechen mögen?

Sollte dieser Plan gelungen sein, so blieben noch Überlieferungen zu jenem so überragenden Rabbi Hillel, die ihn als Zeitgenossen des jungen Jesus, möglicherweise sogar als dessen Diskussionsgegner im Tempel beschrieben. Dieses Dilemma erzwang die Annahme, es habe zwei Hillel gegeben: Hillel II., der Schöpfer des jüdischen Kalenders, wirkte von 330-365 u.Z. als Vorsteher des Sanhedrin und jüdischer Patriarch. Er soll ein ferner Nachfahre des Hillel I. gewesen sein, der dieses Amt etwa von 30 v.Chr. bis 9 n. Chr. inne gehabt habe – einen Hepta-Zyklus zuvor (denn nur so bleibt die jüdische Überlieferung einigermaßen plausibel!).2

Azaria ben Rossi kam allerdings zu einem anderen Fazit: Die Stabilität der jüdischen Jahreszählung und ihre Überprüfbarkeit anhand des Systems der Jubiläen habe schließlich dafür gesorgt, dass die unerklärlicherweise falsche Zeitstellung der samaritanischen Torah (gegenüber der modernen und daher maßgeblichen Jahreszählung) bereits im frühen Mittelalter erkannt und korrigiert werden konnte.

Die Chronologieberichtigung Isaac Newtons

Das 1728 posthum erschienene Werk des Isaac Newton, The Chronology of Ancient Kingdoms Amended, ist heute fast in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht hielt man die darin aufgeführten Beobachtungen für leicht widerlegbare Spekulationen – eher geeignet, das Ansehen dieses gewiss bedeutendsten Naturwissenschaftlers seiner Zeit zu schmälern.

Newton hat seine, im Jahr 1689 entstandene Schrift1 wohlweislich nicht zu Lebzeiten veröffentlicht. Es erforderte nicht viel Phantasie, den wütenden Aufschrei der Kollegen in Cambridge vorauszusehen, der seinen Ruf zumindest schwer beschädigt hätte. Bei dieser Gelegenheit wäre dann sicher auch zur Sprache gekommen, dass Newton seine für eine Professur dort vorgeschriebene Priesterweihe stets hinausgeschoben hatte (zuletzt sogar mit Hilfe einer Sondergenehmigung des Königs): Er mochte sich nicht zur Trinitätslehre der Kirche bekennen, die er für eine verderbliche Erfindung des Athanasius hielt.2

Mit Hilfe aller verfügbaren Informationen versuchte Newton die überlieferte Chronologie richtig zu stellen:

»I have drawn up the following Chronological Table, so as to make Chronology suit with the Course of Nature, with Astronomy, with Sacred History, with Herodotus the Father of History, and with it self; without the many repugnancies complained of by Plutarch. I do not pretend to be exact to a year: there may be Errors of five or ten years, and sometimes twenty, and not much above.«

Ihm war zunächst aufgefallen, wie dramatisch überaltert die Geschichte des alten Ägypten datiert wurde.1 Gleiches galt für das Reich der Assyrer. Selbst der ansonsten zuverlässige Herodot hätte die alten Zeiten viel zu lange andauern lassen. Dieser hätte auch die Zerstörung der Stadt Ninive um 300 Jahre zu früh datiert.2

Für das alte Griechenland setzte Newton den Beginn der geschichtlichen Überlieferung bei der Expedition der Argonauten an. Jene seien aufgebrochen, als die Sonne zur Zeit der Sommersonnwende im Zentrum des Sternbilds Krebs stand. Diese eindeutig zu datierende Überlieferung sei glaubwürdig, da ja bis heute Sternbilder die Namen von Teilnehmern dieser Expedition tragen (z.B. die Zwillinge Castor und Pollux). Alle anderen Namen von Sternen und Sternbildern seien älter. Musaeus, einer der Argonauten, soll als Erster eine Himmelskugel zur Navigation angefertigt haben. Diese Kugel der Alten wurde später von Eudoxus beschrieben. Auch von anderen antiken Autoren wurde die Lage der Jahreseckpunkte im Zentrum der jeweiligen Tierkreisbilder bestätigt.

Da die Situation zur Zeit von Newtons Studie im Jahre 1689 hiervon um fast 37° abwich und die Präzession der Erde 1° in 72 Jahren ausmacht, musste die Argonautenexpedition 37 x 72, also etwa 2660 Jahre zurück liegen und damit ungefähr um das Jahr 970 vor unserer Zeit datieren:

»The Greeks have therefore made the Argonautic Expedition about three hundred years ancienter than the truth, and thereby given occasion to the opinion of the great Hipparchus, that the Equinox went backward after the rate of only a Degree in an hundred years.« [p.32]

So kam Newton schließlich zu dem Ergebnis, dass auch die Geschichtsschreibung der frühen griechischen Antike einst absichtlich veraltet wurde:

»..they have made the Antiquities of Greece three or four hundred years elder than the truth.« [p.3]

Offenbar war Newton aber auch schon aufgefallen, dass die Veraltung der Überlieferungen seine Beobachtungen nur zum Teil erklärte. Neben dieser bestanden weitere Unstimmigkeiten, wie die Verdopplung geschichtlicher Personen:

»For reconciling such repugnancies, Chronologers have sometimes doubled the persons of men.« [p.4]

Newtons Analyse beschränkte sich dabei auf die Chronologie der Antike. Dort war die Ursache für die beobachteten Diskrepanzen jedoch nicht zu finden, sodass er zusammenfassend seinen Lesern doch nur eine Spekulation anbieten konnte:

»And whilst all these nations have magnified their Antiquities so exceedingly, we need not wonder that the Greeks and Latines have made their first Kings a little older than the truth.« [p.376]

Was Newton (und nicht nur er) dabei übersehen hatte: Wenn Herodot den Fall von Ninive anscheinend um drei Jahrhunderte zu früh datiert hatte, dann lag dies daran, dass mit der ganzen griechisch-römischen Antike auch deren Geschichtsschreiber Herodot in Wirklichkeit etwa 300 Jahre später gelebt hat, als allgemein angenommen. Seine Datierung des Untergangs von Ninive lieferte somit keinen Beleg für eine weitere willkürliche Veraltung. Im Gegenteil: Der Bericht des Herodot ist korrekt datiert. Er steht in vollem Einklang mit unserer Jahreszählung! 1

 

Wie zu erwarten, wurde Newtons Analyse nach ihrer späten Veröffentlichung von den zeitgenössischen Historikern umgehend zurückgewiesen. Seine astronomisch überprüften Belege wurden ignoriert (Diese beweisen immerhin, dass deren antike Verfasser die alten Überlieferungen zeitlich stimmig eingeordnet hatten). 1758 erschien das Buch 'Defense de la Chronologie fondee sur les monuments, contre le systeme chronologique de Newton' des Nicolas Feret, in dem dieser den zirkelschlüssigen Versuch unternahm, die Chronologie mit Hilfe der chronologischen Einordnung antiker Hinterlassenschaften durch die Historiker zu bestätigen. Newtons Chronologiekritik geriet nach dieser Attacke dann rasch in Vergessenheit...

Der Konflikt zwischen der traditionellen Vorgehensweise der Historiker und jener der frühen Naturwissenschaftler war jedoch zu dieser Zeit bereits nicht mehr zu übersehen: An den Universitäten Europas hatte sich die Geschichtswissenschaft einst aus der Theologie als deren Hilfswissenschaft entwickelt, welche den Ablauf der Heilsgeschichte gemäß dem Plane Gottes untersuchen sollte. Sowohl für das Verständnis der biblischen Überlieferungen war dies von eminenter Bedeutung gewesen, wie auch für das künftige Schicksal der Welt bis hin zum Jüngsten Tag.

Während die Historiker sich weiterhin mühten, die Abfolge der Überlieferungen in das große Panorama der Weltgeschichte einzuordnen, um auf diese Weise zu einem Verständnis der Zusammenhänge zu gelangen, konnten sie sich mit einer Vorgehensweise nicht anfreunden, die sich strikt auf die unabhängig überprüfbaren Fakten und Zahlen beschränkte, um aus diesen ein stimmiges Weltbild zu gewinnen.

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