Lesen im dritten Lebensalter

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(…) eine ganz eigene Charakteristik, die sich vor allem in einer Sichtweise des Lebensphasenkontextualismus ergibt. Menschen in dieser Lebensphase sind entlastet von den Anforderungen des Berufs und verfügen aufgrund ihrer weiterhin hohen Kompetenzen sehr aktiv über die Ressource Zeit. Gleichzeitig stehen gerade in dieser Lebensphase Anforderungen der Hochaltrigkeit (‚Viertes Alter‘) vor der Tür.58

Die soziokulturelle Realität in den dreißig Jahren zwischen 1945 und 1975, in der Menschen des heutigen dritten Lebensalters aufwuchsen, zeichnete sich durch eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung aus, die für eine vermutete Zunahme von psychischen Symptomen oder Erkrankungen verantwortlich gemacht werden könnte. Nach Martin Dornes führte dieses Klima jedoch „(…) nicht zu einer Erhöhung der kindlichen oder erwachsenen Krankheitshäufigkeiten im Bereich des Seelischen (…)“59, weil kollektive Gefühle zwar Stimmungen von Müdigkeit oder Ängstlichkeit erzeugten, nicht aber Angsterkrankungen.60 Dieser Zeitabschnitt und der ihm folgende in den 1980er bis 1990er Jahren stellte kompensatorische Möglichkeiten bereit, Krisen und Krisenerfahrungen „hinsichtlich ihrer symptomerzeugenden Kraft“61 zu mindern und zu bewältigen. Der Rückgang eindeutiger Orientierungen, die Lockerung von Traditionen, Entraditionalisierung mit wachsenden Freiheits- und Autonomiemöglichkeiten, führten zu erhöhter Flexibilität und schufen Grundlagen für „(…) Fähigkeiten wie Kreativität, Initiative, Ambivalenztoleranz und Komplexitätsbewältigung, die unerlässlich sind für die erfolgreiche Bewältigung des modernen Familien- und Arbeitslebens.“62

Der Zugewinn an persönlicher Autonomie, den Erich Fromm Freiheit von nennt, ließ „Verdrängungen reversibler und weniger endgültig“63 werden, wodurch Freiheitsgewinne und Möglichkeiten entstanden, Gesellschaft und Kultur humaner und demokratischer zu gestalten. Beiträge zu diesen Prozessen leisteten auch die öffentliche Debatte um die erste Version der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und die Debatten um die Umgangsweisen der Schriftsteller Martin Walser und Günter Grass mit ihrer NS-Vergangenheit.64

Mit Erfahrungen einer gefährdeten Autonomie,65 der die aus der Nachkriegszeit stammende Elementarspannung von Angst und Sicherheitsbedürfnisdurch durch das Auseinanderbrechen gültiger Ordnungsstrukturen und dem damit einhergehenden Wirklichkeitsverlust zugrunde liegt,66 kann durch den zeitlichen Abstand des Alternsprozesses bewirkt, eine Gelassenheit reifen, deren Grundstimmungen zwar Angst und die Suche nach Sicherheit ist, die aber der gesellschaftlichen Herabsetzung der Alten durch die Enkelgeneration und der „Misstrauenskultur gegenüber Älteren“67, mit kritischer Distanz, Humor, aktiver Imagination und einem durch Älterwerden gereiften Urteilsvermögen begegnen kann.68

Durch diese Fähigkeiten öffnen sich Altersgelassenheit und Gerotranszendenz gegenüber Kunst, Musik und Literatur mit problemorientierten, Gefühle affizierenden Inhalten. Rezipient/innen des dritten Lebensalters können durch ihre Krisenkompetenz gegen das Schweigen ihrer Eltern69 offen sein und bereit, transgenerationale Dialoge zu führen, die der eigenen Stimme dieser Generation, wie auch den Zeitzeugen, „eine Gestalt zu verleihen“ vermögen.70

Da aufgrund der prinzipiellen Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit des Menschen die Offenheit Alternder neue Entwicklungsmöglichkeiten in den Blick nehmen kann, können im dritten Lebensalter jugendliche Krisenerfahrungen der Protestidentifikation bzw. der Identifikation mit dem Aggressor in Generativität und Gerotranszendenz transformiert werden.

Im „originelle(n) Gebrauch von Wissen und Strategien“, die zu „neuartigen Lösung(en) eines Problems“ führen, kommt eine „bejahende Einstellung zu Welt und Mensch, als ein grundlegendes Interesse an Menschen wie auch an Prozessen der Welt“ bei Alternden zur Geltung.71

Zu dieser bejahenden Welteinstellung gehören unter anderem Neugier, Experimentierfreude, Offenheit, der Mut zum Neubeginn, der kreative Umgang mit schwierigen Entscheidungssituationen, Generativität als „höhere() Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen“72 und der kreative und kritische Umgang mit Kunst, Musik und Literatur, durch die im Alter erhöhte „Sensibilität für emotionale Inhalte“.73

Kreativität im Alter „(…) betrifft die Kunst der eigenen Lebensführung und das Eintreten für unsere spezifische Existenzform, aber auch die erfinderische Antwortsuche auf Lebensfragen, die spezifisch menschlich sind.“74 Diese kreative Lebensbejahung ist in die drei Dimensionen der Gerotranszendenz, die das Selbst, die Welt und den Kosmos betreffen, eingebettet. In der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem, befähigt sie zu „kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“.75

Werke der Kunst, Musik und Literatur lösen Potenziale einer mitfühlenden Reflexion aus. Sie stellen nicht nur „kreative Lösungen der Weitergabe an die nächste Generation“ bereit,76 sondern sprechen in der ästhetischen Transformation menschlicher, weltlicher und kosmischer Beziehungen gerotranszendete Fähigkeiten Alternder emotional an. Sie evozieren Perspektiven auf tragfähige Lebenseinstellungen, die angesichts der Verletzlichkeit des eigenen Lebens, dieses als eine „im Werden begriffene() Totalität“77 zu verstehen und anhand der auf Ganzheit zielenden ästhetischen Gestaltungen zu reflektieren vermag.

Gerotranszendenz ist ein Vermögen, das sich als „positiv besetzte Aufmerksamkeitsleistung“78 ästhetischen Erfahrungen öffnet. Deren wesentliches Charakteristikum besteht in dem Anspruch, Aufmerksamkeit aufgrund neuer Erfahrungen zu erregen. Wolfgang Welsch sieht die Wirkung ästhetischer Ausdrucksformen in „Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit“79, die im „spezifischen Vollzug“80 ästhetischer Wahrnehmung erfahren wird. Im Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmung im allgemeinen, zeichnet sich nach Martin Seel, ästhetische Wahrnehmung dadurch aus, dass sie „aus einer Fixierung auf eine theoretische oder praktische Verfügung über ihre Objekte heraus(tritt)“. Ästhetische Wahrnehmung, so Seel weiter, „(…) nimmt ihre Objekte unabhängig von solchen Funktionalisierungen in ihrer phänomenalen Gegenwärtigkeit wahr. Sie ist hier und jetzt für das Spiel der ihr zugänglichen Erscheinungen offen.“81 Die durch Gerotranszendenz aktivierte ästhetische Wahrnehmungssensibilität der Rezipient/innen des dritten Lebensalters erschließt in Werken der Kunst, Musik und Literatur Ausdrucksformen einer ästhetisch präsenten und verdichteten Lebendigkeit,82 die zu eigenständigen Erkenntnisleistungen führt. Da diese emotional, kognitiv und evaluativ an „das spezifische Erscheinen der künstlerischen Objekte gebunden“ ist, wird sie nicht primär zur begrifflichen Erkenntnisleistung.83 Vielmehr evoziert ästhetische Erkenntnis das reflexive Selbst- und Weltverhältnis der Rezipient/innen.84

In kultursemiotischer Sicht sind sich Romane des Viktorianischen Zeitalters und Romane der klassischen Moderne darin ähnlich, dass sie die Erforschung moderner Subjektivität narrativ multiperspektivisch, mit unzuverlässigen Erzählern, gestalten: Romane des Viktorianischen Zeitalters in den narrativen Paradoxien von grotesker Vorenthaltung persönlicher Autonomie und märchenanalogen Chancen subjektiver Selbstverwirklichung; experimentelle Romane der klassischen Moderne in der Simultaneität ungleichzeitiger Ereignisse. Narrativ gestalten diese Romane die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Subjekts,85 die die Erzählkunst des frühen 18. bis zum 21. Jahrhundert wie ein großer Phrasierungsbogen überspannt und Vergangenheit zukunftsbezogen in ästhetischer Präsenz verdichtet. Die Romane werden, wie oben dargelegt, zu Gedächtnismedien der Moderne.86

Die erzählerischen Verfahren narrativer Gedächtnismedien lassen sich im kultursemiotischen Rahmen in die Nähe biografischer Erfahrungen von Rezipient/innen des dritten Lebensalters rücken. In ihrer Komplexität lassen sie sich als produktive Illusionen, die wir zum Leben brauchen, erschließen und als narrative sowie kulturelle Antwortmöglichkeiten auf menschliche Lebensfragen reflektieren.

Ins ästhetische Imaginationsspiel wird die Fähigkeit der Rezipient/innen des dritten Lebensalters zur aktiven Imagination gezogen. Verena Kast definiert diese Fähigkeit damit, „(…) daß das Ich aktiv in die Imagination eintritt, daß es ‚kontrollierend‘ und verändernd-verwandelnd ins imaginative Geschehen eintreten kann. Dadurch wird das Unbewußte dem Bewußtsein verbunden“.87

Im Alternsprozess steigt die Sensibilität für emotionale Inhalte wodurch die aktive Imagination der Rezipient/innen des dritten Lebensalters in ihrer altersgemäßen Differenzierungsfähigkeit von der Dramaturgie der Erzählwelten, ihren kontrastreichen emotionalen Inhalten und ihren offenen Formen angesprochen wird. Da die aktive Imagination Unbewusstes mit Bewusstem verbindet, öffnet sie sich grotesken, märchenanalogen, multiperspektivischen Varianten der Darstellung der literarischen Angst, die, typisch für den Roman der Moderne seit Mitte des 18. Jahrhunderts, mit der zentralen Thematik der Selbstfindung des Ich, „Zonen des Vor- und Unbewußten“ im erzählten Bewusstsein der Protagonisten situiert.88

Bei der Erschließung der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne reflektieren Rezipient/innen des dritten Lebensalters mitfühlend auf diese Erfahrungen. Zwar können sie Ereignisse ihrer biografischen Situation nicht ändern, wohl aber „die Bilder davon in (ihrem) Kopf (…).“89 Die epochale und ästhetische Distanz zwischen ihnen und den Romanen eröffnet ihnen vom sicheren Ort der Lektüre aus eine selbstreflexive Beobachterposition, die die Bösewichter, Dämonen und Schurken dieser Romane – als Gestalten der Angst und des Hasses, oder auch der Komik und Satire – zu Gegenbildern innerer Feinde werden lässt:

 

In unseren Bildern ist immer auch unser momentanes Verständnis von uns selbst und der Welt, das Verständnis unserer gegenwärtigen Beziehungsmöglichkeiten abgebildet (…). Außerdem kann Abstand genommen werden von sehr negativen Vorstellungen von sich selbst, allenfalls können Sehnsuchtsbilder wesentliche Aspekte der Persönlichkeit freilegen, die bisher zu wenig ins alltägliche Leben integriert wurden. Das Selbstgefühl verändert sich (…).90

In einer späteren Publikation ergänzt Verena Kast diesen Gedanken am Beispiel einer empirischen Studie zur Imagination, die im Vergleich real rudernder und imaginiert rudernder Sportler zu dem Ergebnis kommt, dass bei Klienten imaginative Ressourcen aktiviert werden können, wenn kinästhetische Wahrnehmungen das Wohlbefinden fördern: „Imagination bewirkt also nicht nur emotionale Veränderungen, sondern auch körperliche“91, die sich, so Kast weiter, im Alter durch aufmerksames sinnliches Wahrnehmen der Welt und ihrer Natur steigern: „Durch die Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung wird die Vorstellungskraft immer wieder neu angeregt (…)“ – wobei die Einbeziehung „(…) eine(r) wissenden Kreativität(…)“92 die selbstreflexive Rezeption von Kunstwerken stärkt und steuert.93

Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne können eine Veränderung des Selbst- und Weltgefühls der Rezipient/innen des dritten Lebensalters in dem Sinne bewirken, dass das „Leben schöpferisch gestaltet werden kann, schöpferisch im Sinne der Persönlichkeitsänderung“.94 Wissende Kreativität und transitorische Identitätserfahrungen gehen ineinander über.

Im Rezeptionsakt entstehenden kreative Formen der „Konfliktfähigkeit“95, die Erfahrungsmöglichkeiten einer Alters-Coolness als lebenskluge Gefasstheit hervorrufen.

Diese Gefasstheit ist als Dialektik gelingenden Lebens im Alter zu verstehen. Jean Améry bezeichnet sie als Bejahung einer zum Scheitern verurteilten Revolte. Diese setzt der „Ver-nichtung“ der Alternden „durch die Gesellschaft“ eine flexible Haltung entgegen, die seitens der Alternden „die Ver-nichtung an(nimmt) (…)“.96 Die Alternden wissen, dass sie sich nur dann selbst bestimmen und bewahren können, wenn sie sich dieser Unausweichlichkeit stellen. Nach Améry ist der Alternde „in der Anerkenntnis des Nichts-Seins noch ein Etwas. Er macht die Negation durch den Blick der Anderen zu seiner Sache und erhebt sich gegen sie.“97 Reife im Alter bedeutet, unangepasste Lebenswege zu gehen, die das Gefühl stärken, ein eigenes Leben in der Gesellschaft der Mitmenschen führen zu können, eine Lebenshaltung, die auch der Generation der Rezipient/innen des dritten Lebensalters entspricht.

Literarische Werke, Märchen, Mythen, antike Dramen, Musik, Philosophie, die Paradoxie des poetischen Realismus, die dem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts Gestalt verleiht und die modernistische Erzählweise der Romane nach dem Ersten Weltkrieg, stellen für diese Identitätsproblematik kreative Lösungen bereit. Als ästhetische Analogieerfahrungen zur Dialektik des Alterns und den spezifischen Erfahrungen der Nachkriegsgeneration, der von ihnen erfahrenen elementaren Spannung zwischen Angst und Sicherheitsbedürfnis, lösen sie Empathiepotenziale aus, die Resilienz und Anpassungsfähigkeit im Alter als wichtige Ressourcen einer kritischen Selbst- und Weltbegegnung freisetzen können.

In der Auseinandersetzung mit Romanen, die in der ersten und zweiten Moderne entstanden, erschließen Rezipient/innen des dritten Lebensalters ästhetische Gegenwelten, die komplexen Gefühlswelten ein Gesicht, dem Grauen und dem Glück einen Namen geben, die Gegenbilder zu traumatischen Erfahrungen entstehen lassen, die zu einer Aktivierung einer inneren Bühne anregen, auf der Krisenerfahrungen „reinszenier(t)“98 werden können.

Die narrativen Strukturen dieser Romane affizieren „(t)rauma-assoziierte Gefühle“, zu denen „Ohnmacht, Todesangst, Panik, Ekel und Scham“ gehören und die im Individuum auf Gefühle treffen, die „der Verarbeitung“ traumatischer Erfahrungen durch „Empörung, Wut und Trauer“ dienen.99 Gleichzeitig wird die Fähigkeit dieser Gruppe von Rezipient/innen zur Gerotranszendenz aktiviert, die ebenfalls in der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem zu „kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“ befähigt.100 Die in den Romanen zu entziffernde unauflösbare Diskrepanz des Kapitalismus zwischen Gleichheitsversprechen und ihrem empirischen Gegenpol der Vorenthaltung von Humanität durch Pauperisierung und Sinnentzug wird zum erzählerischen Diskursangebot.

Die Rezipient/innen werden zu ästhetisch entfernter Nähe angeregt, noch unentdeckte Dimensionen ihrer Subjektivität in den narrativ verfremdeten Erzählwelten der Moderne auf den drei Ebenen der Gerotranszendenz 101 zu erkunden.

Humor, Ironie und Selbstreflexion

Rezipient/innen des dritten Lebensalters, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit biografischen Erfahrungen aufgewachsen sind, die sie in ihren menschlichen Grundbedürfnissen nach Orientierung und Kontrolle102 verunsicherten und die deshalb Angst und Hilflosigkeitserfahrungen mit Sicherheitsbedürfnissen103 verknüpften, haben im Prozess des Erwachsenwerdens unterschiedliche Möglichkeiten, Erfahrungen des Scheiterns durch herausfordernde bzw. explorativ gesuchte Phasen des Neubeginns in positive oder kreative Erfahrungen zu transformieren. Diese Transformationserfahrungen führen zu einer gereiften und flexiblen „Altersidentität“.104

Wesentliche Bestandtteile dieser Identität sind Offenheit, Neugier, Humor und Ironie, wobei Ironie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Grundstimmung in Deutschland wurde. Humor und Ironie, denen die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung eigen ist, kommen aus dem intuitiven Alterswissen. Ironie, so Odo Marquard in Anschluss an Kierkegaard, wurde „nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Grundstimmung“, weil Ironie Selbstschutz bedeutet. Der „Ironiker will nicht mit der Wirklichkeit behelligt werden“.105 In Abgrenzung zum Humor will „Ironie das Absolute“.106 Indem Ironie „(…) die ganze Wirklichkeit relativiert, unverbindlich und unernst macht, wird sie zum Schutz vor der Wirklichkeit: sie flüchtet sich, indem sie selbst das Absolute scheint (…).“107 Demgegenüber bekräftigt der Humor das Endliche. Seine Distanz entsteht „(…) nicht durch Aufschwung ins Höhere, durch Auflösung ins Absolute (oder) Erhabene (…), sondern indem bekräftigt wird, dass es ist, was es ist: nämlich das Nichtabsolute, das Nichthöhere, das Endliche inmitten von Endlichem.“108 Aus diesem Befund folgert Marquard, dass der Humor „(…) das Endliche, das er selber ist, mit viel anderem Endlichen in Verbindung bring(t).“109 Da das Endliche sich, nach Marquard, als Menschliches dadurch zeigt, dass es nicht aufhört Endliches zu sein, sondern als Endliches bekräftigt wird, wird es „(…) durch anderes Endliche distanziert, und zwar durch möglichst vieles (als) geteilte Endlichkeit (, die) lebbare Endlichkeit (ist).“110Dieser Antireduktionismus, der hauptsächlich Nichtabsolutes wahrnimmt enthält das Geheimnis des Humors, „(…) mehr als Endlichkeit zu wagen und zu realisieren, wie es ist: dass die Quintessenz über die Wirklichkeit ist, dass das Leben kurz ist und wir sterben müssen.“111

Aus Ressourcen wie Humor, Lebenserfahrung, Gesprächsbereitschaft mit Jüngeren, Neugier, Kreativität, die Fähigkeit eigene Ängste wahrzunehmen und mitteilenzu können, entsteht das Potenzial einer „Akzeptanz des Alterns“112, die, im Unterschied zu jugendlichen Alternsphasen, „Simultaneität positiver und negativer Emotionen“ in ihrer Koexistenz zur „wichtige(n) Form von Ganzheitserleben“ im Alter werden und Verdrängungen reversibel werden lassen. Dieses Ganzheitserleben wird zudem durch die Erinnerungsarbeit Alternder verstärkt, die in Situationen des Lebensrückblicks „eine Schau auf das ganze Leben ermöglichen“, in der verschiedene Lebenserfahrungen in der Erinnerung zur narrativen Identität integriert und bewertet werden.113

Diese das mittlere und höhere Alter stabilisierende Individuation ruft nicht nur Erinnerungen an Werke der Kunst, an Begegnungen mit Musik und Literatur hervor, sie aktiviert auch die Sensibilität für das Erschließen und Reflektieren anspruchsvoller Erzählwelten, in deren narrativer Ästhetik das Dunkle mit dem Hellen des Lebens, Angst mit Freude, das Groteske mit märchenhaft Erhabenem, Krisen und Abgründe mit kathartischen Lösungen verwoben sind. Die Werke bieten Gelegenheit, in individueller Lektüre und im Diskurs, sich in ästhetischer Verfremdung mit dem eigenen „Schatten (…), das heißt mit denjenigen Aspekten der eigenen Persönlichkeit, die wir ablehnen“ 114 auseinanderzusetzen. Humor spielt hierbei eine wesentliche Rolle.

Affiziert werden in diesem Verstehensprozess zugleich Fähigkeiten, die bei Rezipient/innen des dritten Lebensalters ein therapeutisch wirkendes, „mitfühlendes Verstehen (ihrer) selbst“115, die Fähigkeit, sich mittels ästhetischer Distanz selbst in Frage zu stellen116, eröffnen.

Da das dritte Lebensalter eine Lebensphase ist, in der Menschen dieser Altersgruppe sich nach innen wenden, Ausgespartes ihres Lebens aufnehmen und dadurch den Prozess des Werdens zu sich selbst reflektieren, wird die Frage nach der Bedeutsamkeit der eigenen inneren Welt im Zusammenhang der biografischen Entwicklung immer wichtiger. Es entstehen neue Entfaltungsmöglichkeiten, die Fragen nach dem Sinn des Lebens auch in der Hinwendung zu Träumen, Imaginationen und Werken der Kunst zu beantworten suchen.117 In dieser Phase des Individuationsprozesses entstehen in Bezug auf Werke der Kunst, Musik und Literatur Plausibilitätsfragen, die Fragen der künstlerischen Gestaltungsprozesse betreffen – z.B. „wie hat der junge Dickens, wie haben die jungen Schwestern Brontë, wie Virginia Woolf solche komplexen Romane, die sich mit Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Tod beschäftigen, entwerfen und schreiben können – wie sind diese Erzähluniversen gemacht“? Diese Plausibilitätsfragen, die Wertvorstellungen und Lebenserfahrungen der Rezipient/innen des dritten Lebensalters mitreflektieren, die zudem in den Diskurs um die narrativen Welten eingebracht werden, lassen sich in einer unten dargelegten kultursemiotisch fundierten Drei-Phasen-Methode erarbeiten.

In der kreativen Erschließung von Romanen des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne, die Lösungen für die Abgründe der modernen Seele erforschen und vorschlagen, können Rezipient/innen des dritten Lebensalters wichtige Schritte „zur psychischen Stabilisierung“118, über die kreative Aktivierung ihrer Empathiefähigkeiten, ihrer evaluativen und kritischen kognitiven Vermögen vollziehen.119 Zugleich erarbeiten sie kulturhistorische Einsichten in die Entstehungszeit der reflexiven Moderne, ihre Macht der Verdinglichung, Krisen und Entwicklungswege, die uns heute noch betreffen.

In kultursemiotischer Perspektive gestalten Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne in der Simultaneität kontrastierender Emotionen120 transitorische Identitätserfahrungen, die in ihren Zwischenstufen als Varianten der Liebe, des Liebesverrats, der Verachtung und des Hasses in positiven und negativen Beziehungsmustern durchgespielt werden und zwischen Außen- und Innenwelt, Fremd- und Selbstbestimmung oszillieren.

Unter der rezeptionsästhetischen Bedingung ästhetischer Distanz lassen sich diese Erzählwelten erschließen und kultursemiotisch reflektieren.