Lesen im dritten Lebensalter

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Während Romane der Viktorianischen Ära ihre Geschichten zu einem oft positiven Ende bringen – sie enden in Heiraten, individuellem Glück oder in einem tragischen Tod –, enden Romane der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einer ungewissen Offenheit, die, angesichts unlösbarer sozialer und historischer Turbulenzen, Romanfinale gestalten, „(which) are often forced to move altogether beyond it in one way or another towards vision rather than reality.“53

Instabile Erzählwelten als Deutungsangebote für Rezipient/innen des dritten Lebensalters

Erfahrungen transitorischer Identität lassen sich auf konkrete historische Entwicklungen beziehen, weil Identitätserfahrungen als „historische Situierung“ in der Moderne sich im und am Subjekt abspielt, so dass „es historisch von einer Form von Identitätsbildung zu einer anderen kommt.“54 Transitorische Identität als Selbstgefühl widersprüchlicher Aspirationserfahrung wird in der gegenwärtigen Sozialpsychologie als offener Prozess gedacht, der im Gegensatz zu stabilen und fixierten Identitätszuschreibungen traditionaler Gesellschaften unabschließbar ist. Die Formen der Romane von Dickens und die der Brontës nimmt das transitorische Identitätsphänomen als Problem der Ambivalenz von „Kontinuität und Kohärenz gegen Wandel und Flexibilisierung“55 in der Paradoxie des poetischen Realismus erzählerisch auf. Dickens‘ Roman Oliver Twist „(…) is the first novel in the language with its true centre of focus on a child. Although it came after Sketches by Boz and Pickwick, in a sense it was Dickens’s first novel.”56 Charlotte Brontës Protagonistin „(…) Jane Eyre is perhaps the first heroine in English fiction to be given, chronologically at least, as a psychic whole. Nothing, in fact, quite like Jane Eyre had ever been attempted before.”57

Beide Romane plausibilisieren transgressives Erzählen als Entzug der Identitätsbildungsmöglichkeiten ihrer Protagonisten, als Legitimationsverlust ihrer Erzähler und als unmögliche Möglichkeit einen Roman zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien plausiblen Lösungen zuzuführen. Beide Romane sind in ihrer jeweiligen Ausdrucksgestalt fragmentierte Universen, ästhetische Krisenphänomene des bürgerlichen Mittelstandes:

The Victorian middle class never attained a period of stability equal to that in which, following the restauration, the aristocracy achieved the order of the eighteenth century. The problem of cultural transmission was bedeviled by sheer rate of social change. To take up a position at all was to pitch camp on a cultural landslide.58

Die von Peter Coveney gewählte Metapher eines aufgeschlagenen Lagers auf abstürzendem Abhang, die politische Positionen für den bürgerlichen Mittelstand impliziert, trifft die kulturelle und existenzielle Identitätsfrage des bürgerlichen Mittelstandes dieser Zeit. Zu einer vergleichbaren Diagnose des Sinn- und Orientierungsverlusts des bürgerlichen Mittelstandes kommt Franco Moretti in seiner Publikation Der Bourgeois.59

Ambivalenz prägt die Struktur der Werke Dickens‘, der Werke der Brontës und die der Werke Virginia Woolfs, deren Ausdrucksgestalten zwischen Dauer und Wandel, Stabilität und Instabilität erzählerisch zu vermitteln suchen, ästhetisch die Zirkularität des in den bürgerlichen Selbsttheorien reflektierten Selbstgefühls60 in Begrifflosigkeit fragmentarisch auflösen und ästhetisch transzendieren. Die Erzählwelten um die es im Folgenden geht sind instabil. Sie stellen sich den gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den damit in die Moderne weisenden Transformationsprozessen, die die „rasante(n) Veränderungen der Erfahrung von Raum und Zeit“ und die Folge in sich aufnehmen, dass sich das Wirklichkeitsverhältnis zeitlich transformiert, „die Zukunft den Charakter eines offenen Möglichkeitsraumes“61 erhält und das freie Spiel der Kräfte des Liberalismus im erzählerisch geformten Ausdruck, in der polyvalent-offenen Struktur, zum Ausdruck kommt.

Die ökonomischen, politischen und ästhetischen Wirklichkeitssegmente der ersten Modernisierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich die einer „Umstellung der Gesellschaft auf eine kapitalistische Produktionsweise“, das „Reflexivwerden des säkularisierten Selbstbewusstseins“, die „Befreiung der Künste aus religiösen und politischen Heteronomien“, die die „Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts und seiner Lebenswelten“ ins Leben rufen,62 werden von den Romanen des Viktorianischen Zeitalters narrativ transformiert und zum Erkenntnispotenzial ihrer neuen Wirklichkeitssicht zusammengezogen. Wie im Zuge der zweiten Modernisierungsphase bei Virginia Woolf, geht es Ihnen nicht um eine nachahmende Reproduktion kultureller Zusammenhänge, sondern um die erzählerisch experimentelle Aufdeckung von Fragen nach den Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts. Diese Aufdeckung macht literarische Verfahren erforderlich, die Lösungsansätze für die Diskrepanzen des Zeitalters anbieten. Die Suche nach Lösungsansätzen kollidiert in den Werken des Viktorianischen Zeitalters mit ihren affirmativen Ansprüchen, den Erwartungen ihrer Leser/innen entgegen zu kommen. In Werken der zweiten Moderne wird ein Entgegenkommen den Leser/innen gegenüber durch eine Ästhetik narrativer Brüche verweigert.

Es geht im Rezeptionsprozess also nicht um die Aufdeckung einer geheimen Wahrheit hinter den Erzählwelten, es geht nicht um eine Erschließung einer ihr eingelagerten bewussten Intention. Es geht darum, das dynamische Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene, Inhalt und Form, als dynamische Spannung gegensätzlicher Kräfte zwischen episodischer Kohärenz auf der Inhaltsebene und fragmentarischer Kontingenz auf der Ausdrucksebene in Gestalt narrativer Ambivalenzen zu erschließen. Dieses Kräftefeld relationiert normative Dimensionen der Erzählwelt, lässt sie im Prozess des Erschließens der erzählten Welt fragwürdig und zum Diskursangebot werden. Daraus resultieren Einsichten der Rezipient/innen in die autoreferenzielle Reflexion der erzählten Welt, die „Fragen nach den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der Fiktion“63 zulässt, ferner: Einsichten in ihre „Dialogizität“, die narrative „konträre Auffassungen und Positionen unablässig aufeinander projiziert und in diesem Prozeß füreinander durchlässig werden“ lässt64 und Einsichten in die Fragmentierung ihrer Form.

Dieses besondere „Form- und Sinnbildungsmuster“65 des bürgerlichen Romans in Großbritannien, das als Signatur des Sinnverfalls und der Kohärenzauflösung der Identitätsmöglichkeiten des Subjekts in der Moderne gelesen werden kann, wird zum Angebot für heutige Leser/innen des dritten Lebensalters, ihr oben umrissenes kulturelles und biografisches Vorverstehen im Lektüreprozess durch eine produktive Zusammenführung der narrativ unverbundenen Zusammenhänge zu problematisieren. Im Erschließungs- und Reflexionsprozess erhält die hermeneutische Progressionsmethode ihre dialogische Dynamik aus den Erwartungs- und Reflexionshaltungen ihrer Leser/innen.

Die erzählerische Form als dialektisches Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene ist eine hermeneutische Formbestimmung, die die erzählerische Form nicht formalistisch als „Befreiung vom Inhalt“, sondern in ihrer Dialektik zur „unerlässlich(en)“66, dialogermöglichenden Bedingung der Erschließung der ästhetischen Differenz und damit des Verstehensprozesses werden lässt.

Indem diese Romane in ihren narratologisch differenten Ausdrucksgestalten den Sinn- und Orientierungsentzug der reflexiven Moderne anschaulich werden lassen, bieten sie ihren Leser/innen Entfremdungs- und Unheilerfahrungen der modernen Welt und die mit ihr einhergehende Identitätsfrage als erzählerische Problemdiagnose und als Sinnangebot an: Autonomieansprüche der Protagonisten werden perspektivisch gegen patriarchale Hegemonialansprüche in Stellung gebracht und laufen narrativ auf eine tödliche Gefährdung ihrer Identitätsmöglichkeiten hinaus. Es entstehen narrative Strukturen einer reflektierten Vergeblichkeit, die die Sehnsucht nach erfüllter Ganzheit bzw. den Schrecken vor ihrer Nicht-Erfüllbarkeit erzählerisch zum Vorschein bringen.

Die Rolle der Literatur in der Moderne wird vor dem Hintergrund der Beschleunigung, einer rasanten Veränderung von Zeit und Raum, der offenen und fortschrittsbezogenen Zukunftsorientierung, sozialer Verwerfungen, des Werteverfalls und Sinnvakuums, die der Modernisierungsprozess seit dem 18. Jahrhundert mit sich brachte, problematisch. Sie übernimmt die Rolle einer Konfrontation und Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen dieses ungeheuren Transformationsprozesses, indem sie ihn erforscht, in Bilder einer wiederverzauberten Welt zu kleiden sucht67 und narrativ kritisiert.

Heute evozieren Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne Leselust, Neugier auf Handlungsentscheidungen und -verwicklungen in den Plots und kritisches Interesse an den kulturdiagnostischen Lösungen, die die Romane vorschlagen. Indem die reflektierende Urteilskraft der Rezipient/innen angeregt wird, kommen kathartische Moment ins Spiel, die verletzende Erinnerungen affizieren.68

1.5 Rezipient/innen des dritten Lebensalters – Die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg

Im Rahmen von gelenkten Seminargesprächen, die durch eine Drei-Phasen-Methode strukturiert sind – wir gehen weiter unten darauf ein – kommen wissbegierige, neugierige und sprachsensible Teilnehmer/innen des dritten Lebensalters freiwillig und mit Interesse an Romanlektüren zusammen.

Die Lebendigkeit der Interaktion zwischen den Rezipient/innen und den literarischen Texten, ihr Erschließen, Durchdenken und der kritische Diskurs, kommen durch Potenziale zustande, die in der Gerontologie unter dem Begriff der Alterskreativität zusammengefasst werden. Deren charakteristische Merkmale sind Offenheit und imaginative Möglichkeiten. Dazu gehört auch die Fähigkeit zur Gerotranszendenz, deren Schlüsselkompetenzen Weltinteresse und Spiritualität sind. In der Interaktion zwischen den literarischen Texten und den Rezipient/innen werden diese Fähigkeiten aktiviert und die heilende Kraft der Phantasie der Rezipient/innen wird kathartisch wirksam.

 

Die kreativ heilende und politisch wirkende Kraft der Phantasie wird von dem Gerontologen Andreas Kruse in Bezug auf Johann Sebastian Bach,1 von dem Sozialphilosophen Axel Honneth in Bezug auf Bob Dylan,2 von dem Filmtheoretiker Burkhardt Lindner in Bezug auf Charlie Chaplin,3 von der Psychoanalytikerin Luise Reddemann4 und von Musikern, Kabarettisten und Lyrikern der Nachkriegszeit5 in Bezug auf kreative und produktive Potenziale und ihre kathartischen Wirkungen für die Nachkriegsgeneration, von Soziologen aus Experteninterviews mit Gerontologen und Medizinern,6 von den Philosophen Walter Benjamin7 und Christoph Menke8 in Bezug auf die politische Wirksamkeit der ästhetischen Urteilskraft herausgearbeitet.

Am Beispiel der Erzählwelten von Charles Dickens, der Brontës und Virginia Woolfs kann deutlich werden, dass Literatur Imaginationsräume entstehen lässt, die die Kreativität im Alter anspricht und neue Freiräume mit einer Sensibilität für Fiktionalisierungen öffnet.9 Der Romantheoretiker und Anglist F.K. Stanzel spricht in Bezug auf das Erschließen und Verstehen von Romanen und damit auch in Bezug auf Potenziale narrativer Identität Alternder von „Affinitäten, Analogien und Ähnlichkeiten" mit Innovationen der modernen Poetik, die mit den Mitteln der erlebten Rede, des inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms den veränderten Sichtweisen des Alters ideal entspreche.10

Auch Schriftsteller wie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und die Brontës trugen mit ihren herausfordernden gegenbildlichen Erzählwelten nicht nur zu Sozialreformen, sondern auch zur bis heute wirksamen Aktualität der Frauenfrage und zu Fragen nach der Bedeutsamkeit persönlicher Autonomie in der reflexiven Moderne bei.

Altern als Werden zu sich selbst, so Thomas Rentsch, ist durch die Unwiederbringlichkeit des menschlichen Lebens, die Unvordenklichkeit seiner Anfänge, die Unvorhersehbarkeit seines Endes bestimmt, wobei diese Negativitätserfahrung der Begrenztheit keine abwertende Bedeutung impliziert. Sie ist in der Konzeption transitorischer Identität verankert: „Die Vorsilbe ‚Un-“, so Rentsch, „indiziert jeweils pragmatische Handlungsunmöglichkeiten, etwas, das wir aufgrund der Konstitution unseres endlichen Lebens nicht können.“11

Dieses Nicht-Können zeigt sich in den Grundzügen unseres Selbstverhältnisses: in der „Verdecktheit der eigenen Vergangenheit“, in der „ständig mögliche(n) Selbstverfehlung“, schließlich in der Fragilität und Endlichkeit des menschlichen Lebens,12 Grundzüge, die Jürgen Straub als Momente der Selbstentzogenheit transitorischer Identität reflektiert.

Im Alternsprozess tritt durch die kürzer werdende Lebenszeit die Erfahrung transitorischer Identität als Selbstentzug deutlicher als in jüngeren Jahren hervor. Der Alternsprozess in der Moderne ist, in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, durch sein Gefährdungsbewusstsein und durch die Möglichkeit zur kreativen Gestaltung des eigenen Lebens geprägt. Angesichts der menschlichen Grundsituation eines Werdens zu sich selbst, spitzt sich die Paradoxie des Alternsprozesses auf die Erkenntnis zu, dass das Alter als „ein konstitutiv riskantes, gefährdetes und gebrochenes Werden zu sich selbst“ erfahren wird.13

Gerade Musik spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl führen dazu aus:

Die Musik gibt uns zunächst die Möglichkeit, seelische und geistige Prozesse auszudrücken und auf dem Weg dieses Ausdrucks zu reflektieren. Durch die Reflexion werden erst Erlebnisse in Erfahrungen und Erkenntnisse transformiert. Sie bildet weiterhin eine bedeutende Grundlage für das Werden zu sich selbst – eine Entwicklungsaufgabe, die angesichts der Veränderungen, mit denen sich ältere Menschen in ihrer Lebens Situation konfrontiert sehen (…), von hervorgehobener Bedeutung ist.14

Das Werden zu sich selbst ist ein seelischer und körperlicher Entwicklungsprozess, der im Alter zu einer Durchlässigkeit für neue Erfahrungen, einem Persönlichkeitswachstum, einer psychischen Widerstandsfähigkeit, einer Flexibilität in Bezug auf positive soziale Beziehungen führt, die der oder dem Alternden ermöglicht, „im Einklang mit sich selbst zu stehen“.15 Musik, Kunst und Literatur lassen Altern zur Erfahrung eines „höchst dynamischen Prozess(es)“ werden.16

Vor diesem anthropologischen Hintergrund einer philosophischen Ethik der späten Lebenszeit lässt sich verstehen, dass flexible Autonomie bzw. integrierte Persönlichkeit im Alter „Plastizität (…) im gesellschaftlich-kulturellen Kontext“17 der Moderne mit ihren Umbruchzeiten bedeutet. Entgegen gesellschaftlicher Defizitdiskurse über das Alter entstehen im dritten Lebensalter Kreativitätspotenziale, die in Bezug auf die Ganzheit eines individuellen Lebens sowie auf die Generationenfolge und die Erhaltung der Natur, das eigene Leben in eine umfassende Ordnung stellen kann.

Sieht man mit dem Philosophen Otfried Höffe, dass das reduktionistische Menschenbild, das westliche Gesellschaften von Alternden entwerfen, aus vier Problemfeldern besteht: „(1) Einschränkung des Handlungsspielraums; (2) Entmündigung im Alter; (3) Vernachlässigung; (4) Gewalt gegen die Älteren (…)“18, und setzt man das ganzheitliche Persönlichkeitsmodell des Gerontologen Andreas Kruse dagegen – dieser entwirft 5 Kategorien gelingenden Lebens: „1. Selbständigkeit, 2. Selbstverantwortung, 3. Bewusst angenommene Abhängigkeit, 4. Mitverantwortung (…). 5. Selbstaktualisierung“19, dann wird die Fähigkeit Alternder zur „Gerotranszendenz“20 einsichtig.

Diese Fähigkeit ermöglicht einen Alternslernprozess auf den näher kommenden Abschied von einem langen Leben hin, der Lebenserfahrungen eines selbstbestimmten Lebens verbindet mit Potenzialen, die Resilienz und Resistenz im Gefühl einer „irreduziblen Würde“21 mit einander verbinden. Resilienz bezieht sich auf individuelle, Resistenz auf gesellschaftsbezogene Potenziale einer flexiblen Lebensgestaltung des Alterns in der reflexiven Moderne.

Da im Alter, sei es aus gesundheitlichen, sozialen oder kulturellen Gründen, immer individuelle Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbständigkeit auf dem Spiel stehen, können Selbst- und Fremdbestimmung von außen und/oder von innen in ein prekäres Ungleichgewicht geraten. Es geht daher im Alternsprozess darum, „dem eigenen Leben (…) Form und Gestalt zu geben“.22

Im Rahmen neuer Forschungen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter beschreibt Harm-Peer Zimmermann wie es alternden Menschen gelingen kann ein zufriedenstellendes Leben angesichts von Einschränkungen und Belastungen zu führen. Zimmermann schlägt den Begriff einer Alters-Flexibilität vor, der sich nicht nach zentralen Verhaltensanforderungen in Gesellschaft und Medien richtet – diese Anpassung zöge eine marktorientierte, außengeleitete Lebensführung und Konformismus nach sich.23 Vielmehr führten von innen heraus gestaltete eigene Wege zu einer inneren Selbstfindung, die Alters-Flexibilität als Lebenshaltung und Halt im Leben der Älteren verspreche. Zu den Lebensinhalten käme die Lebensform als eine „Gefasstheit“ zum Zuge, die sich angesichts der „Miseren des Alters und (…) überhitzte(r) Leitartikel und Debattenreden“24, nicht irremachen lässt. Es geht bei dieser Haltung darum nach innen und nach außen Distanz durch eine Haltung kritischer Flexibilität zu bewahren.25 Diese Haltung nennt Zimmermann Alters-Coolness. Das kritische Potenzial dieser Coolness sieht Zimmermann darin, dass es mit gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen auf gleicher Augenhöhe umgeht. Das bedeutet, dass Alters-Coolness nicht unter das Niveau von gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen fällt:

Ihre kritische Virulenz besteht gerade darin, dass sie den Flexibilitätsstandard des modernen Lebens nicht unterläuft, sondern ihn sogar überbietet. Coolness steigert die Flexibilitätsanforderungen noch. Aber gerade durch diese Steigerung lässt sie die Flexibilitätsforderung hinter sich beziehungsweise überführt sie in eine andere Form.26

Diese andere Form besteht darin, dass sie sich der Norm der Flexibilität bedient, um gesellschaftliche Flexibilitätsforderungen an ihren eigenen Standards zu messen. Alters-Flexibilität kann in Resistenz und Kritik umschlagen, sobald sie mit gesellschaftlichen Altersbildern und Altersrollen konfrontiert wird. Zimmermann folgert: „Coolness bestätigt und bekräftigt den Abstand von verbindlichen Altersbildern, aber sie hält ebenso Abstand von der Unverbindlichkeit des Flexibilitätsregimes selbst.“27 Diese reflektierte Distanz, die vergleichbar ist mit der von Kant analysierten persönlichen Autonomie als Selbstgesetzgebung der Vernunft, verleiht Alternden, so Zimmermann, „(…) die Konstitution der Gefasstheit und Fähigkeit zur Distanzierung, nämlich die Souveränität, auf Verhaltensanforderungen der Flexibilität flexibel zu reagieren.“28 Diese Souveränität bezieht sich selbstreflexiv auf die Alternden, soziale Kontexte, zukünftige Generationen und auf den Erhalt der Natur. Sie entspricht in ihrer Plastizität der von Axel Honneth entworfenen Theorie dezentrierter Autonomie, die „Dimensionen des individuellen Verhältnisses zur inneren Natur, zum eigenen Leben im Ganzen und (…) zur sozialen Welt umfasst.“29

Der Begriff der persönlichen Autonomie, so Honneth, lässt sich als eine „zwanglose und freie Selbstbestimmung denken“, die besondere Fähigkeiten „(…) im Umgang mit der Triebnatur, mit der Organisation des eigenen Lebens und den moralischen Ansprüchen der Umwelt“30 verlangt. Sie verbindet in der Haltung der individuell organisierten Flexibilität Lebenserfahrungen des bisherigen gesamten Lebenslaufs in der reflexiven Moderne mit einem intuitiven, verborgenen Wissen,31 das der Haltung der Alters-Flexibilität eine kontextsensible Richtung weist. Elemente dieses intuitiven Wissens ergeben sich aus Experteninterviews mit Medizinern, Pflegepersonal und Gerontologen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter und hohem Alter angesichts der Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen.32 Zu den Elementen intuitiven Wissens gehören die Sensibilität für eigenes Leid und das Leid anderer, Selbstverantwortung und Bedürfnisorientierung, ein Gefühl und Verständnis für Grenzsituationen, denen „etwas Plötzliches, Propulsives oder Höheres“ anhaften kann,33 Erfahrungen mit Erlebnissen existenzieller Krisen und Einsamkeit, Erfahrungen von gemeinsamer oder individueller Trauer, Antizipation von Sterben und Transzendenz. In der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit spielen im Alter Phantasien und Tagträume, Daseinsthemen, wie sie in Literatur, Filmen und Kunst, in Theologie und Philosophie verhandelt werden, eine wesentliche Rolle.34 Dabei werden Resilienz und Anpassungsfähigkeit im Alter als wichtige Ressourcen anerkannt:

Da sei eine Großräumigkeit im alten Menschen, das Alter wird verbunden mit dem Hervorbringen von Wunderbarem und der Fähigkeit, seine Lebensgeister wieder erwecken zu können. Dies führt (…) zum Transzendentalen und dem Überschreiten von Grenzen und Grenzsituationen. Spiritualität wird genannt und der Humor, die Fähigkeiten zu kleinen Dummheiten und Narreteien des Alters.35

Aus den Elementen des intuitiven Wissens im Alter resultieren sensible und flexible Verhaltensweisen alter Menschen in Alltag und Kultur. Diese Fähigkeit besitzen auch die zwischen 1940 und 1950 geborenen Rezipient/innen des dritten Lebensalters, die als zweite, als Nachkriegsgeneration, zwischen der ersten, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen und unter den Verbrechen der Nationalsozialisten gelitten hat und der dritten Generation, der im Frieden aufgewachsenen zwischen 1960 und 1985 geborenen Jahrgänge, zu situieren ist.

Dokumentationen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland lesen sich wie Skripte antiker Tragödien, deren Zentren unauflösbare Dilemmata, Vertrauens- und Sinnverlust und die Fragwürdigkeit menschlicher Werte bilden. Die strukturellen Erfahrungen der Nachkriegszeit in Deutschland, die Familien auseinandergerissen, individuelle Biografien zerstört und traumatisierend bis in die dritte Generation der heutigen 30–40jährigen hinein wirken, haben eine eigene historische Struktur und eine je individuelle Gültigkeit, in der sich Resignation und Kreativität miteinander verbinden. „Jede seelische Realität“, so der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer 2014 im Zusammenhang mit Nachkriegserfahrungen von drei Generationen in Deutschland, „hat ihre eigene Struktur und Gültigkeit. Voreilige Wertungen lassen sich relativieren, zerrissene Beziehungsfäden neu knüpfen, wenn sich die Generationen mehr füreinander interessieren und weniger überzeugt sind, dass ihre typische Wahrheit auch für die ältere oder die jüngere Generation gilt.“36

 

In der Erfahrung der Altersgelassenheit werden für die Nachkriegsgeneration psychologische Haltungen wirksam, die sich zwar aus der transgenerationellen Erfahrung einer traumatisierten Kriegsgeneration entwickeln, im Alter jedoch selbstreflexiv bearbeitet, bewältigt oder aufgelöst werden können.

Wolfgang Schmidbauer bezeichnet einen dieser Mechanismen, der die Generationenfolge von einer ersten, „verletzten“, über eine zweite, „überschätzten“ zur dritten, einer „entwerteten Generation“ strukturell vermittelt,37 in Bezug auf die überschätzte Generation, also in Bezug auf heutige Menschen des dritten Lebensalters, als „Protestidentifikation“.38 Nach Schmidbauer entsteht dieser psychische Mechanismus zwischen Eltern der Kriegszeit und ihren Kindern, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind (den heute 65- bis etwa 80jährigen) aus einer Gemengelage, die symbiotische Wünsche der Eltern mit Enttäuschungen der Kinder vermischt. In der Sozialisationstheorie spricht man von einem in den 1960er bis 1970er Jahren umstrittenen permissiven Erziehungsstil, dessen Anhänger vor dem Hintergrund der Frage nach der Angemessenheit der Ausübung von Autorität dafür plädierten, elterliche Eingriffe in die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu unterlassen.39

Daraus entwickelte sich familiär ein „symbiotisches Klima und dessen Abwehr“, das „kindlichen Aggressionsäußerungen wenig Raum“ gab, weil die Eltern auf die Kinder verwundbar und abhängig wirkten und die Kinder dazu neigten, den Eltern die Unselbständigkeit anzukreiden.40 Der Effekt in diesen Familien war, dass das Zusammenleben ohne Normsetzungen „zu Irritationen und Verwirrungen der Kinder“ führte und die Entwicklung der Selbstständigkeit der Kinder nicht gesichert war.41

Die „Doppelgesichtigkeit“ der Protestidentifikation, so Schmidbauer, in der ein heranwachsendes Kind sich „gleichzeitig mit den Werten der Eltern identifizieren und diese bekämpfen“ lässt,42 wird erst im Ablösungsprozess von den heranwachsenden Kindern bemerkt und kann sich zwischen den Generationen in Gestalt einer tiefsitzenden Leidabwehr festigen.

Durch die „Pendelbewegung“ der paradoxen Autonomie, die die drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Dialektik der adoleszenten Ablösung und der Geschwisteropposition strukturvermittelnd bis heute miteinander verknüpft,43 entsteht ein Beziehungsmuster „generationenübergreifender Übertragungen oder Antithesen“, die nicht nur Ängste aufgrund der modernen und zwischenzeitlich globalisierten Unübersichtlichkeit schürt, sondern zugleich ein brüchigen Selbstbewusstseins hervorbringt,44 dessen „Doppelgesichtigkeit der unbewussten Strukturfindung“ Nähe fordert und abwehrt45 und unter dem Mangel an Vorbildern, dem Mangel an äußeren wie inneren Wertstrukturen, an Sinndefizit, geschwächter Konfliktregulierung, ängstlicher Anpassung und innerer Leere leidet.46

Die Identifikation mit dem Aggressor hingegen, dies ist die andere psychosoziale Haltung der Nachkriegsgeneration, führt zu einer Selbstfremdheit, die bewirkt, dass die Betroffenen sich in inszeniertem Gehorsam dem Autoritätsdiktat anpassen, zu dessen Opfer werden, den verdrängten Schmerz der subjektiven Entwertung und Selbstentfremdung als Schwäche empfinden und die aufgestauten Aggressionen hasserfüllt und gewalttätig auf Fremde verschieben.47

Während die Identifikation mit dem Aggressor zu einem Verrat am Selbst, mit der politischen Konsequenz führt, kulturelle Gewaltverhältnisse zu stabilisieren, führt der psychische Mechanismus der Protestidentifikation in den 1960ger Jahren zu politischen Transformationsprozessen, in denen Persönlichkeitstypen, wie „Künstler, Helfer, Aussteiger und Opfer“48 gesellschaftliche Veränderungswünsche mit Sehnsüchten nach Stabilisierung im Modus einer paradoxen Autonomie verknüpften.

Festigt sich dieser Mechanismus, dann kann es zu posttraumatischen Beziehungsstörungen und der mit ihnen einhergehenden Gefährdung der persönlichen Autonomie kommen. Diese beruht auf einer verstörten Orientierung an Konventionen, gegen die die Betroffenen einst rebellierten und bringt Erfahrungen einer „paradoxe(n) Autonomie“ hervor, die auf einer „Balance (von) Abhängigkeiten“ basiert.49 Die Bedürftigkeit nach äußerem Halt geht mit der Furcht vor diesem Halt einher. Es entsteht ein prekäres Gleichgewicht in der Persönlichkeitsstruktur, das, wenn es an die nächste Generation, die zwischen 1960 und 1985 Geborenen weiter gegeben wird, deren Autonomiemöglichkeiten gefährdet.50 Die Wurzel dieser Gefährdung liegt, so Schmidbauer, in Erfahrungen der Generation des Zweiten Weltkrieges, die ihre „inneren Verwüstungen“51 bis in die dritte, die Enkelgeneration, unbewusst weiter gibt, die dann unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden kann. Sie weisen auf frühkindliche Vertrauenskrisen zurück.

Da nach Erikson Vertrauenserfahrungen von Kindheit an in allen späteren Lebensphasen und psychosozialen Krisen enthalten sind, sind die psychosozialen Haltungen der Protestidentifikation und der Identifikation mit dem Aggressor Symptome einer Vertrauenskrise, die in späteren Lebensphasen des erwachsenen und hohen Alters in die Persönlichkeit integriert werden können.52

Die Phänomene der Leidabwehr oder der Protestidentifikation können sich, so die Traumatherapeutin Luise Reddemann, durch mitfühlende Reflexion, Freundlichkeit und Empathie zwischen den Generationen und einem „aktiven Bezug zur Vergangenheit“ lockern oder sogar lösen.53

Bestätigt wird dieser Befund von Arno Gruen, der unter Berufung auf Erich Fromm und den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire die Überwindungsmöglichkeit des rebellischen Abhängigkeitsmechanismus in der Chance der inneren Aufhebung sieht, andere aus Protest zu beherrschen.54

Für die heutige Generation des dritten Lebensalters werden konsequenterweise, trotz altersbedingter Einschränkungen, Erfahrungen der paradoxen Autonomie positiv als Freiheit zur Selbstbestimmung gesehen, die sich mit Altern, Hinfälligkeit, Abhängigkeit selbst- und mitverantwortlich gerotranzendent auseinandersetzt und sich der Furcht vor der Freiheit stellt.55 So haben persönliche Haltungen der Leidabwehr, der Identifikation mit dem Aggressor, der Protestidentifikation nicht unbedingt spätere seelische Krankheitshäufigkeiten zur Folge, sind aber als Erfahrungen anzusehen, die das Vorverständnis der Rezipient/innen strukturieren, mit denen sie die Romane Dickens‘, der Brontës und Virginia Woolfs erschließen.

Im Alternsprozess der Nachkriegsgeneration können Ressourcen gewachsen sein, die eine durch Unsicherheit geprägte Identität in ihren positiven Aspekten dann stärken,56 wenn „Erinnerungen an Widerstand und Großherzigkeit“ gepflegt werden und an einer „Entidealisierung der Eltern“ gearbeitet wird.57

Das dritte Lebensalter – so die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl – besitzt