Lesen im dritten Lebensalter

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Teil 1
Moderne Romane als Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas
1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne

Warum Romane lesen, die in Großbritannien im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden – ausgewählte Romane von Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë und von Virginia Woolf? Was bieten diese Romane Rezipient/innen, die an der Goethe-Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M Literaturseminare im Fachbereich Anglistik freiwillig und aus Interesse besuchen?

Zum einen eröffnen die Erzählwelten Einblicke in eine zurückliegende Kultur, die bis in die Gegenwart hinein wirkt. Zugleich setzen sie eine selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung in Gang, in der die Rezipient/innen, im Erschließen dieser Erzählwelten, ihre Werte und Normen aufs Spiel setzen. Sieht man mit Jürgen Straub persönliche Identität als normativen und sozialen Anspruch, den Individuen zwar an sich selbst stellen, aber auch wissen, dass sie ihn nicht erfüllen können,1 so kommen im Erschließen der Erzählwelten Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, der Autonomiebildungsmöglichkeiten und ihrer Vorenthaltungen oder Verhinderungen ins Spiel, die im Horizont eines Sich-in-der Zeit-Verstehens, anhand komplexer Erzählfiguren und ihrer Einbindung in die jeweilige Gestalt der Erzählwelten erarbeitet und ästhetisch erfahren werden können.

Wie alle modernen Romane gestalten auch Romane, die seit Beginn der Moderne um 1750 in Großbritannien entstanden, Erforschungen des Ich, in die das Paradoxon persönlicher Identitätserfahrung in der Moderne eingelassen ist.

Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott fasst dieses Paradoxon als Kommunikation des sozialen Selbst mit einer nicht-kommunizierbaren Energie des persönlichen Selbst. Diese Energie muss sich der Mensch bewahren, will er nicht zum außengelenkten, falschen Selbst werden. Sie macht seine Menschlichkeit aus, die die Gesellschaft als sein Heiligtum unangetastet lassen sollte:

Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und höchst bewahrenswert ist (…). (Ich) glaube, daß dieser Kern niemals mit der Welt wahrgenommener Objekte kommuniziert, und daß der Einzelmensch weiß, daß dieser Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflußt werden darf (…). (Jedes Individuum ist) in ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden.2

Das von Winnicott formulierte Paradox persönlicher Identitätserfahrung besteht demnach darin, dass im individuellen Allein-sein-Können „eine außerhalb des einzelnen liegende Bedingung (…), eine soziale Bedingung“3, zur Geltung kommt, die im Zusammenspiel von Selbstakzeptanz, Verhandelbarkeit persönlicher Identität und selbstorganisertem Leben, den potenziellen Raum des Selbst zwischen sich und signifikanten Anderen öffnet.

Nach Jürgen Straub besteht das Paradox persönlicher Identität in sozialpsychologischer Weiterführung darin, dass es die Erfahrung „(…) einer Einheit (ist), die unabschließbar, entzweit, unangreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreichbar bleibt.“4

Im Laufe eines Entwicklungs- und Bildungsweges entstehen individuelle Handlungspotenziale, die, weil sie sich in Interaktionen mit signifikanten Anderen entwickeln, komplexe und reiche Identitätsbildungsmöglichkeiten entstehen lassen, die Konstrukte einer tautologischen Identität als Sich-Selbst-Gleichheit nicht ermöglichen. Persönliche Identität, so Straub, „meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität“, die die Handlungspotenziale einer Person konstituiert und ihre Verhaltensweisen motiviert.5 Mit Erikson grenzt Straub eine für Erfahrungen offene persönliche Identität von einer Identitätsdeutung ab, die Identität als totalitär strukturiertes Zwangs- und Gewaltverhältnis sieht.6 Aus der Unterscheidung von Totalität und Identität gewinnt Straub das Konzept „transitorische(r) Identität“7, dessen konstitutives Elemen ein „unhintergehbare(r) Selbstentzug“ ist,8 der in diachroner und synchroner Differenzierung zur Grundlage einer offenen und kreativen Persönlichkeit mit der Fähigkeit zur Selbsttranszendierung wird.9

Aus dieser resultiert ein Weltinteresse, das menschliches Leben nicht als funktionales Teilelement eines übergreifenden Zusammenhanges sieht, sondern als Sinn-Ganzes entwirft:

Jedes menschliche Leben ist (…) ein Sinn-Ganzes. Der einzelne hat selbst seine Handlung in einem unbedingten Sinne zu verantworten. Sogar wenn er versuchsweise handelt, experimentell, sogar wenn er die Folgen seiner Handlung nicht absehen kann, so ist doch die Tatsache, daß er hier und jetzt dies oder das getan hat oder nicht getan hat, ein unwiderrufliches Faktum und als solches für immer Bestandteil seines Lebens. Als solches hat er es zu verantworten.10

Aus der Ambivalenz der Moderne, dass wir gleichzeitig um die Determiniertheit wissen, die uns in übergreifenden Zusammenhängen als Teilmomente hält und der menschlichen Freiheit als radikaler Unabhängigkeit, folgt nach Robert Spaemann die individuelle Erkenntnis, dass es kein voraussetzungsloses Handeln gibt und man aus gegebenen Bedingungen das Bestmögliche, auch hinsichtlich ihrer dringenden Veränderungen, machen sollte. Da Handeln immer auch sich loslassen können, seine Intentionen aus der Hand geben können, bedeutet, ist Gelassenheit gegegenüber Geschehenszusammenhängen und gegenüber einer erfahrungsoffenen Zukunft, eine Vernunftshaltung, die vor Resignation bewahrt und zur Bedingung eines geglückten sinnbezogenen subjektiven Lebens werden kann.11

Martin Seel bezeichnet diese Paradoxie als Erfahrung persönlicher Autonomie, die sich selbst in reflektierter Akzeptanz des sie Bestimmenden bestimmen kann.12 Susan Neiman versteht unter persönlicher Autonomie die Fähigkeit und den Mut erwachsen zu werden, ein Gespür für den eigenen Charakter zu entwickeln, weil „Integrität (…) niemals statisch (ist); dazu ist sie zu leicht zu verlieren.“13

Auch archaische Mythen und Feste – verstanden als Augenblicke „gesteigerter Lebensintensität“14 – sowie Kunstwerke, die wie Feste zum Verweilen einladen,15 verwandeln gesellschaftliche Funktionszusammenhänge in holistische Erfahrungen. Ganzheitlichkeit liegt als Weltinteresse und Erfahrung immanenter Transzendenz, die sich der Ambivalenz in Bezug auf die Dignität menschlicher Würde und menschlichen Lebens stellt,16 in mythopoetischer Gestaltung modernen Romanen zugrunde.17

Ernst Tugendhat definiert immanente Transzendenz als Fähigkeit des modernen Menschen, sich seine Werte in nachmetaphsischer Zeit selbst erschaffen zu können:

Statt vorgegebene, scheinbar übersinnliche Werte zu befolgen, soll der Mensch jetzt seine Werte selbst schaffen. Das bedeutet, daß das Transzendieren auf einen Sinn hin in das Innere des menschlichen Seins zurückgenommen wird. Man kann also (…) von einer immanenten Transzendenz sprechen, von einem Übersichhinausgehen, das nicht mehr ein Übersichhinausgehen zu etwas Übersinnlichem ist, sondern ein Übersichhinausgehen innerhalb des Seins des Menschen.18

Immanente Transzendez, mythopoetisch gestaltet, öffnet in den hier ausgewählten Romanen in Bezug auf Altersgelassenheit, Kreativität und Erfahrungen der Gerotranszendenz hermeneutische Reflexionsräume für Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Gerhard Kaiser sieht die transzendierende Wirkung moderner Literatur in ihrer Eröffnung von Möglichkeitsräumen: Die Werke der Moderne „wollen dorthin, wo sie nicht ankommen, und ziehen den Leser in diese Bewegung hinein.“19

Gefragt, was für ihn als Romanautor beim Schreiben und Lesen von Romanen wichtig sei, antwortet der britische Romancier Ian McEwan in einem mit Julian Barnes geführtem Werkstattgespräch: „Eine Erzählung soll uns das Universum aufschließen. Ungeachtet dessen, ob sie gut oder schlecht ausgeht.“20 Auf die Frage, welche Rolle Musik für ihn (McEwan) spiele und ob sie ihm „persönlich das Universum“ aufschließe, antwortet er, dass er vor seinem Studium besessen von Mendelsohns Violinkonzert gewesen sei, in der städtischen Bibliothek die Partitur gefunden und gelesen habe:

„Ich wollte verstehen“, so McEwan, „Wie hat er das gemacht? Wie kann einer dieses Wunderwerk an menschlicher Empfindsamkeit niederschreiben? Wie ist es möglich, dass jemand eine Sprache beherrscht, die solche Empfindungen festhält?“21

Bildende Kunst, Musik, Literatur der Moderne erhellen mit seismographischer Empfindlichkeit (Thomas Mann)22 die Ambivalenz, d.h. die Mehrdeutigkeit der Moderne und ihre divergierenden Deutungsmöglichkeiten. Ins Spiel kommt die von Auflösung bedrohte Kohärenz des modernen Subjekts, mithin die nie zu erreichende Ganzheitlichkeit des Menschen, für die er mit seinen Empfindungen und seiner Vernunft angesichts des Wegfalls übersinnlich-metaphysischer Gewissheiten einsteht.

Ins Spiel kommt zudem die Frage, ob nach dem Untergang der traditionellen Metaphysik ontologische Fragen überflüssig geworden sind? Walter Schulz löst in seinem Werk Metaphysik des Schwebens moderne Kunst aus ihrer Verklammerung mit traditioneller Metaphysik, um eine feststellende Ontologie zu vermeiden. Dabei stößt er auf die Frage, ob das Ende der traditionellen Metaphysik das Ende einer jeden möglichen Metaphysik überhaupt bedeute und ob sich nicht gerade in der modernen Kunst „Möglichkeiten zeigen, das Wesen der Metaphysik neu zu bedenken“?23

Schulz schlägt vor, die Zeitgemäßheit moderner Kunst in ihrer Negativität und Subjektivität zu deuten. Unter Negativität versteht er die „Aufhebung des Weltvertrauens zugunsten der Weltungesichertheit“. Subjektivität entspricht, so Schulz, der Erfahrung der Negativität. Subjektivität „(findet) in sich selbst keinen Halt und (hat) gerade darum die Tendenz (…), sich an die Welt, die auch keine Sicherheit bietet, zu verlieren.“24

 

Diesen Zustand wechselimplikativer Unsicherheit, den Zygmunt Bauman als Ambivalenzstruktur der Moderne und Jürgen Straub als Paradoxie transformatorischer Identität reflektieren, reflektiert Schulz in Bezug auf Erscheinungsgestalten moderner Kunst „als Zustand des Schwebens“25, im Sinne eines Verlusts von Festigkeit, Fraglosigkeit und Positivität. Ästhetisches Schweben ist nach Schulz eine dynamische Subjekt-Welt-Beziehung, die, da moderne Kunst nicht mehr metaphysisch fundiert ist, die „Möglichkeit heraufführt, das Schweben als legitime ‚Grundlage‘ der modernen Kunst zu bedenken.“26 Moderne Kunst als genuiner Ort einer Metaphysik des Schwebens verwebt im Gegenzug zu einer ontologisierenden Metaphysik, Schein und Sein, Wahrheit und Lüge, Anschauung und Reflexion. Werke der modernen Kunst und Literatur sind mehrdeutig. Sie sind ambivalent. In ihrem Rätselcharakter stellen sie Grundfragen an die Gegenwart und transzendieren, im Beleuchten unterschiedlicher Perspektiven und Sinnentwürfe empirische Erfahrungen, die das auf sich selbst zurück geworfene Subjekt betreffen. Sie gestalten, indem sie sie verweigern, eine schwebende, ästhetische Erfahrung des Trostes: „(…) ein wirklich großer Roman“, so McEwan in Bezug auf Cervantes und Gegenwartsliteratur, „hat etwas Ermutigendes, egal, wie finster die Welt ist, die er beschreibt.“27

Seit 1750 gestalten moderne Romane Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas, die vor dem Hintergrund der ersten Phase des Modernierungsschubes aus Genremischungen bestehen, mit dem sie Erwartungen ihrer Rezipient/innen transzendieren, darin transformatorische Identitätserfahrungen der Moderne affizieren und sich – wie auch moderne bildende Kunst – gegen den instrumentellen Charakter der modernen Warenwelt gerichtet, der Verwandelbarkeit metaphysischer Aspekte stellen: Aspekten des Heiligen, des Göttlichen, des Erhabenen, des Geheimnisses, des Bösen in seinen vieldeutigen Varianten, Aspekten des Todes, konventionsüberschreitender Liebes- und Kommunikationserfahrungen, den widersprüchlichen Aspekten des „Sorgenkind(es) der Moderne“28, d.i. des Subjekts, und dem Wagnis der Freiheit.29

Zygmunt Bauman definiert ambivalente Situationen als solche, in denen, im Versuch Ordnung herzustellen, herkömmliche bzw. erlernte Ordnungs- und Sprachmuster nicht greifen. Es entstehen Kontrollverlust, ein Gefühl der Unentscheidbarkeit und Unentschiedenheit: „Die Konsequenzen der Handlung werden unvoraussagbar, während Zufälligkeit, die doch eigentlich durch Bemühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint.“30

Baumans Buch stellt, wie auch das Werk Walter Schulz‘, die Moderne als vergeblichen Versuch dar, Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen; vergeblich deshalb, weil die ineinander greifenden funktionalsierten Systeme Kontingenzen enthalten, die Ordnungsversuche immer wieder unterlaufen und Individuen in der funktionalen Differenzierung der Systeme sozial ortlos werden lassen. Das Individuum wird vieldeutig ambivalent, „ein partieller Fremder“31, oder, wie Walter Schulz formuliert, scheiternd und haltlos „bis zu den Erfahrungen der Selbstauflösung hin“32. Beide Autoren, der Soziologe und der Philosoph, verwenden u.a. Franz Kafkas Werke – Walter Schulz bezieht sich auch auf James Joyce – als Belege einer ästhetisch transzendenten Immanenz der Moderne.

Der moderne Roman als offenes Genre – er ist „a mighty melting pot, a mongrel among literary thoroughbreds“33 – spricht, indem er sie narrativ gestaltet, die Ambivalenz der Moderne als Daseinsdiffusion und die aus ihr folgenden transitorischen Identitätserfahrungen der Rezipient/innen an. Er gestaltet als narrativer Kosmos Sinnfragen, er findet sie nicht.

Rezipient/innen, insbesondere die des dritten Lebensalters, werden in ihren aspirierten imaginativen Identitätsmöglichkeiten von modernen Romanen affiziert. Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, des Selbstentzuges, der Autonomiebildungsmöglichkeiten, der Selbstranszendierung, der Gerotranszendenz, werden anhand der Konflikt- und Dilemmasituationen, in die die Erzählfiguren verstrickt sind, virulent. Immer geht es den Romanen um eine verdichtete Vergegenwärtigung von Vergangenheit, um eine an scheiternden Lebenserfüllungen orientierten Ganzheit,34 die transitorisch zukunftsoffen gestaltet ist:

The novel presents us with a changing, concrete, open-ended history rather than a closed symbolic universe. Time and narrative are of its essence. In the modern era, fewer and fewer things are immutable, and every phenomenon, including the self, seems historical to its roots. The novel is the form in which history goes all the way down.35

Moderne Romane sind unterhaltsame, erkenntnisfördernde Gedächtnismedien, deren Erzählwirklichkeit als „subjektiv entworfene Welt()“ in der „subjektiven Brechung“ des Erzählers und der Romanfiguren entsteht.36 Diese subjektiven Erzählwirklichkeiten sind als moderne Gedächtnismedien zu verstehen: „The novel is the mythology of a civilization fascinated by its own everyday existence.“37 Die kulturgeschichtlich transitorische Offenheit moderner Romane öffnet ihren Protagonisten prekäre Freiheitsspielräume, in denen konstitutive Identitätserfahrungen des Selbstentzugs gestaltet werden:

Modern subjects, like the heroes of modern novels, make themselves up as they go along. They are self-grounding, and self-determining, and in this lies the meaning of their freedom. It is, however, a fragile, negative kind of freedom, which lacks any warranty beyond itself.38

1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Die Rezeption moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien

Bei der Erschließung literarischer Texte sind diese nicht nur als Texte zu berücksichtigen, sondern auch als kulturelle Institutionen ihrer Entstehungszeit. Literarische Texte sind aufgrund ihrer spezifisch ästhetischen Differenz zwar Teile kultureller Ordnungen, aus denen sie hervorgehen, sie wirken aber auch auf diese zurück und sind zukünftig erschließbar. Geht man mit Ansgar Nünning und Roy Sommer von einem Kulturbegriff aus, der „semiotisch(), bedeutungsorientiert() und konstruktivistisch()“ ist,1 dann sind Kulturen, in Anlehnung an Roland Posners Kulturmodell, menschlich hergestellte Gebilde, die „nicht nur eine materiale Seite haben, sondern auch eine soziale und mentale“.2

Modellhaft formuliert lassen sich der sozialen Dimension Individuen, Institutionen und Gesellschaft, der mentalen Dimension Mentalitäten, Selbstbilder, Normen und Werte und der materialen Dimension Gemälde, Architektur, Gesetzestexte und literarische Texte zuordnen.3 In Bezug auf die Epoche der Moderne lassen sich demzufolge der sozialen Dimension Industrialisierung, Urbanisierung, Autoren und Leser, der mentalen Dimension Utilitarismus, Egoismus und patriarchalisches Tugendsystem und der materialen Dimension, in Bezug auf literarische Texte, beispielsweise Romane mit problemorientierten Handlungen und spezifischen Lösungsvorschlägen zuordnen.

Nach Nünning und Sommer fasst dieser Kulturbegriff Kultur als den „von Menschen erzeugte(n) Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen auf(), der sich in Symbolsystemen materialisiert.“4

Nünning und Sommer schließen mit Posner, dass dem bedeutungsorientierten Kulturbegriff zufolge künstlerische Ausdrucksformen der materialen Dimension ebenso zuzuordnen sind, wie die mentalen Dispositionen und die sozialen Dimensionen, die diese Ausdrucksformen hervorbrachten bzw. prägten. Da zwischen diesen drei Dimensionen komplexe Wechselwirkungen bestehen, ergibt sich für das Erschließen literarischer Texte aus einer bestimmten Kultur, in Bezug auf ihre Gehalte und Formen, dass sie in verdichteter Form „Aufschluss über die mentalen Dispositionen der entsprechenden Epoche geben“.5 Literarische Texte sind also nicht nur künstlerischer Ausdruck zeitgenössischen Denkens, sondern geben Aufschluss über die Selbstwahrnehmung und das kulturelle Bewusstsein einer Epoche, wie sie sich selbstreflexiv kulturdiagnostisch in den Werken als ästhetisch Besonderes thematisieren.

Nünning und Sommer ziehen aus dem von ihnen konzipierten Gegenstandsbereich einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft drei Konsequenzen:

1 Bei kulturellen Einheiten handelt es sich nicht um vorgefundene Objekte, sondern um menschliche Konstrukte.

2 Wenn Literaturwissenschaft als Teil der Kulturwissenschaft verstanden wird, dann ist von einem weiten Literaturbegriff – Literatur als Teil der Medienkultur – auszugehen.

3 Die Gegenstandskonstitution einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft ergibt sich aus den drei Dimensionen des Kulturbegriffs. Neben literarischen Texten berücksichtigt sie die mentale Dimension einer Kultur und die literarische Verarbeitung „gesellschaftlich dominanter Sinnkonstruktionen (…)“.6

Die von Nünning und Sommer konzipierte kultursemiotische Theorie bietet Anschlussmöglichkeiten an die zentralen Kategorien Literatur, Mentalität, kulturelles Gedächtnis.7 Sie bietet zudem Anschlussmöglichkeiten an die rezeptionsästhetisch kontroverse Erschließung moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien. Diese werden als „kulturelle Ausdrucksträger“8 verstanden, die nicht Objekte, sondern „Formen der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung“9 einer Epoche sind. Sie können in der Interaktion mit Rezipient/innen kultursemiotisch reflektiert werden.

Romane sind fiktionale Welten, Erzählwelten.10 Als das Andere der Realität entwerfen sie Möglichkeitswelten, die die kognitiven, imaginativen und affektiven Fähigkeiten ihrer Leser/innen ansprechen. Literarische Texte regen im Lektüreprozess ihre Leser/innen an, sich mit dem Selbst- und Weltverständnis der Figuren, ihren Gedanken, Gefühlen und Entscheidungen auseinanderzusetzen und damit „die Gefühle und Gedanken anderer zu erschließen“.11 Im Lektüreprozess baut sich die erzählerische Form der Selbst- und Weltbilder der Figuren und ihrer Interaktionen als Gegenentwurf zu ideologischen Mustern und begrifflichen Vereinnahmungen auf.12 Dieser Gegenentwurf zeichnet sich als Möglichkeitsraum aus, dessen Rätsel- und Fragecharakter die Erfahrungswirklichkeit seiner Leser/innen durch die Nähe zu ihrer Erfahrungswelt und durch die ästhetische Distanz seiner erzählerischen Gestalt, die diese Nähe ermöglicht, zum Ausdruck bringt.

Die ästhetische Erfahrung „(…) gewährt den Leserinnen und Lesern auf dem Weg der Lektüre Anteil an anderen, entfernten oder fremden Welten und Denkvorstellungen und macht ihnen zugleich das Angebot, bisher ungewohnte oder, im wörtlichen Sinne, befremdliche Erfahrungen und Wahrnehmungen in ihr eigenes Denken und Handeln zu integrieren.“13

Die Lektüre von literarischen Texten, insbesondere von Romanen, die „ihrer begrifflichen Monosemierung“14 widerstehen, kommt dem kulturellen und biografischen Bedürfnis seiner Leser/innen nach Antwortmöglichkeiten auf ihre Sinnfragen dadurch entgegen, dass die Leser/innen um die Differenz zwischen ihrer Lebenswirklichkeit und der erzählten Welt wissen. Diese grundsätzliche ästhetische Differenz evoziert literarischen Sinn.15 Sie besteht aus der erzählten Textur, die auf der Inhaltseben den Grundkonflikt zwischen Individuum und Gesellschaft erzählsituativ, konfliktual differenziert und auf der Ausdrucksebene, der Ebene der erzählerischen Form, diesen Grundkonflikt in der Differenz zwischen der Erzählwelt und ihren Leser/innen metafiktional repräsentiert. Die Gesinnung zur Totalität, die Georg Lukács als Form des modernen Romans im Unterschied zum Epos bezeichnet,16 wird im Aufschub erfüllter Ganzheit, in ihren Episoden, Kontingenzen, in ihrer Weigerung rationale Gründe anzugeben, in der Isolation der Individuen, im gestalteten Chaos lebendig. Romane gestalten die Illusion, unerfüllte Sehnsüchte könnten künftig erfüllt, Liebende vereint werden. Es ist diese Illusion, die die Differenz zum Alltag der Leser/innen ausmacht, die die im Roman ersehnte Ganzheit belebt, „notwendige Voraussetzung der ‚Unbestimmtheit‘ (seiner) Einzelmomente“17 ist, ihm den Charakter des Fragments gibt, und die Ganzheitssehnsucht der Rezipient/innen in der modernen Welt affiziert.

Die Lektüre der Romane Dickens‘, der Geschwister Brontë und Virginia Woolfs sprechen eine Generation an, die als Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkrieges von den Traumatisierungen ihrer Eltern und Großeltern in Mitleidenschaft gezogen worden ist, aber auch kreative Entwicklungsmöglichkeiten in der neuen Bundesrepublik hatte. Dickens‘, Brontës und Woolfs Romane öffnen ihnen imaginative Räume, die im Zusammenspiel von Identifikation und Distanzierung mit diesen Erzählwelten, Identitätsvorstellungen, Vorenthaltung von Identitätsmöglichkeiten, Ambivalenzen, Erfahrungen evozieren, die Potenziale transitorischer Identitätserfahrungen und narrativer Identität in den Verstehensprozess der Erzählwelt einflechten und Pathologien der modernen Gesellschaft aus der Perspektive viktimisierter Außenseiter oder hochindividuailisierter Einzelgänger erzählerisch erschließen lassen.

 

Durch erzählerische Verfahren, die die Romane strukturieren – Erzählerperspektiven, Figureninteraktionen, Handlungsverwicklungen, Zeit- und Raumerfahrungen, Leerstellen –, entstehen strukturiert offene Textgewebe, die die Interaktionen zwischen diesen Texten als fiktionalen Möglichkeitsräumen und ihren Leser/innen als Frage- und Antwortspiel dynamisieren. In dieser Interaktion flechten sich Einstellungen der Leser/innen durch Rückgriffe auf ihr Erfahrungswissen in die Erzählgewebe ein und erlauben Einblicke in bislang unzugängliche menschliche Möglichkeiten. Im imaginativen und diskursiven Wechselspiel zwischen literarischen Texten und ihren Leser/innen entsteht durch irritierende Stellen, durch nonkonformistische Sinnentwürfe, durch die Vorenthaltung fixierbarer Erzählintentionen, eine „energetische Kraft“18, die den Deutungsprozess zwischen den literarischen Texten und ihren Leser/innen trägt, eine Vielzahl von Deutungen ermöglicht, zu Veränderungen der Selbst- und Weltbilder der Leser/innen und zu innovativen Deutungen der rezipierten Werke führen kann. Die Reflexion auf die erzählerische Textur, die sich in der ästhetischen Differenz zwischen erzählter Welt und der Erfahrungswelt der Leser/innen ausdrückt – sie wissen, dass sie Romane lesen – ist wesentlicher Bestandteil des Lektüre- und Verstehensprozesses, der Aktivierung narrativer Identitätsmöglichkeiten sowie der Reflexion auf transitorische Identitätserfahrungen. Diese wird durch Spielarten des Selbstentzugs, die die Romane verdichten, angeregt. Die Erzählwelten sind nicht auf ein Deutungsschema, beispielsweise auf melodramatisches Erzählen, festzulegen.

In literarischen Werken begegnen wir „besonderen Orten, Augenblicken, Figuren mit Eigennamen, spezifischen Rede- und Handlungsweisen, Arten des Denkens und Fühlens“.19 Sinnlich wahrnehmbar, ästhetisch, ist darin die „imaginative Erfahrung des Besonderen als physischer Erscheinung und/oder inneren Konkretheit anstelle abstrakter Begrifflichkeit“.20 Rezeptionsästhetisch bedeutet dies, dass wir literarische Texte aufgrund ihrer ästhetischen Differenz als kulturell vergangenheits- und zukunftsbezogene gestaltgewordene Ereignisse auffassen können, „bei (denen) unsere kognitiven, affektiven und evaluativen Fähigkeiten aktiviert werden“.21 Bei der Erschließung literarischer Texte aus früheren Epochen geht es also darum, ihre neue kulturelle Funktion in Bezug auf unser heutiges Selbst- und Weltverständnis zu verstehen.

Fünf komplexe Problemkreise werden im Folgenden miteinander in Beziehung gesetzt:

1 Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Debatten um den Alternsprozess. In den Blick kommt die kulturgeschichtliche Situation der Nachkriegsgeneration in Deutschland, der die Rezipient/innen des dritten Lebensalters angehören,

2 der Problemhorizont der Identität in der reflexiven Moderne,

3 das Erschließen und Verstehen der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne als Wegbereiter der Moderne, bzw. als moderne Romane, die den metaphysischen Orientierungsverlust narrativ gestalten,

4 die kritisch-hermeneutischen Auseinandersetzung mit der Kulturdiagnostik der Romane durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters.

Der rezeptionsästhetische Zugang sucht demzufolge die kontrovers reflektierte Bedeutung der Werke und „(…) ihr Wirkungspotenzial heute zu bestimmen, als einer Etappe im seither erfolgten Entfaltungsprozess des Werkes, dessen Bedeutung als nicht in der Entstehungssituation festgeschrieben verstanden wird (…).“22

Im Rahmen des semiotischen Kulturbegriffs bedeutet dies, dass literarische Werke im Zusammenhang mit ihrem kulturellen Kontext rezeptionsästhetisch, im Zusammenspiel zwischen literarischen Texten und ihren Leser/innen, diskursiv werden. Dabei wird die vom Autor intendierte Bedeutung als einmalig und historisch situiert verstanden, während Leserschaften sich historisch verändern, fortwährend erneuern, also eine heterogene Größe darstellen, die sich bei der Erschließung literarischer und nicht-literarischer Texte, nicht auf eine Bedeutung festzulegen vermag:

Zu viele sprachliche, kulturelle, ideologische und ästhetische Interessen kollidieren im Bereich der Rezeption, als daß sich eine Textbedeutung auf Dauer durchsetzen könnte.23

Im Zusammenspiel von literarischen Texten und Leser/innen werden die jeweils kulturell bestimmten und persönlich ausgebildeten „kognitiven, affektiven, imaginativen und evaluativen Kompetenzen“24 evoziert. In den Blick geraten dabei kontrovers besprochene Plausibilitätsfragen wie diese: Inwieweit literarische Werke kulturdiagnostisch das symbolische Wertsystem ihrer Zeit erhalten bzw. verstärken, oder ob sie sich durch ihre formale Komposition von diesen Wertsystemen distanzieren?25