Natur Natur sein lassen

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Aufgabenschwerpunkte werden festgelegt

Im März 1970 stellte ich bereits ein halbes Jahr vor der Eröffnung des Nationalparks für die Flurbereinigungsjahrestagung in Regensburg die von uns inzwischen ermittelten Aufgabenschwerpunkte, Naturschutz – Forschung – Fremdenverkehr und Erholung – Bildung, für den Nationalpark vor. In einem Referat erklärte ich zum Aufgabenbereich Naturschutz: „Auf dem Naturschutzsektor geht es um die Erhaltung des im Kern noch ursprünglichen größten deutschen Waldgebietes in seiner Gesamtheit mit seiner zum Teil einmaligen Tier- und Pflanzenwelt. Von besonderem Wert wegen ihrer Ursprünglichkeit sind die autochthonen Bergfichtenwälder der Hochlagen etwa ab 1.150 Metern Seehöhe; die Reste plenterartig aufgebauter Fichten-Tannen-Buchen-Mischwälder; die urwaldartigen Mischwälder im Bereich von Steilhängen und Felsabbrüchen sowie die Moor- und Moorrandbestockungen.“

Als Schwerpunkte für die Forschung: „Erforschung der Bedingungen, unter denen naturnahe Ökosysteme samt ihrer seltenen Tierarten erhalten und vermehrt und ausgestorbene Tierarten ökologisch sinnvoll wieder eingebürgert werden können. Erforschung der Entwicklungsdynamik von Urwäldern und naturnahen Wäldern sowie der Möglichkeiten, Wirtschaftswälder in naturnahe Wälder ursprünglicher Baumartenzusammensetzung zurückzuführen. Landschaftsökologische und wildbiologische Forschungen überregionaler Bedeutung wie die Erforschung der Anforderung der einheimischen Bevölkerung und der Erholungssuchenden an Landschaft und Wald, ganz allgemein der Wechselbeziehungen zwischen Landschaft, Tierwelt und Mensch.“

Zum Aufgabenbereich Fremdenverkehr und Erholung: „Auf der einen Seite besteht aus regionaler Sicht die Notwendigkeit, durch eine Weiterentwicklung des Fremdenverkehrsgewerbes die Wirtschaftskraft dieses Gebietes generell zu steigern und die Einkommenssituation der einheimischen Bevölkerung zu verbessern…. Es muss darauf geachtet werden, dass für die verschiedensten Erholungstypen, sozialen Schichten von Erholungssuchenden und Interessensbereiche (Naherholung – Fernerholung – Wochenenderholung – Ferienerholung; ältere Leute – Familien mit Kindern – naturinteressierte Jugendliche; Fußwanderer – Autotouristen – Wintersportler) entsprechende Einrichtungen geschaffen werden. Landkreise, Gemeinden, Fremdenverkehrsvereine sowie das Nationalparkamt müssen eng zusammenarbeiten, um die Planungen und Maßnahmen nicht nur im Nationalparkgebiet, sondern noch mehr im Vorfeld aufeinander abzustimmen.“

Ich betonte abschließend: „Dem Nationalpark sind zwei, zumindest partiell gegensätzliche Aufgaben gestellt… Es ist sicher, dass das Urteil über den Nationalpark Bayerischer Wald in 10 bis 15 Jahren einmal wesentlich danach gefällt wird, ob es gelungen ist, im Nationalpark und seinem Vorland eine gesunde, allen Anforderungen genügende Erholungslandschaft zu entwickeln, die hohe Besucherdichten ohne Schaden verträgt und die zusätzlich noch Heimstätte für ein wertvolles Stück heimatlicher, ursprünglicher Pflanzen- und Tierwelt ist.“

Da schon damals in Deutschland die Erhaltung einer gesunden Umwelt mit reiner Luft, sauberem Wasser und unverseuchtem Boden eine wichtige Aufgabe war, stellte Generaldirektor Dr. Wolfgang Engelhardt, als Präsident des „Deutschen Naturschutzrings“ fest: „Der Umweltnotstand hängt auch mit der Unzulänglichkeit unseres Bildungswesens zusammen. Ein sehr großer Teil der Personen, die in Behörden Entscheidungen und Veränderungen der Umwelt planen, können aufgrund ihrer Schulbildung auch als Sechzigjährige noch griechische und lateinische Vokabeln beugen, haben aber keine Ahnung, was zum Beispiel unter der natürlichen Selbstreinigung eines Gewässers zu verstehen ist.“

Aus dieser Situation erwuchs für den Nationalpark eine vierte Aufgabe: Das über 10.000 Hektar große Gebiet sollte genutzt werden, um umfassend über die Beziehungen zwischen den Einheimischen und Erholungssuchenden, die eine Landschaft nutzen, und über diese Landschaft mit ihren natürlichen Gegebenheiten zu informieren. Verständnis für diese Wechselwirkungen zu wecken, war und ist eine echte Bildungsaufgabe. Deshalb hielten wir schon damals die Einrichtung eines Informationszentrums für vordringlich und erreichten, dass schon im Juni 1970 vom Nationalparkbeirat ein diesbezüglicher Beschluss gefasst wurde.

Als eine weitere wichtige Aufgabe für das Jahr 1970 wurde die Erstellung eines Landschaftsrahmenplanes für das Vorfeld des Nationalparks festgelegt. Eine Planungsgemeinschaft sollte ins Leben gerufen werden. Mit der Erstellung dieses Planes wurde Diplomgärtner Michael Haug beauftragt, der ab Januar 1970 daran arbeitete. (Mehr zum Thema Nationalpark und Nationalparkvorfeld in Kapitel 13)

Die feierliche Eröffnung rückt näher

Am 7. Oktober 1970 sollte der Nationalpark mit einem Festakt eröffnet werden. Dass bis dahin ein Wisent-, ein Luchs- und ein Rothirschgehege fertig würden, war kaum vorstellbar. Es wäre auch nicht gelungen, wenn nicht Hermann Puchinger von der Waldarbeitsschule Buchenbühl bei Nürnberg, den Georg Sperber kannte und dessen hervorragende Arbeit er schätzte, ans Nationalparkamt abgeordnet worden wäre. Ihm ist es zu verdanken, dass diese großflächigen Einrichtungen in der Gehegezone noch rechtzeitig fertig wurden. Parallel dazu hatte der „Bund Naturschutz“ 1970 mit außerordentlichem Erfolg eine Spendenaktion für Tiere für die Gehege im Nationalpark gestartet. 600 D-Mark wurden für einen Bären angesetzt, der dann den Namen des Spenders erhalten sollte, 1.000 D-Mark für eine Gämse und 6.000 D-Mark für einen Wisent. Geld für mehrere hundert Bären wurden gespendet! Aber wo sollten die im Nationalpark leben? Ein Problem, das zum Glück nicht wir, sondern der „Bund Naturschutz“ den Spendern klarmachen musste. Der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Josef Ertl, dem wir bei einem Besuch die Schäl- und Verbissschäden zeigten, stiftete einen Luchs, „um das Schalenwild besser regulieren zu können.“

Selbstverständlich mussten außerdem Spazier- und Wanderwege nicht nur in der Gehegezone, sondern möglichst bald auch in anderen ortsnahen Gebieten des Nationalparks geschaffen werden. Die heruntergekommene Forststraße zur Racheldiensthütte musste befahrbar gemacht werden, da diese zu einem Waldgasthof ausgebaut werden sollte. Das Klosterfilz bei Riedlhütte stellte uns vor ein besonderes Problem: Eines der größten und ursprünglichsten Hochmoorgebiete im Bayerischen Wald am Rande des Nationalparks wollte die Gemeinde St. Oswald in einen Stausee verwandeln. Investoren hatten sich schon Grundstücke gekauft. Der Lebensraum der letzten Birkhühner in der Region wäre damit zerstört worden, ebenso wie der für die letzten Fischotter in Süddeutschland. Auf Weinzierls Betreiben stiftete Bernhard Grzimek einige 10.000 D-Mark, sodass der „Bund Naturschutz“ noch im Frühjahr 1970 etwa 20 Hektar des 100 Hektar großen Gebietes ankaufen konnte. Dank der Unterstützung von Landrat Bayer verschwand der Stauseeplan daraufhin in der Schublade.


„Müllhappening“: Mehrere, mit im Nationalpark „entsorgten“ Autos vollbeladene LKWs wurden 1970 aus dem Wald gefahren.

(Fotos: Hans Bibelriether)

Die Zusammenarbeit mit den Forstämtern, insbesondere mit meinem Studienkollegen Franz Cronauer, dem Forstamtsleiter von St. Oswald, wurde immer schwieriger. Eine Woche vor der Eröffnung am 7. Oktober ließ er die Wanderwege in der Gehegezone, dem heutigen Tierfreigelände, durch Gräben unterbrechen, angeblich um Regenwasser abzuleiten. Außerdem ließ er Zäune bauen, damit die Besucher der Gehegezone nicht in den Wald nebenan gehen konnten.

Immer mehr Reporter und Fernsehteams kamen in den Nationalpark, aber auch ausländische Gäste, Wissenschaftler, Tourismusexperten und auch Jäger. Dem Vizepräsidenten des Bayerischen Jagdverbandes Seubert gegenüber äußerte Ministerialdirektor Haagen, er hätte „zwei Verrückte im Nationalpark“. Der Zweckverband unter dem Vorsitz von Landrat Bayer dagegen unterstützte uns konstruktiv. In seiner Sitzung am 24. Juli 1970 beschloss der Zweckverband sechs Punkte als Forderung an das Ministerium:

– die Zuständigkeit für die Tierwelt (Jagd und Fischerei) müsse an das Nationalparkamt übertragen werden;

– die Waldbehandlung müsse den Naturschutzzielen untergeordnet werden;

– das Nationalparkamt brauche mehr Geld, mindestens zwei Millionen D-Mark jährlich;

– das Nationalparkgebiet solle vollständig unter Naturschutz gestellt werden;

– das Nationalparkgebiet solle im Süden bis an die Staatswaldgrenze und im Nordwesten bis zum Kleinen Rachel erweitert werden;

– für den Ankauf wertvoller Randgebiete müsse Geld bereitgestellt werden.

Ähnliche Forderungen vom „Bund Naturschutz“ wurden auch einstimmig vom Zweckverband unterstützt.

Das Fest beginnt

Am 24. September 1970 wurde ein Ausstellungszelt auf dem Neuschönauer Sportplatz, an der Kreuzstraße im Nationalpark aufgebaut. Darin wurden die Themen des geplanten Informationszentrums präsentiert. Am 25. September wurden ein Wisentbulle und zwei Luchse von Heiligenstadt/Donau nach Neuschönau transportiert. Am Sonntag, den 27. September, waren um die Gehege bereits mehrere tausend Besucher unterwegs, Kutschen fuhren sogar über Treppenstufen, die Parkplätze waren überfüllt. Am 28. September wurde in München die Prägung einer Gedenkmünze in Auftrag gegeben. Das Festzelt wurde aufgebaut. Die Festschrift zur Eröffnung war fertig.

 

Am 30. September fing es an zu regnen. Am 2. und 3. Oktober nahmen Sturm und Regen zu. Alles stand unter Wasser. Es regnete weiter und am 5. Oktober wurden Holzstege zum Ausstellungszelt und zum Festzelt angelagt. Der Kutschweg für die geplanten Pferdekutschfahrten mit Festgästen war nicht mehr passierbar. Am 6. Oktober dann die große Überraschung: Entgegen dem Wetterbericht setzte sich starker Föhn durch, die Sonne schien strahlend. In meinem Tagebuch habe ich notiert: „Mit allen Arbeitern werden letzte Säuberungsarbeiten durchgeführt. Außerdem wird nochmals gewalzt. Auch auf dem Festplatz lassen sich Teile noch walzen – Mittags kommt Ministerialrat Baumgart und organisiert die Festversammlung. Vor allem um die Sitzordnung und die Münzenverteilung kümmert er sich persönlich. Abends wird im Hotel Tannenhof in Spiegelau ein „Freundesverein für den Nationalpark Bayerischer Wald“ gegründet. Gründungsmitglieder sind Professor Lorenz, Professor Grzimek, Professor Plochmann, Regierungspräsident Riederer, Dr. Rüdiger Disko, Karl-Oskar Koenigs und Hubert Weinzierl.“

Über den 7. Oktober notierte ich: „Der Tag beginnt mit strahlendem Herbstwetter. Die Kutschfahrt wird doch stattfinden… Im Zelt sammeln sich ab 10 Uhr zirka 3.000 Besucher. Minister Eisenmann ist etwas aufgeregt, denn Ministerpräsident Goppel hat sich gestern den Arm gebrochen und kann nicht eröffnen! 140 Presseleute drängen sich. Endlich, um 11.30 Uhr, sitzen alle! Von jetzt an klappt alles: die Böllerschüsse, die Leuchtkugel, das Freilassen der Wisente und Luchse, die Kutschfahrt der Minister und der Pferderitt von Minister Eisenmann. Um 16 Uhr ist die Schlacht geschlagen für den Nationalpark und wir sind einen, vielleicht den entscheidenden Schritt weiter.


7. Oktober 1970: Nationalpark-Eröffnungsfeier, Festzug mit Pferdekutschen. In der Kutsche sitzend links: Minister Hans Eisenmann, rechts: Bernhard Grzimek.

Am 8. Oktober ist Schulwandertag, ab 8.30 Uhr überschwemmen vier- bis fünftausend Kinder den Wald und die Gehegezone. Das Fest wird immer zünftiger, nachmittags ist Preisverleihung des Schulmal- und Fotowettbewerbs. Am Abend ist alles noch heil und das Wetter bleibt schön. Die Verärgerung der Arbeiter und die von Hermann Puchinger kann ausgeräumt werden (er wurde mit keinem Dankeswort bedacht), er bekommt noch eine Goldmünze und ist von Minister Eisenmann zum Essen eingeladen! In den nächsten Tagen ist Hochbetrieb im Bierzelt. Das Wetter bleibt schön. Das Interesse an der Informationsausstellung ist groß. Am Schlusstag werden etwa 15.000 Besucher gezählt, rund 2.000 Teilnehmer nehmen an der Sternwanderung zum Nationalpark teil, alle Beteiligten vor Ort sind sehr zufrieden, der Festwirt, die Landräte, die Bürgermeister und die vielen, vielen Einheimischen, denen der Nationalpark nun nahe gekommen ist.“

3 |HIRSCHE UND REHE FRESSEN DEN WALD
DAS WILDPROBLEM DER ANFANGSJAHRE

Unmittelbar nach Dienstantritt wurden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wegen der viel zu hohen Rot- und Rehwildbestände in den Nationalparkwäldern Tannen und seltenere Laubbaumarten nicht mehr nachwuchsen. Jungwaldflächen wiesen massive Schälschäden auf. Das Thema Hirsche und Rehe im Nationalpark wurde zu einem Schwerpunkt der internen Diskussionen und der öffentlichen Auseinandersetzungen der ersten Jahre. Erst nach Horst Sterns Film „Bemerkungen über den Rothirsch“, der von der ARD an Heiligabend 1971 ausgestrahlt wurde, gelang es, das Schalenwildproblem schrittweise zu lösen.

Schutzgebiet für den König der Wälder

Als in den 50er Jahren Oberforstmeister Götz von Bülow als Leiter das Staatsforstamt St. Oswald übernahm, wurde die Rotwildhege wie bereits erwähnt zum Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Er übertrug den neofeudalistischen Trophäenjagdkult nach ostelbischer Gutsherrenart in seine neue dienstliche Heimat. 1961 schrieb er: „Wir haben unersetzliche Verluste im Osten unseres Vaterlandes hinnehmen müssen, so vor allem die Rotwildvorkommen Ostpreußens, an ihrer Spitze das unvergessliche Rominten mit den stärksten deutschen, ja europäischen Hirschen.“

Der Bayerische Wald wurde von ihm zu einem Rotwildlebensraum der ganz besonderen Art hochstilisiert: „So ergeben die Umweltfaktoren im Ganzen ausgesprochen günstige Voraussetzungen für das Gedeihen unseres Wildes und lassen Vergleiche mit den besten und urtümlichsten europäischen Rotwildgebieten, vor allem mit den Karpaten, zu.“ Weiter schrieb er: „Ich kann versichern, die hier aufgewendeten Mittel bringen eine ideelle und materielle Rendite, die sich nicht nur in höheren Wildbretdichten und stärkeren Trophäen ausdrückt, sondern vor allem durch die Gesunderhaltung des Waldes unschätzbar wird!“ Die Behauptung, die Rotwildhege würde eine „materielle Rendite“ bringen und sich in der „Gesunderhaltung des Waldes“ ausdrücken, war eine glatte Lüge.

Noch vor Bär (1856), Wolf (1846) und Luchs (1846) wurde 1820 der letzte Hirsch im Böhmerwald erlegt. 1807 hatte Fürst Schwarzenberg, Großwaldbesitzer im Böhmerwald, sein Jagd-personal damit beauftragt, alles Rotwild abzuschießen, vor allem wegen der „häufigen Einfälle verwegener Raubschützen aus Bayern“. Fürst Adolf Josef zu Schwarzenberg beschloss dann 1874, das Rotwild wieder einzubürgern. 1878 wurden 29 Stück aus einem Gatter freigelassen. Kurz vor der Jahrhundertwende tauchten die ersten Tiere auf bayerischer Seite auf. Ein nennenswerter Bestand entwickelte sich erst im Dritten Reich. Nach dem Krieg wurden dann die Abschussplanungen nur unzureichend erfüllt und die Rotwildpopulation nahm zahlenmäßig immer weiter zu. Als besonderer Schutzherr und Nutznießer des Rotwildes tat sich der spätere Leiter der Oberforstdirektion Regensburg, Forstpräsident Richard Tretzel, hervor. Jahr für Jahr erlegte er im Bayerischen Wald starke Hirsche, von denen einige selbst den Vergleich mit Görings legendären Rotwildgeweihen nicht zu scheuen brauchten.

Bambi-Kult auf Kosten des Waldes

Als wir im Winter 1969/70 den Wildbestand zu erfassen versuchten, zählten wir mindestens 500 Stück Rotwild auf der Nationalparkfläche. 25 Fütterungen waren eingerichtet worden, damit das Rotwild im Staatswald blieb und nicht außerhalb von Privatjägern im Winter erlegt werden konnte. Schon bald erkannten wir, dass die Hirschzucht zu einer kaum vorstellbaren Schädigung der Waldbestände geführt hatte. Auf fast 700 Hektar war die Rinde von den Stämmen fast aller jungen Fichten abgeschält worden. Laubbäume und Tannen waren großflächig abgefressen. Junge Tannen gab es nur noch in begrenzter Zahl hinter Zäunen und vereinzelt an Waldrändern, die an private Jagdreviere angrenzten. Der König des Waldes war dabei, zusammen mit den Rehen denselben aufzufressen!


Schälschäden durch Rotwild aus den Jahren 1969 bis 1971.

(Foto: Hans Bibelriether)


Mitarbeiter des Nationalparkamtes versuchten in den Anfangsjahren, auf Drückjagden Rot- und Rehwild-bestände zu reduzieren.

(Foto: Hans Bibelriether)

Verantwortungsbewusste Forstleute, wie der damalige Chef der Bayerischen Staatsforstverwaltung Max Woelfle, versuchten, die Schalenwildbestände im Staatswald bayernweit zu reduzieren. Aber gegen den „Bayerischen Landesjagdverband“ hatte er damals keine Chance! 1968 wurde er auf der Titelseite der „Münchner Abendzeitung“ unterlegt mit einem schwarzen Kreuz als „Eichmann der Jagd“ bezeichnet. Die Jäger betrieben einen werbewirksamen Bambi-Kult und es gelang ihnen, einer gutgläubigen Öffentlichkeit „Tierliebe“ und „Wildhege“ als Hauptmotivation für ihr jagdliches Treiben zu verkaufen. 1972 brachte es Horst Stern auf den Punkt: „Es wurde viel zu oft versucht, den Wald gesund zu beten, statt gesund zu schießen.“

„Bemerkungen über den Rothirsch“

Georg Sperber und mir war klar: Wenn die Entwicklung eines naturnahen Waldes im Nationalpark auch nur eine geringe Chance haben sollte, mussten die Hirsch- und Rehbestände drastisch reduziert werden. Wir wollten einen Wildschadenspfad anlegen, auf dem zu sehen war, welche Auswirkungen der Verbiss und das Schälen auf die Waldentwicklung hat. Dies wurde uns im Juli 1971 von Ministerialdirektor Haagen untersagt. Trotzdem führten wir interessierte Besucher, darunter auch Journalisten, in solche beschädigten Waldbestände. Einer der ersten war im April 1970 Georg Kleemann von der „Stuttgarter Zeitung“. Er war mit Horst Stern befreundet, der damals mit seiner Filmserie „Sterns Stunde“ ein Millionenpublikum faszinierte, und erzählte ihm von den Wildschäden. Am 19. Dezember 1970 kam Horst Stern erstmals in den Bayerischen Wald. Georg Sperber zeigte ihm Reste der urwaldartigen Bergmischwälder und die von den Hirschen verursachten Totalschäden nicht nur an den jungen Waldbäumen, sondern auch an anderen Pflanzen. Am Abend verabschiedete Horst Stern sich von uns mit den Worten: „Ihr seid die komischsten Beamten, die mir je begegnet sind.“

Nach seinem Besuch im Bayerischen Wald begann er mit den Dreharbeiten für den Film „Bemerkungen über den Rothirsch“. Der an Heiligabend 1971 ausgestrahlte Beitrag schlug ein wie eine Bombe. Viele der Filmszenen wurden im Nationalpark aufgenommen. Der Film war der Anfang vom Ende des bis dahin offen zur Schau getragenen Herrschaftsanspruchs der Jäger am deutschen Wald. Noch in derselben Nacht erhielt Horst Stern telefonisch Morddrohungen. Massive öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Jagdfunktionären und Forstleuten, denen es um einen gesunden Wald ging, zogen sich monatelang hin. Am 12. April 1972 wurde der Film im Agrarausschuss des Bundestages in Bonn gezeigt und dort diskutiert. Aber noch immer versuchten Jagdverbandsfunktionäre die Herrschaft im Wald zu behalten. Im Bayerischen Landtag verlangten Abgeordnete der CSU – 30 Prozent der Abgeordneten waren damals Jäger – die disziplinarische Abstrafung der am Film beteiligten Nationalparkbeamten, die Bayerns Ansehen mit Füßen getreten hätten. Minister Eisenmann stellte sich schützend vor uns und verbot auf unseren Vorschlag hin jegliche Art von Trophäenjagd im Nationalpark. Mit der Beendigung des Abschusses von Hirschen und Rehböcken als Trophäenträger wurde die „Jagd“ im Nationalpark in eine „Wildstandsregulierung“ umgewandelt, die weltweit in vielen Nationalparken bei einzelnen Großtierarten notwendig ist, weil deren natürliche Regulierung nicht mehr erfolgt.


Ohne Horst Stern wäre das Problem der zu hohen Rot- und Rehwildbestände in den 70er Jahren nicht gelöst worden.