Liebe und Eifersucht zur Zeit der freien Liebe

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Über die Liebe

Mit meinem Freund Hans Schuster, er war ein paar Jahre älter und studierte Germanistik und Englisch, diskutierte ich nächtelang über das Rätsel Weib. Wir machten nur sehr geringe Fortschritte in der Erkenntnis über dieses Phänomen. Hans hatte noch weniger praktische Erfahrung hinsichtlich unseres Untersuchungsgegenstandes als ich, hatte aber ein breites literarisches und philosophisches Wissen zu diesem Thema. Neben dem Rätsel Weib diskutierten wir auch über das Rätsel Liebe. Hier eine Auswahl der Zitate die Hans gerne anführte:

Schopenhauer:

„Liebe ist Objektwahl, wobei nicht das Individuum im Vordergrund steht, sondern die Spezies. Also eine übergeordnete, über den individuellen Rahmen hinausgreifende Instanz. Es geht um die Zusammensetzung der neuen Generation“.

Ortega y Gasset:

„Liebe ist eine Form des Strebens, eine Begierde, sie ist eine ewige Unbefriedigtheit, ein Strömen aus Seelenmaterie, ein Fluss, der ohne Unterbrechung wie aus einer Quelle hervorsprudelt, erotisches Gefühl regt sich in uns nur beim Anblick von etwas, was uns als Vollkommenheit gilt. Individualität zu zweit. Liebe ist ihrem eigenen Wesen nach Wahl. Und da sie aus dem Kern der Person, aus der Seelentiefe aufsteigt, sind die Auswahlprinzipien, die über sie entscheiden, zugleich die innersten und geheimsten Wertungen, die unseren individuellen Charakter formen“.

In einem Aufsatz von Keyserling mit dem Titel „Über die Liebe“, den Hans mir zum Lesen gab, steht:

„Wie wir nichts sehen können, das einem Menschenantlitz im Entferntesten ähnlich ist, ohne auch einen Ausdruck zu sehen, so können wir nicht den Körper begehren, ohne auch das Seelische, von dem er durchtränkt ist, dessen Regungen er in jedem Augenblick ausdrückt, zu begehren.“

Ein Autor, der Hans und mich sehr aufwühlte, war Jerzy Andrzejewski mit seinem Buch „Die Pforten des Paradieses“. Er schreibt:

„wenn der andere Mensch nur ein Geheimnis ist, ist es schwer, ihn lieb zu gewinnen, aber wenn nichts Geheimnisvolles in ihm ist, kann man ihn ebenfalls nicht lieben, denn die Liebe ist ein Suchen und Entdecken, sehnsuchtsvolles Streben und Unruhe, Eile und Warten.“

Solche Texte öffneten mir das Verständnis für die Wechselwirkung von Körper und Geist in der Liebe. Ich war bewegt von der körperlichen Schönheit von Fides. Gleichzeitig war ich auch berührt von der Skepsis, der Klarheit und Ehrlichkeit ihrer Gefühle. Sie würde nie ihre Gefühle verdrängen, oder mich über ihre Gefühle täuschen, sondern immer zu ihren Gefühlen stehen. Und da war noch etwas. Es wird mir nie gelingen sie vollständig zu erobern. Sie wird immer ihre Unabhängigkeit waren.

Weiter schreibt Andrzejewski:

„Du kannst mit mir tun, was du willst, wiederholte ich, was immer du tust, es wird mir lieb sein, und es geschah, und als es schon geschehen war, war ich nicht glücklich, sondern nur von einer mir bisher unbekannten Lust gesättigt und voll Sehnen, sie wieder zu empfinden, aber ich fühlte mich nicht glücklich, denn schon damals verstand ich, dass er mich nicht liebte, sondern nur meinen Körper begehrte. die Liebe ist nur ein Knäuel unerfüllbarer Wünsche, die Liebe gibt nur Leiden, die dunkle Lust dagegen entsteht und dauert inmitten Verachtung und Hass. sie ist jener seltsame und einzigartige Zustand von Wunsch und Begehren, von reinem und finsterem Begehren. die Liebe ist Anruf und Suche, sie ist eroberungssüchtig, aber jegliche Befriedigung ihres Verlangens tötet sie.“

Mir wurde damals schmerzlich bewusst, dass es die eine wahre Liebe nicht gibt. Die Liebe hat tausend Schattierungen und es gibt auch die dunkle Seite: Die Lust einen anderen Menschen zu besitzen, ohne ihn zu lieben.

Die Liebe machte Hans und mir Angst, und wir überlegten, ob es einen Weg gäbe, der Liebe aus dem Weg zu gehen und nur die Befriedigung bei Frauen zu suchen, die wir nicht liebten. Für Hans schien das ein gangbarer Weg. Mir schien eine Lust an einem Körper nicht möglich, ohne die Person, die in dem Körper steckt, zu lieben.

An einer anderen Stelle bei Andrzejewski, sagt ein Mädchen zu einem jungen Hirten: „wenn Du es einmal mit mir machst, willst Du es jede Nacht haben“.

Bei mir war genau dieser Zustand eingetreten. Ich hatte eine inbrünstige Sehnsucht nach dem Körper von Fides und der Lust, die er mir gab. Wir hatten keine gemeinsame Wohnung, wohnten an verschiedenen Orten. Wir hatten ein Liebesnest, das war aber kein sicherer Ort.

Diese Sehnsucht quälte mich nicht nur nachts, sondern auch tagsüber, besonders häufig während der Schulstunden. Wenn es mir gelang Fides in unser Liebesnest zu lotsen, hielt die Befriedigung nur sehr kurz an. Meist war die Sehnsucht zurück, bevor wir uns trennen mussten.

Dazu kam, dass ich Fides keine Lust schenken konnte. Sie hatte meinem Drängen mit mir zu schlafen nachgegeben, weil sie keine Jungfrau mehr sein wollte, und wissen wollte, was es mit der körperlichen Lust auf sich hat.

Das Ergebnis musste für sie enttäuschend sein. Sie konnte Lust schenken, aber sie konnte keine Lust empfangen. Sie schlief mit mir, weil sie meine Liebesqual spürte und mich von dieser Qual befreien wollte. Sie schlief mit mir aus Liebe, vielleicht auch aus Anteilnahme. Sie war in ihrer lustlosen Hingabe sehr zärtlich. Ich denke, sie genoss es ein wenig, Lust zu schenken. Das stand aber in keinem Verhältnis zu der Wonne, die ich beim Eindringen in ihren Körper empfand. Es war eine Welle, die mich in ein Gefilde schleuderte, von dessen Existenz ich bisher nichts gewusst hatte. Einem Gefilde, das zu betreten, ich süchtig geworden war.

Manchmal dachte ich, dass es an mir lag, dass sie keine Lust empfinden konnte und dass ein männlicherer, erfahrenerer Mann, ihr Lust schenken könnte. Die Vorstellung, dass sie bei einem anderen Mann, die Lust finden würde, die ich ihr nicht geben konnte, quälte mich in vielen Nächten.

Dass in manchen Ländern, die Frauen ganz oder teilweise verschleiert werden, konnte ich verstehen. Es nahm den Männern dort die Angst, ihre Frauen zu verlieren oder sie mit anderen Männern teilen zu müssen. Diese Angst musste unter Männern sehr verbreitet sein. Es war ihnen gelungen die Religionen zu benutzen, um sich von ihrer Angst zu befreien. Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und die Erziehung der Frauen zur Scham fand in nahezu allen Religionen statt. Sie war in den muslimisch geprägten Religionen am krassesten, in den christlichen Religionen etwas weniger augenfällig, aber deshalb nicht weniger barbarisch. Allen Religionen gemeinsam ist, dass sie von Männern erfunden wurden und dazu benutzt werden, den Männern die Angst vor der weiblichen Sexualität zunehmen.

In der Theorie war ich natürlich für die freie Liebe. Feste Zweierbeziehungen galten in den sechziger Jahren, als zerstörerisch für die wahre Liebe. In Bezug auf Fides hatte ich aber das dumpfe „Frau gehört mir Gefühl“. Ich war sicher, nie eine andere Frau als Fides lieben zu können. Ihr Verlust würde mein Leben zerstören.

Ich wusste, wenn Fides mit einem anderen Mann schläft, gab es nichts, was ich ihr nicht antun könnte. Vielleicht nicht im wirklichen Leben, aber ganz sicher in der Phantasie.

Ich könnte sie demütigen.

Ich könnte gegen Ihren Willen mit ihr schlafen.

Ich könnte sie schlagen.

Nur verlassen könnte ich sie nicht.

Für einen Liebenden gibt es tausend Arten, verletzt und gequält zu werden. Je heftiger und ausschließlicher er seine Geliebte liebt, umso schmerzlicher werden seine Leiden sein, und umso mehr kommt die dunkle Seite der Liebe, die Besitzgier und der Drang, seine untreue Geliebte zu bestrafen, zum Vorschein. Hans und ich kamen zu dem Schluss, dass ein Liebender nahe am Abgrund steht.

Bei unseren Café-Besuchen und Spaziergängen berichtete ich Fides über den jeweiligen Stand der Erkenntnisse zum Thema Liebe und Sexualität. Sie belächelte unsere Gespräche und ich war oft eingeschnappt, weil sie unsere Gespräche nicht ernst nahm. Sie zweifelte, dass aus theoretischen Abhandlungen brauchbare Erkenntnisse für das Verstehen der Liebe ableitbar sind. Dass wir Männer Angst vor der Liebe hatten, amüsierte sie. Sie versicherte mir, es wäre sinnlos Angst vor der Liebe zu haben oder nach Verhaltensweisen zu suchen, die die Liebe weniger schmerzhaft machten.

Sie sagte: „Wir sind der Liebe ausgeliefert. Sie kommt und geht, wie es ihr passt. Wir können sie nicht herbeireden und wir können sie nicht aufhalten, wenn sie geht. Sie ist unser Schicksal. Sie ist nicht von Dauer, aber sie ist das Beste, was es gibt. Denk an Steiner.“

Steiner war einer der Helden in einem Roman von Remarque, mit dem Titel „Liebe deinen Nächsten“, den wir vor kurzem gemeinsam gelesen hatten. Er musste vor den Nazis fliehen und seine Frau in Deutschland zurücklassen. Im Exil erfährt er, dass seine Frau im Sterben liegt. Er kehrt nach Deutschland zurück und verbringt die letzten Tage mit seiner Frau. Er wird von der Gestapo verhaftet und kann sich durch einen Sprung, aus dem Fenster im fünften Sock des Krankenhauses, vor den Folterungen durch die Gestapo retten.

Ein Mann verbringt die letzten Tage mit seiner, schon vom Tod gezeichneten Frau und nimmt dafür in Kauf, von der Gestapo gefoltert und getötet zu werden. Wir waren sehr gerührt gewesen beim Lesen dieser Stelle. Fides hatte gelesen und musste mehrmals unterbrechen und sich die Tränen abwischen.

Fides hatte Recht. Dass Liebe sich in Hass verwandeln kann. Dass Eifersucht bis zum Mord an der Geliebten oder deren Liebhaber führen kann. Dass es Lust machen konnte, die Geliebte zu demütigen und zu verletzen. Dass Liebe die Gier auslöste, die Geliebte alleine zu besitzen. Dass es Neid war, die Geliebte mit niemanden teilen zu wollen. All das war abscheulich, dennoch war die Liebe das großartigste, was es im menschlichen Leben gibt.

 

Unsere Treffen liefen nach einem fast unveränderten Schema. Zu Beginn berichtete ich, emotional bewegt, von literarischen und philosophischen Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Fides hörte eher uninteressiert zu. Mein Elan starb ab. Ich begann zu schmollen. Fides lenkte unser Gespräch auf praktische Dinge, die für das Abitur hilfreich sein konnten. Etwas wiederwillig folgte ich ihr. An diesen Abenden schmusten wir zum Abschluss an den leeren Ständen des Viktualienmarkts oder gingen in die Friedrich-Herschel-Straße.

Es gab nur ein philosophisches Thema, das Ihr ungeteiltes Interesse fand, und über das wir immer wieder kontrovers diskutierten, das war das Scheitern der Liebe. Ich war hinsichtlich der Liebe Optimist, ich glaubte daran, dass es die Liebe gibt und dass sie auch von Dauer sein kann. Meine Freundin war eher skeptisch und hielt die Liebe für ein flüchtiges Ding. Sie zitierte gerne einen Ausspruch von La Rochefoucauld: „Mit der Liebe ist es wie mit den Gespenstern. alle reden davon, aber keiner hat sie je gesehen.“

Dass sie so skeptisch über die Liebe dachte, machte mir Angst. Die Vorstellung, dass unsere Liebe flüchtig sein könnte, quälte mich.

Es war jetzt nicht mehr nur Ihre Schönheit und ihre Zärtlichkeit, die mich berührte. Es war auch die Lust, die sie mir im Liebesakt schenkte. Diese Lust umhüllte mich noch Tagelang. Ich lebte dann auf einer rosigen Wolke und fand das Leben herrlich.

Fides war zärtlich in der Liebe, aber sie blieb immer am Boden. Meine Höhenflüge beobachtete sie wohlwollend, schrieb sie aber meinem Temperament und meiner Unerfahrenheit zu. Manchmal machte sie sich auch lustig über meinen Überschwang an Gefühlen.

Hinsichtlich der Liebe war eine der Lieblings Thesen meines Vaters ein Zitat von Schopenhauer: „Liebe ist der Lebenswille des zukünftigen Geschlechts“. Seit Fides mit mir schläft, hatte ich Zweifel, dass mein Vater Recht hatte. Zu großartig war das Gefühl, das ich dabei empfand. Es konnte nicht nur zum Zwecke der Fortpflanzung entstanden sein.

Aus unseren Diskussionen zum Thema Liebe ging Fides immer als Sieger hervor. Meine Argumentation stand auf schwachen Beinen. Ich plädierte für die dauerhafte Liebe, weil ich fühlte, dass meine Liebe zu Fides von Dauer war. Fides argumentierte immer mit praktischen Beispielen. Sie fragte zum Beispiel: „wie war das bei Deinen Eltern? war das eine dauerhafte Liebe?“

Im Fall meiner Eltern musste ich klein beigeben. Das war keine dauerhafte Liebe. Mein Vater war ein gut aussehender, sportlicher Mann. Lange Zeit hatte er eine Freundin, mit der er nahezu jedes Wochenende zum Bergsteigen ins Gebirge fuhr. Die Freundin war Buchhändlerin in der Kleinstadt, in der wir lebten. Ihr Laden und die Kanzlei meines Vaters waren am Marktplatz. Mein Vater hatte nie versucht, seine Liaison geheim zu halten. Er hatte meine Mutter aufgefordert, sich auch einen Liebhaber zu nehmen.

Meine Großeltern hatten am selben Marktplatz eine Bäckerei mit einem Café. Meine Großmutter war eine große stattliche Frau. Sie hat einmal die eher zierlichen Buchhändlerin aufgelauert und sie geohrfeigt. Mein Vater hat daraufhin getobt und von meiner Großmutter gefordert, dass sie sich entschuldigt. Ich glaube nicht, dass meine Großmutter das getan hat.

Mein Vater hatte auch mit unserem Dienstmädchen geschlafen. Meine Mutter hatte das entdeckt, weil sie in der Unterhose meines Vaters Blutspuren fand, und wusste, dass das Dienstmädchen ihre Periode hatte. Der Beischlaf mit dem Dienstmädchen fand im Keller statt. Mein Vater pflegte am Morgen zum Schuhputzen den Keller aufzusuchen.

Als ich zwölf Jahre alt war, durfte ich an einem Wochenende mit ins Gebirge. Mein Vater nahm auch seine Freundin mit. Es war nicht mehr die Buchhändlerin, die hatte sich von ihm getrennt und war weggezogen, nachdem er sich nicht scheiden lassen wollte. Ganz selbstverständlich musste ich auf der Hütte im Lager schlafen, während mein Vater und seine Freundin ein Doppelzimmer bezogen.

Meine Mutter hatte sich für seine Seitensprünge gerächt, in dem sie ihm Ihre Liebe dauerhaft entzog.

Meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters viele Jahre lang eine Liebesaffäre mit dem Mann ihrer besten Freundin.

Die wiederum hatte eine leidenschaftliche Affäre mit einem sehr viel jüngeren katholischen Priester.

Fides fand im Verhalten meines Vaters nur die Dienstmädchen Geschichte abstoßend. Seine Ehrlichkeit hinsichtlich seiner Freundinnen und seine Bereitschaft meiner Mutter das gleiche Recht auf eine Affäre einzuräumen, fand sie in Ordnung.

Nicht in Ordnung fand sie das Verhalten meiner Mutter.

Über meine Mutter sagte sie: „Deine Mutter trägt die Schuld, dass die Liebe in der Ehe deiner Eltern dauerhaft verloren ging. Sie hat nicht um die Liebe deines Vaters gekämpft. Sie hat ihn nicht geliebt, sie hat ihn bestraft, weil er ihren Besitzansprüchen nicht entsprochen hat“.

Ich sah das anders. Mein Vater hatte meine Mutter durch seine Untreue so sehr verletzt, dass sie den Glauben an seine Liebe verloren hatte. Gerade ihre tiefe Liebe zu ihm war die Ursache, dass sie so sehr verletzt war. Sie wollte keine Affäre mit einem anderen Mann, sie wollte seine Liebe. Ihre Liebe hatte sich aus Enttäuschung in Kälte verwandelt.

„Genau diese Kälte hat deinen Vater in immer neue Affären getrieben“, konterte Fides. Sie ist aufgebracht und hat rote Backen, als sie das sagt.

Ich verteidige, ebenfalls aufgeregt, meine Mutter als große Liebende, und bezichtige meinen Vater der Leichtlebigkeit.

Fides tritt weiter für meinen Vater ein.

„In der wahren Liebe geht es nicht um Besitz, sondern um Zuwendung und Ehrlichkeit. Dein Vater hat so empfunden, als er deine Mutter aufforderte, sich auch einen Liebhaber zu nehmen. Deine Mutter hat das nicht verstanden. Sie wollte deinen Vater besitzen. Seine Gefühle waren ihr gleichgültig“.

Wir waren jetzt beide wütend und starrten uns über den Café Tisch hinweg böse an.

Für mich war immer klar gewesen, dass mein Vater, mit seinen ständigen Frauengeschichten, Schuld hatte, dass die Ehe meiner Eltern so kalt und lieblos geworden war.

Ich erinnerte mich an eine Szene aus meiner Kindheit.

Meine Mutter hatte beim Essen meinen Vater mit Vorwürfen überhäuft. Mein Vater hatte ruhig zugehört und weiter gegessen. Dieses Verhalten hatte meine Mutter provoziert. Sie war aufgesprungen und hatte die Tür zum Esszimmer zugeschlagen und war in die Küche gerannt. Mein Vater hatte ruhig zu Ende gegessen. Er hat kein Wort zu uns Kindern gesprochen. Wir waren vor Angst erstarrt. Er stand auf und ging zu meiner Mutter in die Küche. Zwischen Küche und Esszimmer gab es eine Durchreiche. Diese Durchreiche war offen. Wir konnten die Worte unseres Vaters deutlich verstehen.

„Führ dich nie mehr vor den Kindern so auf“. Nach diesen Worten verließ mein Vater das Haus. Meine Mutter schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein und wir hörten sie schluchzen. Zuerst war es ein wütendes Schluchzen, dann ging es in ein Wimmern über. Ich erzählte Fides diese Szene.

„Vielleicht war deine Mutter nur eine ungebildete Frau“, sagte Fides mit einem bösen Glitzern in ihren Augen. Ich war nahe daran, den Café Tisch umzuwerfen. Statt das zu tun, sprang ich auf und rannte aus dem Café. Auf der Straße setzte ich mich an den Rand des Gehsteigs zur Straße zwischen zwei Autos. Nach einiger Zeit kam Fides, sie hatte bezahlt. Sie hielt mir ihre Hand hin. Ich nahm sie nicht, stand aber auf und ging mit ihr. Noch einmal reichte sie mir ihre Hand. Diesmal nahm ich sie. Wir sprachen nicht mehr über meine Eltern.

Auch die Ehe der Eltern von Fides war kalt und lieblos. Die Mutter von Fides stammte aus einer polnischen Familie und hiess Pélagia. Sie war mit ihrer Familie kurz vor dem ersten Weltkrieg in das Ruhrgebiet eingewandert. Über den zweiten Bildungsweg war sie zuerst Krankenschwester, dann Ärztin geworden. Theo, ihr zukünftiger Ehemann, studierte Maschinenbau und war in einer katholischen Studentenverbindung, die gegen Hitler opponierte. Er wurde 1940 von der Gestapo verhaftet und vom Studium relegiert und zu einem Studentenbataillon der Wehrmacht eingezogen. Im Frühling 1942 wurde er schwer verwundet und lag in einem Lazarett in der Nähe von Stalingrad.

Pélagia hatte gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen und machte sich auf den Weg, um Ihren Theo nach Hause zu holen. Einzige Ausrüstung war Ihrer Approbation als Ärztin. Sie fuhr ohne irgendeine Genehmigung mit Zügen der Wehrmacht bis zu dem Feldlazarett, in dem Theo lag. Die Verwundung von Theo war von den dortigen Ärzten notdürftig behandelt worden. Er hatte einen Schuss in sein rechtes Bein erhalten. Als Pélagia ankam, lag er apathisch in einem abgelegenen Zelt des Lazaretts. Die dortigen Ärzte konnten nichts für ihn tun und gaben Pélagia die Erlaubnis ihren Mann mitzunehmen. Sie brachte ihn in eine Klinik in Bad Tölz. Dort wurde sein Bein verkürzt. Theo konnte mit Spezialschuhen fast normal gehen. Nachdem seine Verwundung verheilt war, begann er Medizin zu studieren. Fides wurde 1944 geboren. Ihre Schwester Eva 1943. Kurz nach Kriegsende eröffnete Pélagia eine Praxis für Allgemeinmedizin in der Sendliger Straße in München. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt zwei Kleinkinder und einen studierenden Mann.

Pélagia, Fides Mutter, war die dominierende Person in der Familie. Sie regierte die Familie mit harter Hand. Sie war ehrgeizig und gefühllos. Mann und Töchter mussten so funktionieren, wie sie es sich vorstellte. Bei Abweichung reagierte sie kalt und gnadenlos. Als ich den Vater kennenlernte, war er, durch jahrelange Unterdrückung seiner Gefühle, mürrisch und verschlossen geworden. Mitunter brach aber sein Jähzorn durch und richtete sich dann auch gegen seine Töchter.

Von Liebe war zwischen Pélagia und Theo nichts zu spüren. Die Ehe Ihrer Eltern war für Fides ein Schreckgespenst. Nach der Vorstellung von Fides war die Liebe bei der Mutter bald in Besitzdenken umgeschlagen. Sie hatte nicht das Bedürfnis, geliebt zu werden. Sie wollte ihre Herrschsucht ausleben. Sie hatte Ihren Mann, unter Ausnutzung Ihrer Schläue und Skrupellosigkeit und seiner Naivität, zu einem Vasallen gemacht, der zu gehorchen hatte. Alles natürlich unter dem Anspruch, das Beste für die Familie zu wollen. Die großartige Rettungsaktion, mit der sie ihn aus dem späteren Kessel von Stalingrad geholt hatte, wurde von Ihr auch zur Unterdrückung seiner Persönlichkeit benutzt. Es gab aber Fotos der beiden Eltern, da konnte man sich vorstellen, dass da einmal Liebe war.

Fides machte für die lieblose Ehe Ihrer Eltern allein ihre Mutter verantwortlich. Sie lehnte ihre Mutter ab und litt mit Ihrem Vater. Als Kind hatte sie um die Zuneigung des spröden Theo gekämpft. Ohne Erfolg. Theo konnte seine Gefühle nicht zeigen. Bei Tisch hatte Theo immer eine Rute in einer Tischspalte liegen. Wenn eines der Kinder nicht ordentlich aß, schlug er dem Kind mit der Rute auf die Hand. Er schlug immer nur leicht zu.

Meine Großmutter mütterlicherseits war ein Beispiel für eine große und lebenslange Liebe. Sie war 21 Jahre alt, als sie von meinem 17-jährigen Großvater geschwängert wurde. Fides ließ aber diese Liebe nicht gelten, weil es eine einseitige Liebe war. Mein Großvater mütterlicherseits war ein Frauenheld und hatte die Großmutter, auch noch im fortgeschrittenen Alter, betrogen.

Das hatte ich sogar als sein Enkel noch mitbekommen. Er fuhr regelmäßig von unserer Kleinstadt ins Inntal nach Brannenburg. Dort baute er als Alterssitz ein Geschäftshaus. Auf diese Fahrten nahm er mich öfter mit. Unterwegs hielten wir immer bei einer Käserei. Dort gab es ein Käsefräulein. Ich bekam von Ihr ein Stück Käse und wurde dann losgeschickt, mich im Dorf umzusehen. Dass die beiden ein Liebespaar waren, habe ich erst viel später verstanden.

Als meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters, heiratete, kam sie in die wohlhabende Familie eines Pferdehändlers, meines Urgroßvaters väterlicherseits. Er hatte für den Krieg gegen Frankreich 1870, Pferde für die bayrische Armee geliefert und war dadurch reich geworden. In der Währungsreform verlor mein Großvater, bis auf einen kleinen Rest, das ganze Familienvermögen. Meine Großmutter bestrafte ihn für den Rest seines Lebens. Einige Jahre hatte er eine Liebesbeziehung zur Tochter seines Geschäftspartners. Als Großmutter das herausfand, ging sie zu seinem Geschäftspartner und berichtete ihm von der Beziehung. Großvater beendete daraufhin seine Affäre. Als er wegen einer Krebserkrankung Selbstmord beging, sagt sie: „jetzt hat er mir das auch noch angetan.“

 

Auch in der Literatur fand sich keine Fundstelle für eine lebenslange Liebe. Anders war es mit der vergänglichen Liebe. Dafür gab es großartige Beispiele. Fides und ich waren sehr berührt von den Romanen von Erich Maria Remarque. Den Roman „Arc de Triomphe“, lasen wir uns gegenseitig vor, auf Parkbänken oder in der Friedrich-Herschel-Straße.

In dem Roman rettet der staatenlose Arzt Ravic die verzweifelte Joan, in einer kalten Nacht, vor dem Sprung in die Seine. Im Folgenden verliebt sich Ravic, der von einem Mord der Gestapo an seiner Frau, bei dem er zuschauen musste, traumatisiert ist, in die labile Joan. Als Ravic ausgewiesen wird und nach zwei Monaten zurückkommt, lebt Joan mit einem anderen Mann zusammen.

Eines nachts besucht sie ihn. Er ist abweisend, aber sie verführt ihn. Sie geht noch in der gleichen Nacht, ohne sich zu erklären und lässt Ravic im Ungewissen. Später ruft sie an und lädt Ravic in ihre Wohnung ein. Sie empfängt ihn stolz. Es ist offensichtlich, dass sie mit einem Mann zusammenlebt. Sie erzählt, dass ihr Freund öfter verreisen müsse, und bittet darum, dass Ravic versteht, dass sie möchte, dass er an diesen Tagen zu ihr kommt. Es kommt zu folgendem Dialog zwischen den beiden:

Ravic: „Alles was ich verstehe, ist, dass Du mit zwei Männern schlafen willst“.

Joan: „Es ist nicht so. Aber selbst, wenn es so wäre, was geht es Dich an?“

Und noch einmal Joan, nachdem Ravic sie angestarrt hat: „Was geht es Dich wirklich an? Ich liebe Dich. Ist das nicht genug?“

Dieser Dialog wühlte uns beide auf. Wir identifizierten uns mit den unterschiedlichen Protagonisten. Es entstand eine Spannung zwischen uns, die so heftig war, dass wir nur sehr langsam weiterlesen konnten und immer wieder unterbrechen mussten, weil wir zu bewegt waren, um weiterzulesen.

Die Polygamie führt in dem Roman in die Katastrophe. Ein eifersüchtiger Liebhaber, er ist nicht eifersüchtig auf Ravic, denn Joan hatte noch einen weiteren Liebhaber, verletzt sie so sehr, dass Ravic Joan seine Liebe nur mehr mit Sterbehilfe zeigen kann.

Mich berührte die Verzweiflung und die Reue, in die Ravic fällt, als Joan stirbt. Joan bat Ravic kurz vor ihrem Tod, um Schutz vor ihrem eifersüchtigen Liebhaber. Ravic verweigerte ihr diesen Schutz als er herausfand, dass es noch einen weiteren Liebhaber gab.

Die Gewalt, die überall auf der Welt, von Männern gegen Frauen, aus Eifersucht und Besitzdenken ausgeübt wird und in manchen Ländern sogar durch Gesetz und Religion, ausdrücklich erlaubt wird, erfüllte Fides mit Zorn gegen uns Männer. Sie fand es unter diesen Umständen schwer verständlich, dass Frauen immer noch Männer lieben können.

Wir verstanden beide, dass es gefährlich war zu lieben und dass die Gefahr groß war, an der Liebe zugrunde zu gehen, oder die Liebe für immer zu verlieren. Oft brauchte ich nach einem solchen Gespräch den Trost ihrer Küsse, um die schwarzen Gedanken, ohne sie leben zu müssen, zu vertreiben.

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