Demenz in der Lebensmitte

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1963 Über die Liebe Teil 1

Mit meinem Freund Hans Schuster, er ist ein paar Jahre älter und studiert Germanistik und Englisch, diskutiere ich nächtelang über das Rätsel Weib. Wir machen nur sehr geringe Fortschritte in der Erkenntnis über dieses Phänomen. Hans hat noch weniger praktische Erfahrung hinsichtlich unseres Untersuchungsgegenstandes als ich, hat aber ein breites literarisches und philosophisches Wissen zu diesem Thema. Neben dem Rätsel Weib diskutieren wir auch über das Rätsel Liebe. Hier eine Auswahl der Zitate die Hans gerne anführt:

Schopenhauer:

„Liebe ist Objektwahl, wobei nicht das Individuum im Vordergrund steht, sondern die Spezies. Also eine übergeordnete, über den individuellen Rahmen hinausgreifende Instanz. Es geht um die Zusammensetzung der neuen Generation.“

Ortega y Gasset:

„Liebe ist eine Form des Strebens, eine Begierde, sie ist eine ewige Unbefriedigtheit, ein Strömen aus Seelenmaterie, ein Fluss, der ohne Unterbrechung wie aus einer Quelle hervorsprudelt, erotisches Gefühl regt sich in uns nur beim Anblick von etwas, was uns als Vollkommenheit gilt. Individualität zu zweit. Liebe ist ihrem eigenen Wesen nach Wahl. Und da sie aus dem Kern der Person, aus der Seelentiefe aufsteigt, sind die Auswahlprinzipien, die über sie entscheiden, zugleich die innersten und geheimsten Wertungen, die unseren individuellen Charakter formen.“

In einem Aufsatz von Keyserling mit dem Titel „Über die Liebe“, den Hans mir zum Lesen gibt, steht:

„Wie wir nichts sehen können, das einem Menschenantlitz im Entferntesten ähnlich ist, ohne auch einen Ausdruck zu sehen, so können wir nicht den Körper begehren, ohne auch das Seelische, von dem er durchtränkt ist, dessen Regungen er in jedem Augenblick ausdrückt, zu begehren.“

Ein Autor, der Hans und mich sehr aufwühlt, ist Jerzy Andrzejewski mit seinem Buch „Die Pforten des Paradieses“. Er schreibt:

„Wenn der andere Mensch nur ein Geheimnis ist, ist es schwer, ihn lieb zu gewinnen, aber wenn nichts Geheimnisvolles in ihm ist, kann man ihn ebenfalls nicht lieben, denn die Liebe ist ein Suchen und Entdecken, sehnsuchtsvolles Streben und Unruhe, Eile und Warten.“

Solche Texte öffnen mir das Verständnis für die Wechselwirkung von Körper und Geist in der Liebe. Ich bin bewegt von der körperlichen Schönheit von Fides. Gleichzeitig bin ich auch berührt von der Skepsis, der Klarheit und Ehrlichkeit ihrer Gefühle. Sie wird nie ihre Gefühle verdrängen oder mich über ihre Gefühle täuschen, sondern immer zu ihren Gefühlen stehen. Und da ist noch etwas. Es wird mir nie gelingen, sie vollständig zu erobern. Sie wird immer ihre Unabhängigkeit wahren.

Weiter schreibt Andrzejewski:

„Du kannst mit mir tun, was du willst, wiederholte ich, was immer du tust, es wird mir lieb sein, und es geschah, und als es schon geschehen war, war ich nicht glücklich, sondern nur von einer mir bisher unbekannten Lust gesättigt und voll Sehnen, sie wieder zu empfinden, aber ich fühlte mich nicht glücklich, denn schon damals verstand ich, dass er mich nicht liebte, sondern nur meinen Körper begehrte. Die Liebe ist nur ein Knäuel unerfüllbarer Wünsche, die Liebe gibt nur Leiden, die dunkle Lust dagegen entsteht und dauert inmitten Verachtung und Hass. Sie ist jener seltsame und einzigartige Zustand von Wunsch und Begehren, von reinem und finsterem Begehren. Die Liebe ist Anruf und Suche, sie ist eroberungssüchtig, aber jegliche Befriedigung ihres Verlangens tötet sie.“

Mir wird schmerzlich bewusst, dass es die eine wahre Liebe nicht gibt. Die Liebe hat tausend Schattierungen und es gibt auch die dunkle Seite: die Lust einen anderen Menschen zu besitzen, ohne ihn zu lieben.

Die Liebe macht Hans und mir Angst, und wir überlegen, ob es einen Weg gibt, der Liebe aus dem Weg zu gehen und nur die Befriedigung bei Frauen zu suchen, die wir nicht lieben. Für Hans scheint das ein gangbarer Weg. Mir scheint eine Lust an einem Körper nicht möglich, ohne die Person, die in dem Körper steckt, zu lieben.

An einer anderen Stelle bei Andrzejewski, sagt ein Mädchen zu einem jungen Hirten: „Wenn Du es einmal mit mir machst, willst Du es jede Nacht haben.“

Bei mir ist genau dieser Zustand eingetreten. Ich sehne mich nach dem Körper von Fides und der Lust, die er mir gibt. Wir besitzen keine gemeinsame Wohnung, wohnen an verschiedenen Orten. Es gibt ein Liebesnest, das ist aber kein sicherer Ort.

Diese Sehnsucht quält mich nicht nur nachts, sondern auch tagsüber, besonders häufig während der Schulstunden. Wenn es mir gelingt, Fides in unser Liebesnest zu lotsen, hält die Befriedigung nur kurz an. Meist ist die Sehnsucht zurück, bevor wir uns trennen müssen.

Dazu kommt, dass ich ihr keine Lust schenken kann. Sie gab meinem Drängen mit mir zu schlafen nach, weil sie wissen wollte, was es mit der körperlichen Lust auf sich hat.

Das Ergebnis muss für sie enttäuschend sein. Sie kann Lust schenken, aber sie kann keine Lust empfangen. Sie schläft mit mir, weil sie meine Liebesqual spürt und mich von dieser Qual befreien will. Sie ist in ihrer lustlosen Hingabe sehr zärtlich. Ich denke, sie genießt es, Lust zu schenken. Das steht aber in keinem Verhältnis zu der Wonne, die ich beim Eindringen in ihren Körper empfinde. Es ist eine Welle, die mich in ein Gefilde schleudert, von dessen Existenz ich bisher nichts wusste. Einem Gefilde, das zu betreten ich süchtig geworden bin.

Manchmal denke ich, dass es an mir liegt, dass sie keine Lust empfinden kann und dass ein männlicherer, erfahrenerer Mann, ihr Lust schenken könnte. Die Vorstellung, dass sie bei einem anderen Mann die Lust findet, die ich ihr nicht geben kann, quält mich in vielen Nächten.

Dass in manchen Ländern die Frauen ganz oder teilweise verschleiert werden, kann ich verstehen. Es nimmt den Männern dort die Angst, ihre Frauen zu verlieren oder sie mit anderen Männern teilen zu müssen. Diese Angst muss unter Männern sehr verbreitet sein. Es ist ihnen gelungen, die Religionen zu benutzen, um sich von ihrer Angst zu befreien. Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und die Erziehung der Frauen zur Scham findet in nahezu allen Religionen statt. Sie ist in den muslimisch geprägten Religionen am krassesten, in den christlichen Religionen etwas weniger augenfällig, aber deshalb nicht weniger barbarisch. Allen Religionen gemeinsam ist, dass sie von Männern erfunden wurden und dazu benutzt werden, Männern die Angst vor der weiblichen Sexualität zunehmen.

Verstörend ist die Praxis in afrikanischen Ländern die weiblichen Genitalien zu verstümmeln, damit die Frauen keine Lust mehr empfinden können. Eine verstümmelte Frau findet leichter einen Ehemann.

In der Theorie bin ich natürlich für die freie Liebe. Feste Zweierbeziehungen gelten als zerstörerisch für die wahre Liebe. In Bezug auf meine Freundin habe ich aber das dumpfe „Frau gehört mir Gefühl“. Ich bin sicher, nie eine andere Frau lieben zu können. Ihr Verlust würde mein Leben zerstören.

Fides ist überzeugt, dass nur eine offene Beziehung, in der es beiden Partnern erlaubt ist, auch mit anderen Partnern zu schlafen, zu einer dauerhaften Liebe führt.

Ich fürchte, wenn sie mit einem anderen Mann schläft, gibt es nichts, was ich ihr nicht antun könnte. Vielleicht nicht im wirklichen Leben, aber ganz sicher in der Fantasie.

Ich könnte sie demütigen.

Ich könnte gegen ihren Willen mit ihr schlafen.

Ich könnte sie schlagen.

Nur verlassen könnte ich sie nicht.

Für einen Liebenden existieren tausend Arten, verletzt und gequält zu sein. Je heftiger und ausschließlicher er seine Geliebte liebt, umso schmerzlicher werden seine Leiden sein, und umso mehr kommt die dunkle Seite der Liebe, die Besitzgier und der Drang, seine untreue Geliebte zu bestrafen, zum Vorschein. Hans und ich kommen zu dem Schluss, dass ein Liebender nahe am Abgrund steht.

Bei unseren Café-Besuchen und Spaziergängen berichte ich Fides über den jeweiligen Stand der Erkenntnisse zum Thema Liebe und Sexualität. Sie belächelt unsere Gespräche und ich schmolle dann, weil sie unsere Gespräche nicht ernst nimmt. Sie zweifelt, dass aus theoretischen Abhandlungen brauchbare Erkenntnisse für das Verstehen der Liebe ableitbar sind. Dass wir Männer uns vor der Liebe fürchten, amüsiert sie. Sie versichert mir, es wäre sinnlos, Angst vor der Liebe zu haben oder nach Verhaltensweisen zu suchen, die die Liebe weniger schmerzhaft machen.

Sie sagt: „Wir sind der Liebe ausgeliefert. Sie kommt und geht, wie es ihr passt. Wir können sie nicht herbeireden, und wir können sie nicht aufhalten, wenn sie geht. Sie ist unser Schicksal. Sie ist nicht von Dauer, aber sie ist das Beste, was es gibt. Denk an Steiner.“

Steiner ist der Held in einem Roman von Remarque, mit dem Titel „Liebe deinen Nächsten“, den wir gemeinsam lesen. Er muss vor den Nazis fliehen und seine Frau in Deutschland zurücklassen. Im Exil erfährt er, dass seine Frau im Sterben liegt. Er kehrt nach Deutschland zurück und verbringt die letzten Tage mit seiner Frau. Er wird am Krankenbett seiner Frau von der Gestapo verhaftet und kann sich durch einen Sprung aus dem Fenster im fünften Stock des Krankenhauses vor den Folterungen durch die Gestapo retten.

Ein Mann verbringt die letzten Tage mit seiner schon vom Tod gezeichneten Frau und nimmt dafür in Kauf, von der Gestapo gefoltert und getötet zu werden. Wir sind sehr gerührt beim Lesen dieser Stelle. Fides las und muss mehrmals unterbrechen und sich die Tränen abwischen.

Dass Liebe sich in Hass verwandeln kann. Dass Eifersucht bis zum Mord an der Geliebten oder deren Liebhaber führen kann. Dass es Lust machen kann, die Geliebte zu demütigen und zu verletzen. Dass Liebe die Gier auslöst, die Geliebte alleine zu besitzen. Dass es Neid ist, die Geliebte mit Niemandem teilen zu wollen. All das ist abscheulich, dennoch ist die Liebe das Großartigste, was es im menschlichen Leben gibt.

 

Unsere Treffen laufen nach einem fast unveränderten Schema ab. Zu Beginn berichte ich, emotional bewegt, von literarischen und philosophischen Erfahrungen, die ich seit unserem letzten Treffen machte. Fides hört eher uninteressiert zu. Mein Elan stirbt ab. Ich beginne zu schmollen. Sie lenkt unser Gespräch auf praktische Dinge, die für das Abitur hilfreich sein könnten. Etwas widerwillig folge ich ihr. An den Abenden schmusen wir zum Abschluss an den leeren Ständen des Viktualienmarkts oder gehen in die Friedrich-Herschel-Straße.

Es gibt nur ein philosophisches Thema, das ihr ungeteiltes Interesse findet und über das wir immer wieder kontrovers diskutieren: das ist das Scheitern der Liebe.

Ich bin hinsichtlich der Liebe Optimist, ich glaube daran, dass es die Liebe gibt und dass sie auch von Dauer sein kann. Meine Freundin ist eher skeptisch und hält die Liebe für ein flüchtiges Ding. Sie zitiert gerne einen Ausspruch von La Rochefoucauld: „Mit der Liebe ist es wie mit den Gespenstern. Alle reden davon, aber keiner hat sie je gesehen.“

Dass sie so skeptisch über die Liebe denkt, macht mir Angst. Die Vorstellung, dass unsere Liebe flüchtig sein könnte, quält mich.

Es ist jetzt nicht mehr nur ihre Schönheit und ihre Zärtlichkeit, die mich berührt. Es ist auch die Lust, die sie mir im Liebesakt schenkt. Diese Lust umhüllt mich noch Tage lang. Ich lebe dann auf einer rosigen Wolke und finde das Leben herrlich. Sie ist zärtlich in der Liebe, aber sie bleibt immer am Boden. Meine Höhenflüge beobachtet sie wohlwollend, schreibt sie aber meinem Temperament und meiner Unerfahrenheit zu. Manchmal macht sie sich auch lustig über meinen Überschwang an Gefühlen.

Hinsichtlich der Liebe war eine der Lieblingsthesen meines Vaters ein Zitat von Schopenhauer: „Liebe ist der Lebenswille des zukünftigen Geschlechts.“ Seit Fides mit mir schläft, zweifle ich, dass mein Vater recht hatte. Zu großartig ist das Gefühl, das ich dabei empfinde. Es kann nicht nur zum Zwecke der Fortpflanzung entstanden sein.

Aus unseren Diskussionen zum Thema Liebe geht sie immer als Sieger hervor. Meine Argumentation steht auf schwachen Beinen. Ich plädiere für die dauerhafte Liebe, weil ich fühle, dass meine Liebe zu ihr von Dauer ist. Sie argumentiert immer mit praktischen Beispielen. Sie fragt: „Wie war das bei Deinen Eltern? War das eine dauerhafte Liebe?“

Im Fall meiner Eltern muss ich klein beigeben. Das war keine dauerhafte Liebe. Mein Vater war ein gutaussehender, sportlicher Mann. Lange Zeit hatte er eine Freundin, mit der er nahezu jedes Wochenende zum Bergsteigen ins Gebirge fuhr. Die Freundin war Buchhändlerin in der Kleinstadt, in der wir lebten. Ihr Laden und die Kanzlei meines Vaters waren am Marktplatz. Meine Großeltern hatten am selben Marktplatz eine Bäckerei mit einem Café. Meine Großmutter war eine große stattliche Frau. Sie lauerte die eher zierlichen Buchhändlerin auf und ohrfeigte sie. Mein Vater tobte daraufhin und verlangte von meiner Großmutter, dass sie sich entschuldigt. Ich glaube nicht, dass meine Großmutter das getan hat.

Mein Vater hatte nie versucht, seine Liaison geheim zu halten. Er forderte meine Mutter auf, sich auch einen Liebhaber zu nehmen.

Mein Vater schlief auch mit unserem Dienstmädchen. Meine Mutter hatte das entdeckt, weil sie in der Unterhose meines Vaters Blutspuren fand und wusste, dass das Dienstmädchen ihre Periode hatte. Der Beischlaf mit dem Dienstmädchen fand im Keller statt. Mein Vater pflegte am Morgen zum Schuheputzen den Keller aufzusuchen.

Als ich zwölf Jahre alt war, durfte ich an einem Wochenende mit ins Gebirge. Mein Vater nahm auch seine Freundin mit. Es war nicht mehr die Buchhändlerin, die hatte sich von ihm getrennt und war weggezogen, nachdem er sich nicht scheiden lassen wollte. Ganz selbstverständlich musste ich auf der Hütte im Lager schlafen, während mein Vater und seine Freundin ein Doppelzimmer bezogen.

Meine Mutter rächte sich für seine Seitensprünge, indem sie ihm ihre Liebe dauerhaft entzog.

Meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters viele Jahre lang eine Liebesaffäre mit dem Mann ihrer besten Freundin. Die wiederum hatte eine leidenschaftliche Affäre mit einem sehr viel jüngeren katholischen Priester.

Fides findet im Verhalten meines Vaters nur die Dienstmädchen-Geschichte abstoßend. Seine Ehrlichkeit hinsichtlich seiner Freundinnen und seine Bereitschaft meiner Mutter das gleiche Recht auf eine Affäre einzuräumen, findet sie in Ordnung. Nicht in Ordnung findet sie das Verhalten meiner Mutter. Über meine Mutter sagt sie: „Deine Mutter trägt die Schuld, dass die Liebe in der Ehe Deiner Eltern dauerhaft verloren ging. Sie hat nicht um die Liebe Deines Vaters gekämpft. Sie hat ihn nicht geliebt, sie bestrafte ihn, weil er ihren Besitzansprüchen nicht entsprach.“

Ich sehe das anders. Mein Vater hatte meine Mutter durch seine Untreue so sehr verletzt, dass sie den Glauben an seine Liebe verlor. Gerade ihre tiefe Liebe zu ihm war die Ursache, dass sie so sehr verletzt war. Sie wollte keine Affäre mit einem anderen Mann, sie wollte seine Liebe. Ihre Liebe verwandelte sich aus Enttäuschung in Kälte.

„Genau diese Kälte trieb Deinen Vater in immer neue Affären“, kontert Fides. Sie ist aufgebracht und hat rote Backen, als sie das sagt.

Ich verteidige, ebenfalls aufgeregt, meine Mutter als große Liebende und bezichtige meinen Vater der Leichtlebigkeit.

Fides tritt weiter für meinen Vater ein.

„In der wahren Liebe geht es nicht um Besitz, sondern um Zuwendung und Ehrlichkeit. Dein Vater empfand so, als er Deine Mutter aufforderte, sich auch einen Liebhaber zu nehmen. Deine Mutter verstand das nicht. Sie wollte Deinen Vater besitzen. Seine Gefühle waren ihr gleichgültig.“

Wir waren jetzt beide wütend und starrten uns über den Café-Tisch hinweg böse an.

Für mich war immer klar, dass mein Vater mit seinen ständigen Frauengeschichten Schuld hatte, dass die Ehe meiner Eltern so kalt und lieblos geworden war.

Ich erinnere mich an eine Szene aus meiner Kindheit.

Meine Mutter überhäufte beim Essen meinen Vater mit Vorwürfen. Mein Vater hörte ruhig zu und aß weiter. Dieses Verhalten provozierte meine Mutter. Sie sprang auf, schlug die Tür zum Esszimmer zu und rannte in die Küche. Mein Vater aß ruhig zu Ende. Er sprach kein Wort zu uns Kindern. Wir waren vor Angst erstarrt. Er stand auf und ging zu meiner Mutter in die Küche. Zwischen Küche und Esszimmer ist eine Durchreiche. Sie stand offen. Wir konnten die Worte unseres Vaters deutlich verstehen.

„Führ Dich nie mehr vor den Kindern so auf!“ Nach diesen Worten verließ mein Vater das Haus. Meine Mutter schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein und wir hörten sie schluchzen. Zuerst war es ein wütendes Schluchzen, dann ging es in ein Wimmern über. Ich erzähle Fides diese Szene.

„Vielleicht ist Deine Mutter nur eine ungebildete Frau“, sagte sie mit einem bösen Glitzern in ihren Augen. Ich bin nahe daran, den Café-Tisch umzuwerfen. Statt das zu tun, springe ich auf und renne aus dem Café. Auf der Straße setze ich mich an den Rand des Gehsteigs zur Straße zwischen zwei Autos. Nach einiger Zeit kommt Fides, sie hat bezahlt. Sie hält mir ihre Hand hin. Ich nehme sie nicht, stehe aber auf und gehe mit ihr. Noch einmal reicht sie mir ihre Hand. Diesmal nehme ich sie. Wir sprechen nicht mehr über meine Eltern.

Auch die Ehe der Eltern von Fides ist kalt und lieblos. Kurz nach Kriegsende eröffnet die Mutter eine Praxis für Allgemeinmedizin in der Sendlinger Straße in München. Sie hat zu diesem Zeitpunkt zwei Kleinkinder und einen studierenden Mann.

Sie ist die dominierende Person in der Familie. Sie regiert die Familie mit harter Hand. Sie ist ehrgeizig und gefühllos. Mann und Töchter müssen so funktionieren, wie sie es sich vorstellt. Bei Abweichung reagiert sie kalt und gnadenlos. Als ich den Vater kennenlerne, ist er durch jahrelange Unterdrückung seiner Gefühle mürrisch und verschlossen geworden. Mitunter bricht aber sein Jähzorn durch und richtet sich dann auch gegen seine Töchter.

Von Liebe ist zwischen Pélagia und Theo nichts zu spüren. Die Ehe ihrer Eltern ist für sie ein Schreckgespenst. Nach ihrer Vorstellung ist die Liebe bei der Mutter bald in Besitzdenken umgeschlagen. Sie hat nicht das Bedürfnis, geliebt zu werden. Sie will ihre Herrschsucht ausleben. Sie machte ihren Mann, unter Ausnutzung ihrer Schläue und Skrupellosigkeit und seiner Naivität, zu einem Vasallen, der zu gehorchen hat. Alles natürlich unter dem Anspruch, das Beste für die Familie zu wollen. Sie macht für die lieblose Ehe ihrer Eltern allein ihre Mutter verantwortlich. Sie lehnt ihre Mutter ab und leidet mit ihrem Vater. Als Kind kämpfte sie um die Zuneigung des spröden Theo. Ohne Erfolg. Theo kann seine Gefühle nicht zeigen. Bei Tisch hatte Theo immer eine Rute in einer Tischspalte liegen. Wenn eines der Kinder nicht ordentlich aß, schlug er dem Kind mit der Rute auf die Hand. Er schlug an Tagen, an denen er schlecht gelaunt war, auch fest zu. Meine Großmutter mütterlicherseits war ein Beispiel für eine große und lebenslange Liebe. Sie war 21 Jahre alt, als sie von meinem 17-jährigen Großvater geschwängert wurde. Fides ließ aber diese Liebe nicht gelten, weil es eine einseitige Liebe war. Mein Großvater war ein Frauenheld und betrog die Großmutter, auch noch im fortgeschrittenen Alter. Das bekam ich sogar als sein Enkel noch mit. Er fuhr regelmäßig von unserer Kleinstadt ins Inntal nach Brannenburg. Dort baute er als Alterssitz ein Geschäftshaus. Auf diese Fahrten nahm er mich öfter mit. Unterwegs hielten wir immer bei einer Käserei. Dort gab es ein Käsefräulein. Ich bekam von ihr ein Stück Käse und wurde dann losgeschickt, mich im Dorf umzusehen. Dass die beiden ein Liebespaar waren, verstand ich erst viel später. Als meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters, heiratete, kam sie in die wohlhabende Familie eines Pferdehändlers. Mein Urgroßvater hatte für den Krieg gegen Frankreich 70/71 Pferde für die bayrische Armee geliefert und war dadurch reich geworden. In der Währungsreform verlor mein Großvater, bis auf einen kleinen Rest, das Familienvermögen. Meine Großmutter bestrafte ihn dafür für den Rest seines Lebens. Einige Jahre hatte er eine Liebesbeziehung zur Tochter seines Geschäftspartners. Als Großmutter das herausfand, ging sie zu seinem Geschäftspartner und berichtete ihm von der Beziehung. Großvater beendete daraufhin seine Affäre. Als er wegen einer Krebserkrankung Selbstmord beging, sagt sie: „Jetzt hat er mir das auch noch angetan.“ Auch in der Literatur finden sich keine Fundstellen für eine lebenslange Liebe. Anders ist es mit der vergänglichen Liebe. Dafür gibt es großartige Beispiele. Wir sind beide sehr berührt von den Romanen von Erich Maria Remarque. Den Roman „Arc de Triomphe“, lesen wir uns gegenseitig vor, auf Parkbänken oder in der Friedrich-Herschel-Straße. In dem Roman rettet der staatenlose Arzt Ravic die verzweifelte Joan, in einer kalten Nacht, vor dem Sprung in die Seine. Im Folgenden verliebt sich Ravic, der von einem Mord der Gestapo an seiner Frau, bei dem er zuschauen musste, traumatisiert ist, in die labile Joan. Als Ravic ausgewiesen wird und nach zwei Monaten zurückkommt, lebt Joan mit einem anderen Mann zusammen. Eines Nachts besucht sie ihn. Er ist abweisend, aber sie verführt ihn. Sie geht noch in der gleichen Nacht, ohne sich zu erklären und lässt Ravic im Ungewissen. Später ruft sie an und lädt Ravic in ihre Wohnung ein. Sie empfängt ihn stolz. Es ist offensichtlich, dass sie mit einem Mann zusammenlebt. Sie erzählt, dass ihr Freund öfter verreisen müsse, und bittet darum, dass Ravic versteht, dass sie möchte, dass er an diesen Tagen zu ihr kommt. Es kommt zu folgendem Dialog zwischen den beiden: Ravic: „Alles was ich verstehe, ist, dass Du mit zwei Männern schlafen willst.“ Joan: „Es ist nicht so. Aber selbst, wenn es so wäre, was geht es Dich an?“ Und noch einmal Joan, nachdem Ravic sie angestarrt hat: „Was geht es Dich wirklich an? Ich liebe Dich. Ist das nicht genug?“ Dieser Dialog wühlt uns beide auf. Wir identifizieren uns mit den unterschiedlichen Protagonisten. Es entsteht eine Spannung zwischen uns, die so heftig ist, dass wir nur sehr langsam weiterlesen können und immer wieder unterbrechen müssen, weil wir zu bewegt sind, um weiterzulesen. Die Polygamie von Joan führt in dem Roman in die Katastrophe. Ein eifersüchtiger Liebhaber - er ist nicht eifersüchtig auf Ravic, denn Joan hatte noch einen weiteren Liebhaber - verletzt Joan so schwer, dass Ravic seine Liebe nur mehr zeigen kann, indem er ihr hilft zu sterben. Mich berührt die Verzweiflung und die Reue, in die Ravic fällt, als Joan stirbt. Joan bat Ravic, kurz vor ihrem Tod, um Schutz vor ihrem eifersüchtigen Liebhaber. Ravic verweigert ihr diesen Schutz, als er herausfindet, dass es noch einen weiteren Liebhaber gibt. Die Gewalt, die überall auf der Welt, von Männern gegen Frauen, aus Eifersucht und Besitzdenken ausgeübt wird und in manchen Ländern sogar durch Gesetz und Religion ausdrücklich erlaubt wird, erfüllt Fides mit Zorn gegen uns Männer. Sie findet es unter diesen Umständen schwer verständlich, dass Frauen immer noch Männer lieben können. Wir verstehen beide, dass es gefährlich ist zu lieben und dass die Gefahr groß ist, an der Liebe zugrunde zu gehen, oder die Liebe für immer zu verlieren. Oft brauche ich nach einem solchen Gespräch den Trost ihrer Küsse, um die schwarzen Gedanken, ohne sie leben zu müssen, zu vertreiben.

 
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