Demenz in der Lebensmitte

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2009 Leben mit der Krankheit

Als Fides nach der Behandlung in der Psychiatrie wieder nach Hause kommt, ist ihr Gesicht nicht mehr leer und gefühllos. Sie empfindet Dankbarkeit für Zuwendung.

Ich unterdrückte jahrelang meine Gefühle. Ich bin beruflich und privat gescheitert. Unsere Töchter lösten sich von der Familie. Meine Frau war jahrelang ekelhaft und bösartig.

Ich nehme die Veränderung war, aber sie finden keinen Eingang in mein Gefühlsleben. Ich habe keines. Ich bin eine Maschine, die unter äußerster Anstrengung versucht, wieder wirtschaftlich auf die Beine zu kommen.

Zweimal in der Woche kommt zu meiner Frau eine Ergotherapeutin. Beim ersten Mal finde ich sie nett, beim zweiten Mal noch ein bisschen netter, und so weiter.

Sie hat dichte, dunkle und lockige Haare, breite Augenbrauen, eine Nase mit einem winzigen Grübchen auf der Nasenoberseite, einen zarten Busen und schlanke, schön proportionierte Beine.

Ich spreche sie mit ihrem Vornamen, Valerie, an und sieze sie natürlich.

Sie steht in der Mitte und ich am Ende des Lebens.

Uns trennt ein Altersunterschied von dreißig Jahren.

Valerie ließ den Autoschlüssel stecken und sperrte sich aus. Wir fahren zusammen zu ihrer Firma, um den Ersatzschlüssel zu holen. Beim Abschied erklärt sie mir, ich hätte jetzt etwas gut bei ihr. Ich lade sie ein, mit mir auszugehen.

Valerie kommt aus einer Kleinstadt in Unterfranken. Sie lebt erst seit kurzer Zeit in München und hat noch keinen Freundeskreis.

Wir gehen zusammen aus. Wir machen unter der Woche ein Picknick in einem Park in der Nähe ihrer Wohnung. Sie nimmt mich anschließend mit nach Hause. Ich ziehe sie auf meinen Schoß und küsse sie. Ich darf die Nacht bei ihr bleiben.

Am Morgen, beim Verlassen ihrer Wohnung, begegnen wir einem Hausbewohner. Valerie schämt sich für ihren alten Liebhaber.

Die folgenden Wochenenden kommt Valerie am Freitagabend zu mir und bleibt bis Montagmorgen.

Sie kommt direkt von der Arbeit und parkt in der Nähe meines Büros. Valerie ist immer ein wenig scheu, wenn wir uns nach einer Woche erstmals wiedersehen. Wir umarmen uns nicht. Sie lächelt mir befangen zu, wenn sie bei mir einsteigt. Ich greife immer nach ihrer Hand und drücke sie fest und halte sie noch eine Weile. Ihr Anblick berührt mich. Ich mag ihre Zurückhaltung und freue mich darauf, dass unsere Vertrautheit wieder wächst.

Sie erzählt, was sie die Woche über bewegt hat.

Valerie macht Hausbesuche bei überwiegend dementen Patienten. Manchmal gelingt es ihr, Patienten aus ihrer Lethargie zu holen.

Eine Patientin, die beim ersten Besuch abweisend und apathisch ist, ist nach einigen Wochen herzlich und lebhaft. Valerie glüht dann vor Begeisterung und findet sich großartig.

Diese schönen Erfahrungen sind selten.

Viel öfter sind ihre Bemühungen ohne Erfolg. Die grausamen Lebensumstände ihrer Patienten und die Unmöglichkeit, ihnen zu helfen, legen sich wie ein Schatten auf Valeries Seele.

Freitagnacht schlafen wir nie miteinander. Valerie muss erst die Schatten vertreiben, die auf ihrer Seele liegen.

Alle Wochenenden des Sommers verbrachten wir gemeinsam. Nur einmal fährt Valerie zu ihrem Vater.

In der körperlichen Liebe ist sie unerfahren und ungeduldig. Es gibt da noch viel zu entdecken für sie.

Wir gehen viel aus. Kinos, Restaurants, Museen. Große Freude machen mir unsere Picknicks im Englischen Garten oder an der Isar. Am Wochenende haben wir immer ein volles Programm. Ich plane unsere Wochenenden immer sorgfältig. Schon die Vorbereitung der Wochenenden bereitet mir Freude.

Wenn am Freitagabend Valerie ankommt und ich sie zum ersten Mal wiedersehe, wechsle ich in eine andere Welt. Alle Nöte und Ängste sind wie weggewischt und ich betrete eine Erde, in der alle Sehnsüchte gestillt sind.

Dieses Gefühl hält an, bis ich sie wieder am Montagmorgen an ihrem Auto abliefere.

Das Wohlgefühl, das mir Valerie schenkt, wirkt sich auch auf den Umgang mit meiner Frau aus. Ich gehe fröhlicher und geduldiger mit ihr um. Ihre Krankheit deprimiert mich weniger.

Im Spätherbst besuche ich mit Valerie das Museum der Fantasie am Starnberger See. Zu Mittag essen wir in der Herbstsonne vor dem Museum.

Wir sitzen etwas exponiert inmitten von Familien und Paaren.

Valerie geniert sich bei diesem Mittagessen für mich.

Ich bin in eine Frau verliebt, die sich in der Öffentlichkeit für mich schämt.

Fünfzehn Jahre lang konnte ich – von zwei kurzen Affären abgesehen – keine Gefühle für eine Frau entwickeln. Das Gefühl, eine Frau mit allen Sinnen zu lieben, vermisste ich sehr. Die Leidenschaft für meine Frau hielt fast dreißig Jahre an, bis zum Ausbruch ihrer Krankheit und noch einige Zeit darüber hinaus. Die Hoffnung, dieses Gefühl noch einmal zu erleben, hatte ich schon aufgegeben. Nun ist es wieder da.

Mit Valerie zusammen zu sein, ist wie das Betreten einer anderen, freundlicheren Erde. Ich mag ihre Ehrlichkeit und ihre Verletzlichkeit. Ich will sie beschützen. Ich wünsche mir, dass sie das Leben schön findet. Ich möchte jeden Tag neben ihr aufwachen.

Nahezu zeitgleich mit dem Ausbruch der Krankheit von Fides, begannen für mich beruflich schwierige Jahre. Einige Jahre war ich sehr nahe am Abgrund. Als der Absturz in Form des Konkurses erfolgte, lag meine Welt in Scherben.

Meine Frau war gehässig und unberechenbar. Meine halbwüchsigen Töchter waren durch die Krankheit der Mutter und den Konkurs des Vaters verunsichert. Ein Berg von Schulden lastete auf mir. Ich war ohne Einkommen.

In diesen Jahren ging es ums Überleben. Gefühle konnte ich mir nicht leisten. Ich war eine Maschine, die ständig auf vollen Touren im roten Bereich lief. Meine Gefühle für andere Menschen, sogar die für meine Kinder, waren abgestorben.

Zu zwei engen Freunden aus meiner Kindheit brach ich den Kontakt ab.

Als Valerie das erste Mal kommt, liegt mein Neuanfang schon einige Zeit zurück. Mir ist es gelungen, mit einer Software für Handwerker wieder Fuß zu fassen. Mein Gefühlsleben blieb aber vereist.

Valerie bringt meine Freude am Leben zurück. Bergtouren mit ihr machen mir riesigen Spaß. Einmal geraten wir in einen Starkregen und sind vollständig durchnässt. Ich finde den Regen herrlich.

Ich weiß, dass Valerie meine Gefühle nicht erwidert. Für sie bin ich ein alter Mann und nur eine Verlegenheitslösung. Sie hätte sich nie mit mir angefreundet, wenn sie nicht zu Beginn ihrer Tätigkeit in München so vereinsamt gewesen wäre. Valerie ist in einer Kleinstadt mit strengen Regeln aufgewachsen. Für sie ist die Beziehung zu einem sehr viel älteren Mann eine Schande. Dies verringert meine Gefühle für sie nicht. Ich liebe sie.

Ich fühle wieder. Valerie hat mir wieder ein Gefühlsleben gegeben.

Ich vermied es jahrelang, meiner Frau ins Gesicht zu schauen. Es war ein leeres, gefühlloses Gesicht. Seltsam war, dass ihr Gesicht trotz der Leere eine merkwürdige Selbstsicherheit ausstrahlte. Es war ein dummes Gesicht, das sich bei geringsten Anlässen in ein wütendes Gesicht verwandeln konnte.

Vor ihrer Krankheit war ihr Gesicht, für fast dreißig Jahre, der Ort all meiner Sehnsüchte.

Ich fürchtete, diese Erinnerung an die Schönheit und Zärtlichkeit meiner Frau zu verlieren und vermied es deshalb, sie anzusehen. Sie hatte sich sehr weit von der Frau entfernt, die ich einmal geliebt habe.

Sie ist 65 als sie als Pflegefall aus der Psychiatrie nach Hause kommt. Ihr Körper ist von einem dicken Bauch entstellt. So einen Bauch hatte sie zuletzt, als sie schwanger war.

Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, sehe ich sie an. In ihrem Gesicht erkenne ich jetzt zumindest eine Verwandtschaft mit dem das ich einmal geliebt habe. Es ist ein anderes Gesicht, aber es ist das meiner Frau.

Mit der Zeit gewöhne ich mich wieder an ihr Gesicht. Ich finde manchmal Spuren, die an die gefühlvolle Ausdrucksweise in früheren Zeiten erinnern.

Ich kann ihr jetzt wieder ins Gesicht schauen, ohne fürchten zu müssen, meine Erinnerungen zu verlieren.

Nach einem Jahr beendet Valerie ihre Beziehung mit mir.

Mein Gefühlsleben bleibt aber erhalten. Ich vereise nicht wieder. Ich kann mich an schönen Dingen freuen, auch wenn die Anlässe jetzt seltener sind.

Fides bekommt sehr starke Medikamente, die ihre Gesichtszüge verwischen. Es braucht starke Impulse, dass sich Gefühle darin spiegeln.

Die Ankunft ihrer Enkelin ist so ein Impuls.

Ich liebte das Gesicht meiner Frau in der Zeit, als unsere Kinder klein waren, am meisten. Es strahlte damals vor Glück. Sie hatte in der Liebe zu ihren Töchtern eine innere Ruhe und eine Befreiung von allen Ängsten gefunden.

Kurz nach der Ankunft der Enkelin, bei einem Besuch der Töchter, wird ihr Gesicht weich. Es ist so, als ob sie einen Umhang abwirft. Ihr Gesicht wird durchsichtig. Etwas, das in ihr verborgen ist, stülpt sich nach außen. Ihr Gesicht zeigt Sehnsucht beim Anblick der Enkelin. Es ist aber auch mit Scham vermischt. Ihre aufgebrochenen Gefühle zeigen jetzt in ihr Inneres. Sie schämt sich vor der Enkelin für ihre Gebrechlichkeit. Immer wieder versucht sie aufzustehen und sich der Enkelin zu nähern. Ihre Versuche werden immer entdeckt und sie wird in ihren Stuhl zurückgeschubst. Der Stuhl wird nach solchen Versuchen nah an den Tisch gezogen, sie ist dann darin eingesperrt.

Das Gefühl der Scham, das sie in dieser Situation empfindet, geht mir unter die Haut. Sie hatte zwanzig Jahre lang in keiner Situation, auch wenn sie krass war, Scham empfunden. Sie ist wieder eine sensible Frau geworden.

Sie hat einen Bauch, einen Hängebusen und die faltige und fleckige Haut eines Menschen Mitte sechzig, (die habe ich natürlich auch), ist inkontinent und kann selbständig weder aufstehen noch gehen. Sie braucht eine Pflegerin, aber ihr Gesicht ist nicht mehr leer. Ich kann wieder darin lesen. Was ich lese, ist oft Scham, manchmal aber auch Freude. Sie freut sich am Morgen, wenn ich komme. Es ist immer ein verstecktes Lächeln, aber es ist ein Lächeln.

 

Manchmal kommt ein Lächeln zustande, das ich gut kenne: „Mir geht es gut, Du bist da.“ Es ist ein Lächeln aus den dreißig guten Jahren.

Ich habe keine ärztliche Behandlung gebraucht, um aus einer Vereisung zu erwachen. Eine kurze sommerliche Liebe hat genügt.

Ich erinnere mich wieder an die Zärtlichkeit und Lust, die sie mir dreißig Jahre lang geschenkt hat. Es macht mir nichts aus, ihre Windeln zu wechseln. Ich bin geduldig, wenn sie nicht ansprechbar ist. Ich säubere sie, ohne allzu großem Ekel, wenn sie eingekotet hat.

Mir geht es gut, wenn ich sehe, wie sie sich freut, wenn ich sie zum Kochen in die Küche hole und ihr kleine Leckerbissen zuschiebe.

Ich leide jetzt wieder mit ihr. Sie ist nur wenige Stunden am Tag ansprechbar. Schon am Morgen, gleich nach dem Frühstück, ist sie erschöpft und sinkt dann in ihrem Stuhl zusammen. Sie stiert vor sich hin, aber ihr Gesicht ist jetzt nicht mehr leer. Ich sehe, dass es sie quält, so zusammengesunken am Tisch zu sitzen. Es ist das Gesicht eines gequälten Menschen.

Zweimal am Tag bekommt sie ein Antidepressivum. Dieses Medikament ist sehr wirksam und hat den Effekt, dass sie ihren Zustand meist nicht wahrnimmt. Manchmal aber scheinen die Medikamente nicht zu wirken. Ihr Gesicht gefriert dann zu einer Maske furchtbarer Traurigkeit.

In diesem Gesicht ist nur der Wunsch, diese quälende Traurigkeit zu beenden, gerne auch mit dem Tod.

Der Anblick eines Gesichts, das sich den Tod wünscht, ist unerträglich, es löst einen Schmerz aus, der sich in die Seele einbrennt und der immer wieder kommt, auch wenn kein direkter Anlass vorliegt.

Heute ist meine Frau bei einer Spazierfahrt mit ihrer Pflegerin aus dem Rollstuhl gekippt und mit dem Gesicht am Boden aufgeschlagen. Als ich sie aus dem Krankenhaus abhole, liegt sie mit nacktem Oberkörper und wundem Gesicht im Gang der Notaufnahme. „Ich möchte von niemand mehr gesehen werden, lass mich nicht hier liegen“, sagt sie als ich bei ihr ankomme. Mehrmals wiederholt sie diesen Satz. Unter einer großen Gefühlsregung kann sie wieder sprechen.

Alle zwei Stunden verlasse ich mein Arbeitszimmer und schaue nach meiner Frau. Am Vormittag schläft sie meist. Am Nachmittag sitzt sie vor dem Fernseher.

Wenn sie schläft, setze ich mich zu ihr auf das Bett, streichle ihren Rücken und ihre Haare. Manchmal bekomme ich dann wieder dieses Lächeln. Sie öffnet dabei nicht ihre Augen.

Als ich einmal nach ihr schaue, während sie fernsieht, schaut sie mich an und sagt: „Schön, dass Du nach mir schaust.“ Ich bin sehr bewegt. Einen so langen Satz hat Sie seit Monaten nicht gesprochen.

Diese Krankheit ist verrückt, manchmal kommt eine Phase der Besserung. Für ein paar Tage schafft sie es dann, ganze Sätze zu sprechen. Auch das Gehen fällt ihr dann leichter.

Leider sind diese Erholungsphasen immer nur vorübergehend. Ich falle aber immer wieder darauf herein.

Ein- oder zweimal im Monat gehen wir in ein kleines italienisches Restaurant am Ostbahnhof. Wir lassen dann immer den Rollstuhl zu Hause. Ich parke meinen Smart auf dem Bürgersteig und führe meine Frau am Arm die paar Schritte ins Restaurant.

Chef und einziger Mitarbeiter dort ist Alessandro. Alessandro ist ein schöner junger Mann aus Kalabrien. Ich nehme regen Anteil an seinem Liebesleben. Da läuft nicht alles glatt. Er hat zu viele Bräute.

Beim Essen muss Fides häufig nießen. Alles was sie im Mund hat, wird dann durch die Gegend geprustet. Alessandro wischt dann immer geduldig den Tisch ab und klopft ihr aufmunternd auf die Schulter.

Einmal trifft es den Nachbarn.

Das Publikum bei Alessandro ist aber Kummer gewöhnt und erträgt auch widrige Umstände mit Gelassenheit. Ich spendiere dem Nachbarn einen Grappa und er stößt mit uns an.

Alessandro spendiert uns zum Abschluss immer einen Espresso. Ich revanchiere mich mit einem guten Trinkgeld.

Manchmal bewegt sie etwas und sie versucht zu sprechen. Es kommen aber nur einzelne, unzusammenhängende Worte. Sie gibt immer schnell auf.

Oft erzähle ich ihr, auch aus Mangel an einem anderen Gesprächspartner, was mich bewegt. Ich kann dabei nicht erkennen, ob sie meinen Ausführungen folgen kann. Mein Eindruck ist, dass sie es nicht kann. Nur Geschichten, die ich mit viel Emotionen erzähle, kann sie folgen. Bei diesen Geschichten ist sie ganz wach.

Es sind Geschichten über das doofe Mäxchen.

Wenn mir etwas Lustiges oder Peinliches widerfährt, schmücke ich es aus und erzähle es ihr.

Eine dieser Geschichten geht so:

Ich hatte mich endlich zu einer operativen Verkleinerung meiner Prostata durchgerungen und liege im Krankenhaus. Ich bin umgeben von Halbtoten und ziehe, in der Hand einen Beutel, in den mein Urin abfließt, durch die Krankenhausgänge, weil ich es im Bett nicht aushalte. Mein Nachthemd steht hinten offen. Es hat hinten eine Schleife, mit der man es tugendhaft verschließen kann. Ich komme aber an diese Schleife nicht dran.

Bei meinem ersten Ausflug bat ich eine Pflegerin auf dem Gang, mir die Schleife zu binden. Sie war aber in Eile und raunte nur verschwörerisch: „Bei uns ist immer Vollmond.“

Dann kam mir ein dunkelhäutiger Araber entgegen. Dessen Nachthemd stand hinten ebenfalls weit offen und gab einen ansehnlichen, behaarten Hintern frei.

Ich habe den Ausspruch der Schwester so verstanden, dass in dieser Abteilung (Urologie) nackte Hintern als unauffällig betrachtet werden. Nach einigen Wanderungen vergaß ich, dass mein nackter Hintern herausschaut. Ich wurde immer kühner und strolchte im ganzen Krankenhaus mit nacktem Hintern herum, den Urinbeutel in der Hand.

Das ging solange gut, bis mich eine mütterliche Pflegerin mit hochrotem Kopf stoppte und zur Rede stellt: „Bei Ihnen schaut ja der Hintern raus.“

Ich antwortete: „Ich weiß, aber mir wurde gesagt, hier ist immer Vollmond.“

Sie ist so freundlich, mir die Schleife zu binden und stürmt kopfschüttelnd weiter.

Ich erzählte diese Geschichte mehrfach.

Fides muss über diese Geschichte jedes Mal so lachen, dass sie Tränen in den Augen hat.

Ihre Freude an Peinlichkeiten bezieht sich auch auf andere Familienmitglieder.

Unsere Tochter Maya lief bei einem Marathon mit. Ich schob Fides im Rollstuhl an die Strecke, damit wir unsere Tochter anfeuern konnten.

Wir standen in der Ludwigstraße. Eine Straße vor unserem Standplatz wurden die Läufer in eine Seitenstraße abgeleitet und nach einer längeren Schleife, kurz vor uns, wieder in die Ludwigstraße eingeleitet.

Wir sahen unsere Tochter und feuerten sie an. Sie lief im Mittelfeld.

Nachdem sie vorbei war, schob ich Fides die Ludwigstraße zurück. Aufgrund der Ableitung waren jetzt auf der Ludwigstraße nur mehr einige Nachzügler unterwegs. Die meisten machten nicht den Eindruck, als ob sie noch ankommen würden.

Mit zufriedener Miene sagt sie: „Die Maya ist die Letzte.“

Ich erkläre ihr das mit der Ableitung. Sie blieb dabei: „Die Maya ist die Letzte.“ Entgegen ihrer geringen Fähigkeit, ganze Sätze zu sprechen, kann sie diesen Satz sogar mehrfach sprechen.

Eine andere Geschichte, die bei meiner Frau geradezu Entzücken auslöst, ist die folgende:

Ich war, wie jeden Werktag um 6 Uhr morgens mit dem Fahrrad unterwegs von meiner Wohnung in der Innenstadt zu meinem Arbeitsplatz in ihrer Wohnung. In Anbetracht des niedrigen Verkehrsaufkommens um diese Zeit, pflege ich rote Ampeln nicht zu beachten und verlasse mich auf meine konzentrierte Aufmerksamkeit. Kurz vor der Isarbrücke überquerte ich eine leere Kreuzung bei Rot und fuhr zügig über die Isarbrücke. Plötzlich sehe ich von hinten Blaulicht näherkommen. Mit etwas ungutem Gefühl trete ich in die Pedale, den Montgelas Berg hinauf, in der Erwartung, dass das Blaulicht nicht mir gilt. Das Blaulicht kommt näher, jetzt ertönt auch kurz die Polizeisirene. Parallel zu mir fährt eine Funkstreife. Ein taffer, junger Polizist spricht in ein Mikrofon: „Bitte anhalten, Polizei.“ Verschüchtert steige ich vom Rad, gemächlich steigt der junge Polizist aus und kommt mit federnden Schritten auf mich zu. Mir scheint, er hält eine Hand nahe an seiner Pistole. Das Blaulicht bleibt eingeschaltet und taucht das trübe Morgenlicht in ein unwirkliches Licht.

Mein verschüchtertes Absteigen vom Rad und mein Strammstehen vor dem Polizisten ist es, was sie so entzückt.

Es erscheint mir merkwürdig, dass sie sich so intensiv an peinlichen Situationen oder Misserfolgen ihrer Familie erfreuen kann. Zuerst schrieb ich es einem Rest fehlender Empathie zu.

Als ich im Radio einem Kabarettisten zuhöre, der seine Misserfolge bei den Frauen vor seinem Publikum ausbreitet und damit schallendes Gelächter auslöst, wird mir klar, dass das Erzählen von Misserfolgen bei anderen Menschen Fröhlichkeit auslöst und dass das nichts mit fehlender Empathie zu tun hat, sondern eine zutiefst menschliche Gefühlsregung ist, die keineswegs schändlich ist, solange der Misserfolg ohne bleibenden Schaden abläuft.

Bei einigem Nachdenken wird mir klar, dass jemand, der so tief gesunken ist, der nicht mehr alleine die Toilette aufsuchen kann, sich in einer so ausweglosen Situation befindet, es als tröstend empfindet, wenn nahestehende Personen auch Peinlichkeiten und Fehlschläge erleiden. Erfolg und Glück sind etwas, das in ihrem Leben nicht mehr vorkommt. Sie versteht es nicht mehr und kann sich auch nicht mehr am Erfolg oder Glück anderer erfreuen.

Fides ist inzwischen eine Stufe tiefer gerutscht.

Als ich gestern vor dem Pflegedienst komme, liegt sie am Boden. Sie ist durchnässt und unterkühlt. Eine Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst ist nicht mehr möglich. Sie kann jetzt nachts nicht mehr allein sein.

Über meine Tochter bekomme ich die Adresse einer rumänischen Bäuerin, die schon Erfahrung in der Krankenpflege in Italien hat. Sie heißt Flori. Als ich sie am Flughafen abhole und anspreche - ihre Tochter ist mit meiner Tochter befreundet und schickte mir ein Foto - geht sie einfach weiter. Erst als ich sie am Ärmel anfasse, bleibt sie stehen.

Flori ist empathisch und freundlich zu meiner Frau. Wenn sie rumänisch bäuerlich kocht, trägt sie immer eine blendend weiße Schürze. Meine Frau akzeptiert Flori. Ich mag sie auch.

Nach drei Monaten wird das Heimweh nach dem Marito, das ist ihr Ehemann, so groß, dass Flori heimfährt und uns eine Freundin schickt.

Sie heißt Rodika, ist rothaarig, korpulent und fröhlich. Rodika kommt noch besser als Flori mit meiner Frau zurecht. Ich brauche keine Windeln mehr wechseln, kann tagsüber ungestört arbeiten und meine Wochenenden allein verbringen. Nach drei Monaten ist Flori wieder da. Kurz bevor wieder ein Wechsel fällig ist, erklärt Flori, Rodika würde nicht mehr kommen, statt ihrer käme eine andere Freundin.

Ich bin misstrauisch und telefoniere mit Rodika. Sie sagt: „Flori behauptet, ich bin in Deutschland nicht mehr erwünscht. Darum komme ich nicht mehr.“

Ich bitte Rodika zu kommen und stelle Flori zur Rede. Auf meinen Vorschlag, ihre Intrige einzugestehen, dann wäre alles vergessen, geht sie nicht ein. Sie bestreitet alles und reist ab, bevor Rodika eintrifft.

Rodika wechselt sich jetzt mit einer anderen Bäuerin ab. Sie heißt Valeria. Sie ist sehr fromm und ebenfalls empathisch. Sie pflegte mehrere Jahre lang ihren krebskranken Mann.

Mit Rodika spreche ich italienisch. Valeria spricht nur rumänisch. Wir verständigen uns mit Zeichen und dem Google-Übersetzer.

Schon seit vielen Jahren bin ich der Koch in der Familie. Das war schon so, als die Mädchen noch zu Hause waren und meine Frau weniger krank war. Kochen macht mir Spaß. An den Werktagen am Mittag und am Abend koche ich jetzt immer mit den Pflegerinnen, meist streng nach Anleitung aus einem Kochbuch, manchmal improvisieren wir. Wenn es Mittag wird, hole ich Fides ab und bringe sie in die Küche. Sie kann es immer kaum erwarten, dass es Mittag wird. Sie strahlt, wenn ich sie hole und streckt mir ihre Hände entgegen.

Sie ist immer hungrig und bekommt vorab schon etwas aus dem Kühlschrank.

Sie darf immer die Saucen abschmecken.

Manchmal kommt es vor, dass ich etwas vergesse und noch einmal kurz in die Küche gehe. Steht das Essen schon am Tisch, versucht sie stets, sich etwas zu nehmen. Aufgrund ihrer schlechten motorischen Fähigkeiten bleibt das aber meist bei einem Versuch. Sie kann nicht mehr selbständig essen. Sie weiß nicht mehr, wie man eine Gabel hält. Wir nehmen sie immer in die Mitte und helfen ihr abwechselnd. Zu Beginn der Mahlzeit, wenn wir ihr zeigten, wie man die Gabel hält, isst sie selbständig. Sie ermüdet aber schnell. Immer öfter hebt sie dann die Gabel, kann sie aber nicht mehr zum Mund führen und blickt Hilfe suchend um sich. Am Ende der Mahlzeit muss sie gefüttert werden.

 

Große Sorge bereiten den Pflegerinnen und mir ihre zunehmenden Probleme beim Schlucken.

Manchmal kann sie es nicht. Oft weiß sie auch nicht, ob sie schon geschluckt hat. Sie öffnet dann den Mund und die unzerkaute Speise läuft zusammen mit sehr viel Speichel aus ihrem Mund.

Vielleicht könnte ein Logopäde helfen. Ob aber ein Logopäde bei einem zerstörten Gehirn etwas ausrichten kann, scheint mir fraglich.

Mit meiner Frau zu Alessandro zum Essen zu gehen, traue ich mich nicht mehr.

Es gibt manchmal auch Erfahrungen mit Fides, die tröstlich sind und zeigen, dass ihr Verstand doch noch mehr leistet.

Bei der Rückkehr von der Physiotherapie schob die Pflegerin den Rollstuhl und ich ging neben ihr und hielt ihre Hand. Plötzlich drückte sie fest meine Hand und wies mit dem Kopf auf ein sympathisches Schauspiel, das ein etwa drei Jahre alter Junge bot. Er steht in einem Blumenbeet, in dem es auch ein kleines Bäumchen gibt. Seine Mamma zog ihn splitternackt aus. Er versucht, das Bäumchen anzupinkeln. Er zielt mit seinem winzigen Penis auf das Bäumchen. Das misslingt aber, er pinkelt sich auf die Füße. Er hält seinen Penis zu steil nach oben. Er stoppt und blickt fragend nach seiner Mamma. Die nickt ihm zu und er fährt fort, seine Füße anzupinkeln.

Diese Szene macht mir auch große Freude. Fides drückt noch einmal meine Hand und wendet mir ihr amüsiertes Gesicht zu.

Trotz der empathischen Bäuerinnen ist meine Frau manchmal aggressiv. Gestern sperrte sie Rodika auf dem Balkon aus, indem sie die Balkontür verriegelte. Anschließend fiel sie hin und konnte nicht mehr aufstehen. Rodika harrte, trotz winterlicher Temperaturen, stundenlang am Balkon aus. Um Mitternacht kam der Nachbar nach Hause und alarmierte die Feuerwehr.

Fides ist durchnässt und unterkühlt und wird ins Krankenhaus gebracht.

An manchen Tagen dauert es lange, bis sie mich am Morgen erkennt. Ich bekomme einen Vorgeschmack, was als Nächstes passieren wird.

Fides braucht einen neuen BH, den können wir nur in der Stadt kaufen. An einem leicht gewittrigen Nachmittag fahren Fides, Rodika und ich, mit dem Bus in die Stadt.

Ich sah mir vorher ein Video an, in dem gezeigt wird, wie man mit dem Rollstuhl in einem Bus mitfährt:

1. Gut sichtbar für den Busfahrer aufstellen.

2. Der Busfahrer senkt den Bus ab

3. Der Busfahrer steigt aus und zieht im Mittelteil eine Überfahrplatte auf

4. Der Rollstuhl kann über diese Platte in den Bus geschoben werden.

Das funktionierte genauso. Allerdings stellten sich beim Rollstuhl die Räder quer und wir kommen erst in den Bus, nachdem der Busfahrer mir signalisierte, den Rollstuhl vorne anzuheben.

Fides ist ein bisschen aufgeregt und auch ängstlich, als wir im Bus sind. Ich nehme eine Hand von ihr. Sie will dann, dass ich auch ihre zweite Hand halte. Ich kann mich jetzt nicht mehr festhalten und stehe etwas wacklig.

Auf der Fahrt steigen noch zwei Frauen mit Kinderwägen zu. Wir stehen jetzt sehr eng, mit zwei Kinderwagen, in der Mitte des Busses. Die Kinder beäugen neugierig die Rollstuhlfahrerin.

Zum Ausstieg müssen wir eine Klingel für den Busfahrer drücken.

Wir steigen an der Leopoldstraße aus. Es herrscht das übliche Getümmel. Gleich beim Aussteigen begegnet uns eine Altschwabingerin aus unserer Generation in einer Art Ballkleid. Mit High Heels und einem gewaltigen Strohhut mit bunten Bändern. Das Ballkleid ist im Stil der Sechziger Jahre und auch die Dame scheint aus dieser Epoche zu sein.

Fides beäugt die Dame, ist aber nicht überrascht über ihr Outfit. In unseren jungen Jahren waren Damen in diesem Outfit keine Besonderheit, allerdings hatten sie junge Gesichter.

Ich konnte an den Bewegungen ihres Kopfes sehen, dass sie die Passanten wahrnimmt. Die Aufregung der Busfahrt regte ihre Wahrnehmungsfähigkeit an. Sie ist jetzt nicht apathisch, sondern bewegt. Nach einiger Zeit halte ich an, knie vor ihr nieder und schaue in ihr Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck ist wach, aber ein bisschen melancholisch, so als ob sie wüsste, dass sie im Rollstuhl sitzt.

Ich frage sie: „Alles gut bei Dir?“ Sie nickt.

In einem Kaufhaus kaufen wir einen BH. Wir fragen sie, welche Farbe sie möchte. Sie kann nicht antworten, auch nicht, als wir noch ein T-Shirt kaufen. Ihrem Gesichtsausdruck ist anzusehen, dass von ihr etwas erwartet wird, sie versteht die Frage nicht oder kann einfach nicht sprechen oder nicken. Sie behilft sich mit einem verlegenen Lächeln.

Eine engagierte Verkäuferin bringt uns T-Shirts in der Größe von Fides. Als ich eines für sie auswähle, ist Rodika begeistert von diesem Shirt. Sie bekommt es und ich suche für Fides ein anderes aus.

Zurück auf der Leopoldstraße sage ich: „Wir gehen aber noch lange nicht nach Hause.“ Überraschend kann sie den ganzen Satz nachsprechen, wenn auch ein wenig mit Nuscheln. Ich stelle mich vor ihren Rollstuhl und bitte sie, den Satz noch einmal zu sprechen. Sie tut es, aber jetzt ist es nur noch ein Nuscheln.

Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt angeregt, nicht melancholisch, sondern ein wenig erwartungsvoll und sogar fröhlich.

Wir wandern die Leopoldstraße hinauf bis zum Siegestor und dann in den Englischen Garten zum Chinesischen Turm. Unterwegs besuchen wir noch meinen Freund, den Obsthändler Didi, der seinen Stand direkt an der Uni hat. Er begrüßt Fides mit einem fröhlichen Lachen, sie antwortet mit einem zurückhaltenden, aber dennoch bewegten Lächeln.

Unterwegs kommen wir noch an dem Gebäude des ehemaligen Lehrstuhls für Statistik vorbei. Wir halten an und ich frage sie, ob sie sich an die mündliche Prüfung erinnern kann, in der sie so kläglich versagt, aber dennoch eine passable Note bekam.

Ich schaue in ihr Gesicht. Sie erinnert sich lächelnd und ein bisschen geschmeichelt. Ich glaube, sie erinnert sich, dass sie einmal eine schöne Frau war.

Im Biergarten stellen wir Fides an einem Tisch ab und gehen, um Essen und Getränke zu holen. Als wir zurückkommen ist ihrem Gesicht anzusehen, dass sie jetzt nicht weiß, wo sie sich befindet. Inmitten der Menge hat sie den Kopf angehoben und starrt mit nach innen gewandten Augen ins Leere. Es ist laut im Biergarten, man unterhält sich, die Musik spielt. Sie bemerkt nichts davon.

Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist wie ein Vorhang, der meist zugezogen ist, sich aber unter günstigen Umständen kurzzeitig öffnet und dann ein Gesicht zeigt, in dem sich Empfindungen widerspiegeln.

Am Morgen, wenn ich ihre Wohnung betrete, erhalte ich fast immer ein Lächeln. Meist erwartet sie mich. Die Pflegerin sagte mir, sie würde immer auf das Geräusch warten, wenn ich die Wohnungstür aufsperre und sie wäre an den Wochenenden immer traurig, wenn niemand aufsperrt.

Wenn ich ihr Zimmer betrete, sitzt sie mit der Pflegerin beim Frühstück. Ich begrüße die beiden Damen immer mit dem rumänischen Morgengruß “Buona Dominiaza“. Ich darf immer mit meiner Frau alleine frühstücken, die Pflegerin steht auf und geht, wenn ich komme. Ich beuge mich zu meiner Frau und lege meinen Kopf kurz auf ihren. Wenn ich mich hinsetze, kann ich sehen, dass sie lächelt. Sie schaut mich dabei nicht an. Sie lächelt nur so vor sich hin. Es ist ein zufriedenes Lächeln.

Die Wochenenden verbringe ich im Gebirge oder auf Radtouren, immer öfter auch schreibend.

Nach einem Wochenende freue ich mich immer auf ein Lächeln meiner Frau.