Tanz in die Angst

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6

Am darauffolgenden Tag wurde Sophie endlich entlassen. Ihre Großmutter Erika holte sie aus dem Krankenhaus ab und brachte sie vorerst zu ihrem Vater. Zwar konnte sie auch sein Mitleid nur schwer ertragen, aber es war bei Weitem das kleinere Übel. Eines, das sie zumindest schon kannte. Sosehr sie ihre eigene Wohnung liebte, sosehr sie auch allein sein wollte – der Gedanke, dort ihren Nachbarn zu begegnen, war für sie unerträglich. Auch wenn inzwischen natürlich jeder wusste, was los war – das Haus hatte in jener Nacht nur so von Polizisten gewimmelt.

Zurück zum Anfang, zurück nach Hause, dachte sie, während sie und Erika Hand in Hand durch die Auffahrt zur Haustür gingen. Sie steckte den Schlüssel, den sie für Notfälle immer an ihrem Bund hatte, ins Schloss und betrat ihre Zuflucht.

Keiner der beiden Frauen war der dunkle Wagen aufgefallen, der schon seit Stunden vor dem Haus gewartet hatte. Ein Zündschlüssel wurde gedreht und er fuhr langsam davon.

»Ich habe dir Pancakes gemacht«, rief ihr Vater, als Sophie die Küche betrat, einen ausladenden und hellen Raum im Landhausstil. Sonnenlicht schien durch das Sprossenfenster über der Spüle, dahinter lag der große Garten des Hauses.

Peter war auch früher schon kein guter Koch gewesen, Erika hatte sich darum gekümmert, nachdem ihre Mutter gestorben war. Doch wenn er etwas konnte, dann Sophies Lieblingsgericht: Pancakes mit Zimt und Zucker. Der Duft hatte Sophie bereits empfangen, als sie durch die Tür gekommen war. Stolz auf sein Werk, grinste Peter sie inmitten mehlbestäubter Küchengeräte und schmutziger Schüsseln an.

»Du bist der Beste, Papa!«

»Da gebe ich dir recht, mein Schatz, es kann gleich losgehen.«

Der Nachmittag mit ihrer Familie war gemütlich und tat Sophie gut. Sie aßen gemeinsam und sahen sich »Der König der Löwen« an – ein kleines Stück Leben, in das sie zurückkehrte. Nach dem Essen verabschiedete sie sich in die Küche. »Ich mache den Abwasch, bleibt ihr nur sitzen.«

Geschirrspülen war für sie immer schon mehr Entspannung als Arbeit gewesen. Sie stand an der großen Spüle und betrachtete den Garten, über den sich langsam die Dämmerung senkte. Er war rundherum mit Rosensträuchern in allen Farben gesäumt. Natürlich blühten um diese Jahreszeit kaum noch welche – es war September und der Herbst senkte sich langsam über die Stadt. Ihr Vater ließ den Garten alle paar Monate von einer Gärtnerei auf Vordermann bringen – er selbst war beruflich bedingt so selten zu Hause, dass eher die Nachbarn etwas von dem Anblick hatten. Er tat das, weil Sophies Mutter Rosen so geliebt hatte. Auch wenn er nicht oft von ihr sprach und Sophie mittlerweile keinen Zweifel daran hatte, dass sie in der Nacht ihres Todes vor achtundzwanzig Jahren weggefahren war, um ihn zu verlassen: Seine Liebe zu Rosen stand für die Liebe zu seiner Frau. Nach all den Jahren.

Sie haben mich getötet, Mucha …

Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Warum hatte sie das geträumt, ausgerechnet das? Niemand hatte je davon gesprochen, dass ihre Mutter getötet worden war. Es war ein Autounfall gewesen, richtig? Regen, ein Baum – keine Mutter mehr. So einfach.

Oder doch nicht?

Sie schob den Gedanken beiseite und nahm den nächsten Teller in die Hand.

Mucha.

Ihr Blick ging zurück zu den Büschen. War da etwas gewesen?

Sie löschte das Licht, damit sie den Garten besser erkennen konnte. Direkt gegenüber dem Küchenfenster befand sich eine klaffende Lücke inmitten eines der Sträucher.

Merkwürdig – normalerweise konnte sie von hier aus direkt auf die Terrasse ihrer Nachbarn blicken. Wie oft hatte sie ihnen schon zugewunken, wenn sie draußen gesessen hatten. Doch heute erkannte sie nur einen dunklen Schatten. Das passte nicht zusammen, etwas stimmte nicht.

Plötzlich bewegte sich der Schatten und die Aussicht auf die Terrasse war wieder frei.

Ein Stechen durchdrang Sophies Brust. Wie angewurzelt stand sie vor der Spüle und starrte nach draußen. Sie sah zu, wie sich der Schatten tiefer in den Garten der Nachbarn bewegte, bis er vollkommen vom Dickicht der Hecken verschluckt wurde.

»Der Typ war im Garten der Nachbarn und hat unser Haus beobachtet«, schnauzte Peter Finke die beiden Polizisten an, die eine halbe Stunde später in seinem Wohnzimmer standen.

Sophie saß zusammengekauert auf dem Sofa und fühlte sich, als würde sie nie wieder in der Lage sein, davon aufzustehen. Als würde sie sich nie wieder einem Fenster nähern oder das Haus verlassen können.

Die Polizisten hatten ein gönnerhaftes »Das haben wir schon hundertmal erlebt«-Lächeln aufgesetzt und sagten Dinge wie: »Völlig verständlich, dass Ihre Tochter so kurz nach dem Überfall noch glaubt, überall den Täter zu erkennen.« Oder: »Wir erleben oft, dass Opfer manche Geschehnisse und Eindrücke nach der Tat stark überinterpretieren.«

»Der Kerl läuft noch frei herum! Wenn er wusste, wo meine Tochter wohnt, war es doch kein Hexenwerk, herauszufinden, wo mein Haus ist. Ist doch klar, dass sie nach so einem schlimmen Erlebnis fürs Erste wieder zurück zu ihrer Familie geht. Ich will, dass dieses Haus überwacht wird!« Peter war außer sich vor Wut – so gelassen und bestimmt er sonst auch war, so sehr konnte er aufbrausen, wenn es um seine Tochter ging. Doch bevor sich die Wut, die sich in ihm aufgestaut hatte, vollends entladen konnte, klingelte es an der Tür.

»Guten Abend, ich bin Kommissar Markus Brandner.«

Der Mann, der fünfzehn Sekunden später die Runde im Wohnzimmer der Finkes erweiterte, machte einen ganz anderen Eindruck als die beiden ersten Beamten. Er trug keine Uniform, sondern eine dunkelgraue Windjacke, eine ausgebeulte Stoffhose und nagelneue weiße Nikes. Stil gehörte offensichtlich nicht zu seinen Stärken, Mitgefühl dafür schon. Es stellte sich heraus, dass er Beamter der Kripo und erst gestern aus dem Urlaub zurückgekommen war.

Wie viele große Kriminalfälle beginnen wohl mit einem Polizisten, der die ersten Ermittlungstage verpasst, weil er im Urlaub war, fragte sich Sophie.

Unweigerlich stellte sie sich vor, wie Markus Brandner mit dunklem Dreitagebart auf Mallorca am Strand gesessen und Mojitos mit seiner Frau getrunken hatte, während sie in ihrem Keller verprügelt und vergewaltigt worden war.

Doch Brandner wirkte ehrlich betroffen. Er nahm die beiden Streifenbeamten zur Seite, ein paar leise, aber merklich scharfe Worte fielen und das Duo machte sich auf den Weg in den Garten.

»Die Kollegen sehen sich draußen um, auch drüben bei den Nachbarn. Vielleicht haben wir Glück und finden eine Spur, außerdem habe ich auf dem Weg hierher schon eine Fahndung rausgegeben. Alle Einsatzwagen im Umkreis suchen nach dem Kerl, dessen Beschreibung Sie uns vor drei Tagen gegeben haben.«

Na super, dachte Sophie. Ihre Hoffnungen schwanden immer mehr. Sie wusste, dass ihre Täterbeschreibung fast wertlos war: groß, sehr kräftig gebaut, ungepflegt und der Stimme nach eher mittleren Alters. Kein Akzent, kein erkennbarer Dialekt. Clownsmaske. Damit kam für die Fahndung so gut wie jeder zweite Kerl aus dieser Stadt infrage.

Sophie las in Brandners Blick, dass er das Gleiche dachte.

»Glauben Sie bitte nicht, dass wir die Sache nicht ernst nehmen. Die Kollegen haben sich da vielleicht ein bisschen … unpassend ausgedrückt. Das tut mir wirklich leid. Hören Sie, ich kenne die Details natürlich schon aus den Akten, aber es würde mir sehr helfen, die Geschichte noch mal von Ihnen selbst zu hören, Frau Finke.« Er steckte sich einen Kaugummi in den Mund und hörte sich aufmerksam an, was Sophie ihm erzählte.

Es fiel ihr schwer, all das noch einmal zu wiederholen. Sie gab sich Mühe, so schnell und sachlich wie möglich zu sprechen, und war froh, dass Brandner nur wenige Nachfragen stellte.

»Es kann durchaus sein, dass der Täter noch einmal versucht, Ihnen nahe zu kommen«, folgerte er schließlich. »Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass er Sie wieder angreifen will. Er kann davon ausgehen, dass Sie in nächster Zeit nicht allein sein werden und ein weiterer Angriff ihn leicht überführen könnte. Allerdings kommt es leider immer wieder vor, dass Täter ihre Opfer nach so einer Tat beobachten. Sie genießen, was sie ihrer Meinung nach erreicht haben. Angst und Machtgefühle spielen da eine große Rolle.« Er machte eine Pause, dann blickte er Sophie direkt an. »Er will möglicherweise wissen, wie Sie und Ihr Leben sich durch ihn verändert haben. Bei vielen Tätern hält dieses Verhalten das Hochgefühl, das die Vergewaltigung ausgelöst hat, noch etwas länger aufrecht.«

Sophie wurde schlecht bei dem Gedanken, dass der Mann sie nach wie vor benutzen könnte – sich auch auf eine nicht körperliche Art an ihr verging, die sie noch viel weniger kontrollieren konnte.

Erika baute sich vor Brandner auf. »Und was tut die Polizei dagegen? Ich meine, außer den Garten meines Sohnes zu durchwühlen und ein paar Polizeiwagen ziellos durch die Gegend fahren zu lassen? Nachdem erst noch ein zweites Mal etwas passieren musste? Wir haben seit drei Tagen nichts von Ihren Kollegen gehört, junger Mann, seit drei Tagen! Wie konnte dieser Verbrecher überhaupt wissen, wo meine Enkelin heute Abend ist?«

»Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie aufgebracht sind. Dass er heute hier war – wenn er es denn war und nicht eben ein Trittbrettfahrer –, zeigt, dass er Informationen über Sophie haben muss. Das wäre ein gezieltes Handeln. Ist Ihnen in den letzten Tagen jemand in der Gegend aufgefallen oder haben Sie den Nachbarn erzählt, dass Sophie herkommen würde? Ich frage, weil es möglich wäre, dass der Täter das Haus beschattet hat – es ergibt ja durchaus Sinn, dass Frau Finke nach dem Überfall wieder zurück zu ihrem Vater zieht. Unser Mann könnte damit gerechnet und hier auf sie gewartet haben. Genauso gut kann er aber auch vor dem Krankenhaus Position bezogen haben, um zu sehen, wohin sie gehen würde. Kann jemand ihr auf dem Weg vom Krankenhaus hierher gefolgt sein?«

 

Erika leckte sich die Lippen, das tat sie immer, wenn sie nachdachte. »Ich habe mit niemandem aus der Straße über Sophie gesprochen, das geht keinen etwas an. Und ich habe sie selbst vom Krankenhaus abgeholt. Dabei habe ich keinen Verfolger bemerkt.«

Auch Peter und Sophie war nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

»Okay, danke, ich weiß, dass es schwer ist, über all diese Sachen zu sprechen. Wir werden noch Ihre Nachbarn und das Personal in der Klinik befragen, vielleicht haben wir ja Glück und jemand hat den Kerl gesehen.« Brandner holte einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche, schrieb etwas auf, das Sophie nicht lesen konnte, und steckte den Block wieder ein.

Erneut schaute er sie an. Diesmal trafen sich ihre Blicke. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, wie jung Markus Brandner war. Der Bart und seine dunklen Augenringe hatten ihn älter wirken lassen. Ein moderneres Outfit hätte sehr wahrscheinlich auch dazu beigetragen, sein Alter richtig zu schätzen. Er konnte höchstens fünfunddreißig sein.

»Ich muss mich dafür entschuldigen, dass sich bisher keiner meiner Kollegen so richtig um Sie gekümmert hat. Natürlich laufen die Ermittlungen auf Hochtouren – das öffentliche Interesse über die sozialen Medien wird Ihnen ja sicher auch nicht entgangen sein. Ich werde ab sofort eine Zivilstreife vor Ihrem Haus postieren, zumindest erst mal für eine Woche. Sie müssen keine Angst haben, wir passen jetzt auf Sie auf.« Er griff in seine Tasche und legte eine Visitenkarte vor Sophie auf den Tisch. »Falls Sie planen, das Haus zu verlassen, rufen Sie mich bitte an.«

Brandners Kollegen verabschiedeten sich kurze Zeit später. Ihre Spurensuche hatte vorerst nichts ergeben, außer ein Kaugummipapier der Marke Big Red, das auf dem Rasen gelegen hatte.

Nachdem Brandner zwei Beamte zur Bewachung angefordert hatte, bat er darum, in Peters Arbeitszimmer noch ein paar Telefonate führen zu dürfen. Gegen einundzwanzig Uhr, als die Beamten endlich vor dem Haus postiert waren, verabschiedete er sich.

»Und denken Sie daran – meine Kollegen sind in Zivil unterwegs. Schenken Sie ihnen also keine Beachtung. Sollte Ihnen etwas verdächtig vorkommen, rufen Sie mich an. Sie erreichen mich rund um die Uhr.«

Sophie lag die ganze Nacht wach. In ihrem Kopf dröhnten so viele Gedanken, dass sie glaubte, nie wieder zur Ruhe kommen zu können. Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, war noch irgendwo in ihrer Nähe. Die Vorstellung machte sie krank. Und sie warf eine Frage auf, die sie sich kaum zu denken traute: Würde er es wieder tun?

Sie schlief erst ein, als draußen schon die ersten Vögel zu hören waren. Und sie träumte von einer Stimme, die sie Mucha nannte.

7

Als sie aufwachte, zeigte ihr Handy neun Uhr morgens an. Sie quälte sich aus dem Bett und verschwand im Bad. Ihr Vater schlief vermutlich und Erika war noch in der Nacht heimgefahren, ihr Haus befand sich nur wenige Straßen entfernt.

Nachdem sie ihre Zähne geputzt hatte, schlich sie leise nach unten in die Küche. Sie hatte höllische Kopfschmerzen. Eine Aspirin und eine Tasse Kaffee würden ihr guttun. Und vor allem brauchte sie Ruhe.

Wie sich allerdings herausstellte, sollte ihr dieser Wunsch nicht erfüllt werden.

Schon vom Flur aus konnte sie den schwarzen Stoff und die zarte Spitze ausmachen. Der BH und das schmale Höschen lagen perfekt drapiert mitten auf dem Küchentisch. Fast wie ein verruchtes Geschenk, mit dem ein Mann seine Ehefrau zum Valentinstag überrascht. Nur dass es Sophies eigene Unterwäsche war. Sie hatte sie gestern Nachmittag selbst in einem Koffer in das Zimmer getragen, aus dem sie vor zehn Minuten gekommen war. Wie war das möglich?

Neben der Wäsche lagen eine einzelne Rose und ein Zettel.

»Das sollst du beim nächsten Mal für mich tragen, kleine Ballerina. Ich liebe dich«.

Panisch scannte Sophie jeden Winkel der Küche. War er noch hier? Sie blickte den Flur entlang. Niemand war da.

So schnell sie konnte, rannte sie nach oben. Jede Sekunde erwartete sie, ein Kichern zu hören. Das Plastikgrinsen des Clowns zu sehen, der hinter der nächsten Ecke auf sie wartete.

Mit pochenden Schläfen erreichte sie das Schlafzimmer und weckte ihren Vater.

»Was für dämliche Idioten arbeiten denn eigentlich auf Ihrem Revier?«, brüllte Peter Finke eine Dreiviertelstunde später mit rotem Kopf.

Sophie stand in einer Ecke der Küche, während ihr Vater Markus Brandner lauthals beschimpfte. Zuvor hatten er und die beiden Zivilpolizisten das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Sophie sah Brandner an, dass ihm klar war, dass er die Sache verbockt hatte. Genau genommen seine Kollegen, die gestern Abend im Garten übersehen hatten, dass die Tür zur Garage aufgebrochen worden war. Doch er hatte die Verantwortung gehabt.

»Ein Stück Kaugummipapier als Beweis nehmen Ihre Kollegen mit«, fuhr Peter fort, »aber sie kommen nicht auf die Idee, die Garagentür auf Einbruchspuren zu kontrollieren? Und die Typen, die vor unserem Haus Wache halten sollen, merken nicht, dass der Kerl nachts einfach wieder zurückkommt und Unterwäsche in meiner Küche verteilt?«

Sophie starrte fassungslos auf die Sachen auf dem Tisch. Erst nach und nach realisierte sie, was der Vorfall bedeutete. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, der Typ musste die Wäsche also schon vorher aus ihrem Zimmer gestohlen haben. Er musste im Haus gewesen sein, kurz bevor sie ihn im Garten gesehen hatte. Während sie seelenruhig mit ihrer Familie im Wohnzimmer gesessen und ferngesehen hatte.

Sie hatten es ihm so leicht gemacht, dachte sie angeekelt: Die einzige Hürde, die er hatte überwinden müssen, war eine simple Garagentür in einem Garten, der ringsherum von Hecken und Sträuchern abgeschirmt war. Es gab keine Alarmanlage, kein Sicherheitsschloss – nichts. Über den hinteren Teil des Hauses hatte er unbemerkt ins Obergeschoss schleichen können, während das Wohnzimmer vorn eine Ewigkeit entfernt war. Das Haus war groß genug, um einem Einbrecher gar nicht erst über den Weg laufen zu müssen. Dann hatte er nur noch das einzige Schlafzimmer finden müssen, in dem ein Koffer und Frauensachen lagen. Ein Kinderspiel, wenn man sich vorher nur ein wenig damit beschäftigte. Und dann war er in der Nacht zurückgekommen.

»Herr Finke, es tut mir unglaublich leid. Die Kollegen haben Fehler gemacht und das ist absolut inakzeptabel. Ich werde mich sofort darum kümmern, dass ab morgen neue Leute vor der Tür stehen.«

Sophie hatte den Eindruck, dass Markus Brandner aufrichtig betroffen war. Sie hatte schon mit vielen Menschen zusammengearbeitet und wusste, wie jemand aussah, der ein Projekt perfekt abliefern wollte. Brandner war so jemand. Sein wacher Blick und der ständig angespannte Kiefer verrieten es ihr. Die beiden unfähigen Polizisten würden zwar nicht ihren Job verlieren, aber sie war sich sicher, dass Brandner keinen weiteren Fehltritt mehr dulden würde.

Er blieb noch, bis die Spurensicherung eintraf, Fingerabdrücke nahm und Sophies Zimmer untersuchte. Jetzt war auch dieses Haus zu einem Tatort geworden.

Gegen Mittag kam Vicky vorbei. Peter hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um sich online über Alarmanlagen schlauzumachen. Vicky brachte eine Flasche Wein, Chips, Schokolade und eine Auswahl an Gummibärchen verschiedenster Sorten mit.

»Süßigkeitensalat und Wein, das brauchst du heute, meine Liebe«, sagte sie, als sie auf hohen Stiefeletten und mit ihrem hübschen Covergesicht-Lächeln ins Wohnzimmer stolzierte.

Wie immer war sie perfekt angezogen. Der blaue Oversize-Mantel war neu. Noch vor Kurzem hatte Sophie fest vorgehabt, einen ähnlichen zu kaufen. Sie hatte immer Spaß an Mode gehabt. Sie mochte es zwar ein kleines bisschen cooler als Vicky, dennoch hatte sie es immer verstanden, die Blicke der Menschen mit ihren Outfits auf sich zu ziehen. Das Interesse an einer solchen Aufmerksamkeit war ihr allerdings erst einmal gründlich vergangen.

So saß sie drei Minuten später mit einem Glas Wein in der Hand in T-Shirt und Jogginghose neben ihrer Freundin auf dem Sofa.

»Ich weiß echt nicht mehr, was ich machen soll. Ich könnte durchdrehen, was will dieser Typ von mir, Vicky? Wie kommt er ausgerechnet auf mich? Weißt du, bis vor ein paar Tagen bin ich noch verzweifelt, wenn die Kaffeemaschine im Büro kaputt war. So sahen für mich Probleme aus … mein Gott.« Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Und heute habe ich einen Stalker, der mich vergewaltigt hat und …«

Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Es kam ihr lächerlich vor, doch es ließ sie aus irgendeinem Grund auch nicht los.

»Ich … ich habe da diese Träume. Meine Mutter hatte ja damals den Autounfall. Und seit dem Überfall träume ich, dass sie mir … etwas sagen will. Klingt das verrückt?«

Vicky klopfte sanft auf Sophies Knie. »Das ist total normal. Wer würde denn bitte nach so einer Sache nicht mit schlechten Träumen reagieren? Was will sie dir denn sagen? Also, im Traum?«

»Das ist ja das Merkwürdige. Sie versucht mir zu erklären, dass jemand sie umgebracht hat.«

Für einen Moment herrschte Stille.

»Das ist gruselig«, sagte Vicky schließlich. »Aber es wird auch wieder aufhören, mach dir da keine Sorgen.« Sie nahm die Flasche vom Tisch und schenkte Sophie nach. »Und es tut mir wirklich leid, was mit deiner Mom passiert ist …«

»Ist schon gut, das ist ewig her.« Sophie rang sich ein Lächeln ab. »Wir reden nicht über sie. Nicht dass es uns jemand verbieten würde, es ist mehr eine stille Vereinbarung. Nur wenn mein Vater nicht zuhören kann, erzählt mir meine Oma alte Geschichten. Sie ist überhaupt nicht böse auf Mama, trotz allem, was damals vorgefallen ist.« Sie setzte das Glas erneut an und trank diesmal beinahe alles in einem Zug aus. Langsam verschwamm das Wohnzimmer um sie herum. »Es tut meinem Vater weh, über sie zu sprechen. Auch weil er wütend auf sie ist. In der Nacht, in der sie den Unfall hatte, hat sie eigentlich gar nichts im Auto zu suchen gehabt. Sie hätte zu Hause sein müssen. Es war fast Mitternacht, an einem Mittwoch. Trotzdem war sie dort, inklusive mir und einer Tasche mit Klamotten.«

Vicky kniff die Mundwinkel zusammen und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Egal, wie oft wir darüber sprechen, ich kapiere nicht, warum sie nur ein paar Klamotten dabeihatte. Keine Zahnbürste, keinen Reisepass …?«

»Nein, gar nichts anderes – bis auf das Zeug, das man sowieso immer in der Handtasche hat. Nur ein einziges Outfit, ziemlich zusammengewürfelt sogar. Aber du weißt ja nicht, was bei dem Unfall alles verloren gegangen ist. Immerhin ist sie bei strömendem Regen mitten im Wald gegen einen Baum geprallt. Mein Teddy ist damals auch verschwunden, hat mir meine Oma erzählt. Nach dieser Nacht war er zumindest unauffindbar. So kann es auch mit anderen Sachen gewesen sein.«

Vicky steckte sich geistesabwesend ein paar Gummibärchen in den Mund. »Doch es ist schon merkwürdig, dass die Polizei überhaupt keine Babysachen gefunden hat. Das passt nicht zu jemandem, der nachts heimlich seinen Mann verlassen will, findest du nicht?«

»Ja, das stimmt.« Sophie atmete tief ein und dachte daran, dass ihre Mutter damals auch etwas anderes vorgehabt haben könnte. Etwas, über das in ihrer Familie erst recht nicht gesprochen werden durfte. Doch Vicky war kein Familienmitglied. »Wer weiß, vielleicht hat sie ja gar nicht geplant, dass wir beide noch lange genug leben würden, um ein neues Fläschchen zu brauchen.«

»Unsinn!« Vicky kannte diese Theorie bereits. Sie hatten schon etliche Male darüber gesprochen. »Sie hatte bestimmt nicht vor, sich selbst und ihre einjährige Tochter umzubringen.«

In Sophie keimte ein Gedanke. Eine Verbindung, die sie bislang noch nicht gesehen hatte.

»Was ist, wenn jemand sie in den Selbstmord getrieben hat? Wenn sie mir das zu sagen versucht?«

Vicky seufzte. »Ich hätte dir so früh am Tag keinen Alkohol geben sollen, dieses düstere Gerede hört jetzt auf. Sie griff nach ihrem Handy. »Ich bestelle uns eine Pizza und dann ziehen wir uns ›Bridget Jones‹ rein!«

Vicky hatte gesprochen, da konnte Sophie nichts mehr machen. Doch der Gedanke hatte sich längst in ihrem Kopf eingenistet. Warum hatte ihre Mutter sterben müssen?

Während die beiden Frauen wenige Stunden später langsam vor dem Fernseher einschliefen, bog ein dunkler Wagen in das Ende ihrer Straße ein. Er fuhr langsam, der Motor war kaum zu hören. Als der Fahrer aus der Ferne den großen BMW vor Sophies Haus sah, lenkte er nach rechts und verließ die Straße wieder. Er wusste, wie eine zivile Polizeieinheit aussah.

 

Sophie stand reglos am Straßenrand. Ein demolierter Ford Fiesta lag in der Dunkelheit und sah aus, als hätte er sich aufgespalten. Aus dem Wrack ragte ein Baum empor, dunkel und unheilvoll. Er war völlig unberührt, weder der qualmende Motor noch das ohrenbetäubende Prasseln des Regens auf dem zerquetschten Blech machten ihm etwas aus. Auch die Tonne Gewicht, die an ihm zerschellt war, hatte ihn nicht erschüttern können.

Das Weinen eines Babys drang an ihre Ohren. Sophie konnte nicht anders, sie musste näher heran und in das Auto blicken. Es war wie in einem Horrorfilm: Zwischen Fahrersitz und Armaturen gab es keinen Millimeter Platz mehr, beides war mit voller Wucht ineinandergeschoben worden. Und trotzdem saß dort ihre Mutter. Vom berstenden Metall zu Tode gequetscht. Alles, was von ihr zu erkennen war, waren ihre langen hellen Haare, die bedeckt mit dunklem Blut waren. Dachte man sich das Blut und den Dreck weg, kamen Sophie diese Haare seltsam bekannt vor. Als hätte sie sie vor Kurzem erst gesehen.

Langsam ging sie um das Auto herum. Der Regen durchdrang ihre Kleidung, die sich kalt an ihre Haut schmiegte. Sie näherte sich der hinteren Seitentür und entdeckte das Baby in einem Kindersitz. Es schrie weiter aus vollem Hals, als würde es selbst den Krankenwagen rufen, der wenige Minuten später eintreffen müsste.

Aber irgendetwas stimmte nicht: Der vordere Teil des Wagens war fast komplett zerstört, den Rücksitz hatte es zum Glück nicht erwischt. Trotzdem hätte ein so starker Aufprall einen Säugling doch töten oder zumindest bewusstlos werden lassen müssen.

Ihr Blick fiel auf den Sitz des Babys. Sie stutzte – der Gurt war nicht verschlossen. Das Baby war nicht angeschnallt. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen?

Der Regen ließ nach, dann verschwand er. Um Sophie herum wurde es warm und leise. Sie stand nicht mehr am Straßenrand, sondern fand sich in einem Zimmer wieder. Es war dunkel und sie konnte die Umrisse der Möbel nur sehr schwach ausmachen. Durch ein geschlossenes Fenster direkt vor ihr warf der Mond sein kühles Licht auf den Fenstersims. Umrisse von schweren Vorhängen waren zu sehen – und noch etwas. Da war ein Gegenstand … Sophie konnte ihn nicht genau ausmachen, doch sie spürte instinktiv, dass er etwas zu bedeuten hatte. Er stand auf dem Sims, zum Greifen nahe.

Sie ging langsam darauf zu, als der Mond mit einem Mal heller wurde, so hell, dass sie sich die Augen zuhalten musste.

»Sorry, ich bin versehentlich an den Lichtschalter gekommen«, hörte sie Vicky sagen. Dann das leise, vertraute Rauschen des Fernsehers.

Sie erwachte aus ihrem Traum und fand sich auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Vaters wieder. Vicky stand mit entschuldigendem Blick neben der Tür.

»Ich wollte nur kurz auf die Toilette, wir sind wohl eingepennt, sorry fürs Wecken.«

Draußen war es schon dunkel geworden, sie mussten stundenlang geschlafen haben. Hatten sie etwa so viel getrunken?

»Schon gut, ist vielleicht besser so. Aber bring wenigstens Wasser aus der Küche mit, ich glaube, ich kriege jetzt schon einen Kater.«

Sophie ließ ihren Kopf wieder ins Kissen sinken. Sie dachte noch lange über ihren Traum nach. Er war ihr eher wie eine Erinnerung vorgekommen.

»Was willst du mir zeigen, Mama? Und warum gerade jetzt?«, flüsterte sie.

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