Tanz in die Angst

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Am nächsten Morgen hatte sie nicht mehr ihre eigene Kleidung an. In einem Film würde sie ein steriles hellblaues Krankenhaushemd tragen, das am Rücken zusammengebunden war. In der Realität steckte ihr Oberkörper in einem weiten T-Shirt mit einem aufgedruckten Donald Duck, der fröhlich lachend den Finger hob. Er hatte offensichtlich eine zündende Idee.

Das T-Shirt war genauso neu wie die schwarzen Sport-Shorts an ihren Beinen. Es war merkwürdig – sie fragte sich nicht zuerst, warum sie hier war, sondern warum sie diese fremde Kleidung trug. Sie dachte darüber nach, wo ihre eigenen Sachen waren, als das Bild eines zerrissenen Shirts in ihren Kopf kroch. Ihres zerrissenen Shirts? Der Gedanke ließ sie würgen. Reflexartig drückte sie den Schwesternknopf an ihrem Bett.

Eine kräftige Frau betrat das Zimmer. »Frau Finke, wie wunderbar, dass Sie endlich aus dem Traumland zurück sind.«

Langsam wurde Sophies Kopf wieder klarer. Es war keine der Schwestern, die sie schon in der Nacht betreut hatten, diese Frau hatte sie niemals zuvor gesehen.

»Sie sollten erst mal liegen bleiben, Herzchen. Ich besorge Ihnen einen schönen Tee und sage dem Arzt, dass Sie wach sind. Leider sind die Kollegen aus der Nachtschicht nicht mehr da, aber Dr. Schönborn wird sich gut um Sie kümmern.«

Die Freundlichkeit in der Stimme der Frau machte Sophie traurig und sie war erleichtert, als sie das Zimmer wieder verließ. Vor fremden Menschen wollte sie nicht weinen, das könnte sie einfach nicht ertragen. Denn es gab auch so schon genug, das sie aushalten musste, ohne dabei zusammenzubrechen: Sie lag im Krankenhaus – in fremden Kleidern und in einem fremden Bett – und war kaum in der Lage, den Mund zu öffnen. Jede Bewegung tat weh und ihr Schädel pochte, als sei darin eine Bombe explodiert.

Erst allmählich fielen ihr Details der letzten Nacht wieder ein. Ein Mann hatte sie in ihrem Keller überfallen und vergewaltigt. Wie in einem Fernsehkrimi, nur gnadenloser und brutaler.

Sie dachte an das, was sie in Talkshows und Diskussionen gehört hatte. Täter suchen Opfer, wehr dich, kratz und beiß, er wird dich schon in Ruhe lassen. Oder: Wer nicht vergewaltigt werden will, kämpft bis zum Schluss. Doch nirgendwo hatte sie gehört, wie schwer es war, gegen jemanden zu kämpfen, der so viel stärker war. Und wie schwer es war, sich zu wehren, wenn Sterben plötzlich auch eine Möglichkeit war. Wenn man Angst hatte, umgebracht zu werden, sobald man sich noch mehr auflehnte.

Sie sah das Gesicht des Clowns vor sich, wie es sich über ihr im Rhythmus bewegte. Wie es stöhnte.

Nachdem der Mann mit ihr fertig gewesen war und sie bewusstlos zurückgelassen hatte, war nach Schätzung der Polizei ungefähr eine halbe Stunde vergangen, bis eine Nachbarin sie gefunden hatte. Die Beamten und der Krankenwagen waren innerhalb von Minuten da gewesen und hatten sie in das nahe gelegene Theresienkrankenhaus direkt am Ufer des Neckars gebracht. Dort angekommen, hatte eine Odyssee aus Befragungen und Untersuchungen begonnen. In einem kahlen Behandlungszimmer wurden Fotos von ihrem Körper gemacht, jede Wunde musste festgehalten werden, bevor sie verblassen konnte. Sophie hatte sich gewundert, wie viele Verletzungen ein Mensch einem anderen in so kurzer Zeit zufügen konnte.

Danach wurden Proben entnommen: Blut, Sperma, Hautfetzen unter ihren Fingernägeln – alles wurde sorgfältig in kleine Döschen verpackt und beschriftet. Erst als alle Beweise gesichert und die beiden Platzwunden an ihrem Kopf genäht worden waren, war sie in ihr neues Zimmer geführt worden und hatte endlich duschen dürfen. Eine der Schwestern war bei ihr geblieben, während sie sich unter dem heißen Wasserstrahl das Blut und den Schweiß ihres Peinigers von der Haut gewaschen hatte. Sie hatte das Wasser so heiß aufgedreht, bis ihre Haut rot und taub wurde und sie außer dem Brennen nichts mehr spürte.

Duschen war das Einzige gewesen, an das sie während der zweistündigen Untersuchungen gedacht hatte, das Einzige, das für sie relevant gewesen war. Sie hatte das Fotografieren ertragen und die Ärztin, die ihr wortlos Abstriche entnommen hatte. Sie hatte jedes Detail ihrer Geschichte erzählt und immer wieder versichern müssen, dass der Angreifer kein wütender Ex-Freund gewesen sein konnte. Als hätte es das besser gemacht … Nur der Gedanke an Wasser und Seife hatte sie das alles erdulden lassen.

Zum Einschlafen hatte sie Beruhigungsmittel und neue Kleidung bekommen, die Menschen dem Krankenhaus für diesen Zweck gespendet hatten. Kleidung für Frauen, die vergewaltigt worden waren und deren eigene Sachen in irgendwelchen Beweismitteltüten lagen. Danach hatten die Medikamente sie in einen tiefen Schlaf sinken lassen.

Während sie nun in ihrem Bett lag und auf den Arzt wartete, prasselten die Erinnerungen an die letzte Nacht wie ein Hagelschauer immer weiter auf sie ein. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater mitten in der Nacht mit blasser Haut und rot geränderten Augen im Flur darauf gewartet hatte, dass sie aus dem Behandlungszimmer kam. Wie sie eine Welt hinter seinen Augen hatte zerbrechen sehen. Wie er an ihrem Bett gesessen hatte, bis sie eingeschlafen war.

Wo war er jetzt? Ihr Puls wurde schneller, ihre Hände schwitzten. Eine lähmende Beklemmung ergriff sie.

»Frau Finke, es ist alles in Ordnung, wir sind jetzt da.« Ein junger Mann im weißen Kittel kam ins Zimmer und beugte sich besorgt über sie.

Sophies Kehle wurde eng, als der Mann ihr näher kam. Sie fühlte Schweiß in Strömen über ihren Körper fließen, als hätte jemand eine Leitung aufgedreht. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt.

Instinktiv trat der Arzt einen Schritt zurück und lächelte sie traurig an. »Es tut mir leid, ich habe Sie nicht erschrecken wollen. Mein Name ist Dr. Schönborn und ich werde mich heute zusammen mit Schwester Sylvia um Sie kümmern. Haben Sie bitte keine Angst, hier kann Ihnen nichts passieren.«

Dr. Schönborn konnte kaum älter als dreißig sein, war schmächtig und hatte lichtes hellblondes Haar. Der Typ »netter Kerl«, über den Schwiegermütter sich freuten und der Frauen nicht einmal in einer Bahnhofsunterführung um drei Uhr morgens Angst einjagen würde. Dennoch wirkte er auf Sophie so furchteinflößend, dass ihr beinahe die Tränen kamen. Sie wollte, dass er ging. Sie wollte, dass nie wieder ein Mann ihr Zimmer betrat.

Dr. Schönborn wandte sich der kräftigen Krankenschwester zu. »Geben Sie ihr bitte noch etwas zur Beruhigung. Das ist alles noch zu viel für sie. Und verbinden Sie bitte ihre Hände.« Er lächelte Sophie an und verließ das Zimmer.

Die Schwester folgte ihm und kam zwei Minuten später mit einem kleinen Fläschchen in der Hand zurück. Sie öffnete den Zugang, der in der Nacht in Sophies Vene gelegt worden war, und spritzte das Beruhigungsmittel hinein.

Während Sophie zitternd darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, streifte ihr Blick einen roten Fleck auf der ansonsten weißen Bettdecke. Sie hob ihre Hände und sah, dass beide Handflächen voller blutiger Kratzer waren.

Als sich das Mittel endlich seinen Weg durch ihre Adern gebahnt hatte, wurde die Welt wieder in Dunkelheit getaucht.

Ein paar Stunden später wurde sie langsam wieder wach. Ihr Gesicht fühlte sich an, als wäre es auf die doppelte Größe angeschwollen, und der Geschmack in ihrem Mund war schal und bitter. Wer glaubte, eine Vergewaltigung allein wäre das Schlimmste, das einem passieren konnte, hatte noch nicht die Zeit danach erlebt.

Sie nahm ihr Handy vom Nachttisch und entsperrte das Display – es war gerade erst elf Uhr morgens. Obwohl der Überfall noch keine vierundzwanzig Stunden her war, war ihr Handy jetzt schon voll von Nachrichten und Anrufen. Freunde, Bekannte und Kollegen wollten wissen, wie es ihr ging, und überfluteten sie wahlweise mit traurigen Smileys, Denk-positiv-Bildchen oder ehrlich gemeinter Anteilnahme.

Noch während Sophie sich fragte, wie sie alle so schnell davon erfahren haben konnten, poppten die ersten Meldungen über eine Vergewaltigung in Mannheim in ihrem Facebook-Feed auf. Weder ihr Name noch ihre Adresse wurden genannt, dafür aber das Viertel, in dem sie wohnte. Anscheinend hatte irgendjemand eins und eins zusammengezählt und die Information in ihrem Bekanntenkreis verbreitet.

Sie las keine einzige dieser Nachrichten wirklich, ignorierte jeden Anruf und die Idee, dass jemand sie besuchen könnte, ließ ihr den Geschmack von Galle in den Mund steigen. Sie wollte niemals wieder jemandem ins Gesicht sehen müssen, der sie gekannt hatte, bevor ihr Leben auf einem Kellerboden zerschmettert worden war.

Die einzige Nachricht, die sie beachtete, war die ihres Vaters. »Hallo, Süße, die Ärzte haben gesagt, ich soll dich ein paar Stunden schlafen lassen – hole gerade einige Sachen aus deiner Wohnung und bin gegen Mittag wieder bei dir! Kuss, Dad«.

Sie hoffte, dass er länger brauchen würde – in sein mitleidvolles Gesicht zu blicken, war das Letzte, was sie jetzt wollte.

Sie sperrte ihr Handy wieder. Das Display wurde zu einer spiegelnden schwarzen Oberfläche. Mit trockenem Mund betrachtete sie ihr Gesicht. Von einem Tag auf den anderen war sie zu einem Schreckgespenst geworden, dessen Anblick sie selbst kaum ertragen konnte. Ihre Haut war blass, was die roten und grünen Töne der Schwellungen nur noch mehr zur Geltung brachte. Ihr linkes Auge, das den Fausthieb abbekommen hatte, war fast komplett unter den Beulen verschwunden, ihre Lippen waren von so tiefen Furchen durchzogen, dass man es selbst auf dem winzigen Display erkennen konnte. Wegen der beiden genähten Platzwunden durfte sie ihre Haare nicht waschen, sodass sie die Reste des verkrusteten Blutes noch immer auf ihrer Kopfhaut fühlen konnte.

 

Zögernd hob sie die Decke an. Ihr Körper war an fast jeder Stelle von dunklen Hämatomen übersät, am härtesten hatte es ihre Brust, die Handgelenke und die Innenseiten ihrer Oberschenkel getroffen.

Laut der Aussage der Ärzte war sie trotz allem noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Es hätte schlimmer sein können. Ihre Verletzungen würden mit der Zeit folgenlos heilen. Ob sie sich mit Aids oder Hepatitis C angesteckt hatte, würde man allerdings erst in einigen Monaten testen können.

Den Rest des Tages erlebte sie wie in Trance. Ihr Vater kam zu Besuch, genau wie Vicky und Erika. Sie brachten Pralinen und Zeitschriften mit, bemühten sich, sie von dem abzulenken, was geschehen war. Doch wie hätten sie das schaffen sollen? Es war, als wäre der Mann hier bei ihr. Als würde er mit seinem Clownsgesicht in der Ecke ihres Zimmers stehen und sie beobachten. Warten, lauern.

Am Abend, nachdem die Besuchszeit endlich vorbei war, bat Sophie die Schwestern um mehr Beruhigungsmittel. Sie wollte nichts als schlafen – und ihr Wunsch wurde erfüllt. In Form eines Wundermittels namens Bromazepam. Eine schwere Müdigkeit überkam sie, als es durch ihre Venen schoss.

Gerade als sie wegzudämmern begann, fiel ihr ein Lichtreflex an der Wand neben dem Fenster auf … wie blondes Haar. War da jemand?

Sie versuchte, etwas zu erkennen, doch ihre Lider fielen zu.

Als sie sie wieder öffnete, befand sie sich in der Waschküche ihres Hauses. Die Luft fühlte sich feucht an und das Licht war kalt wie Eis. Diesmal trug sie ein gelbes Sommerkleid und ihre Haare waren mit roten Bändern zu Zöpfen gebunden. Es war das Kleid, das sie als Kind auf der Schaukel getragen hatte. Ein leuchtender Stoff, der mit weißen Ornamenten überzogen war. Wieso konnte sie sich plötzlich so genau daran erinnern?

Sie beugte sich nach unten, um die Wäsche aus der Maschine zu holen, als diese mit einem tosenden Gepolter losging. Sophie konnte nicht sagen, was sich darin befand. Es sah nicht aus wie Wäsche. Die Trommel schleuderte so stark, dass der schwere Metallkasten auf dem kahlen Boden zu hüpfen begann.

Magisch angezogen kniete sich Sophie davor und presste ihr Gesicht an das Sichtfenster, als eine bedrohliche Stimme hinter ihr sie zusammenfahren ließ.

»Kleine, da bist du ja wieder …«

Sie sprang entsetzt auf und suchte mit hektischen Blicken den Raum ab, doch da war niemand. Die hintere Tür war verschlossen. Die Stimme war wie aus dem Nichts gekommen, als hätte die faulige Luft des Raumes selbst zu ihr gesprochen.

Ihre Kehle war von Panik zugeschnürt. Sie konnte sich nicht bewegen.

Und dann: Stille. Das Poltern hinter ihr erstarb und ein leises Klicken war zu hören, als sich die Tür der Waschmaschine langsam öffnete. Sophie hielt die Luft an, während sie sich umdrehte.

Die Innenseite des Sichtfensters war über und über mit dunklem Blut bedeckt. Es tropfte in glänzenden Lachen auf den Boden. Doch da war noch etwas … es lag in der Öffnung, versteckt unter dem tiefen Rot. Etwas Großes. Es erfüllte die gesamte Trommel.

Eine Hand kam heraus. Lange, schmale Finger stützten sich auf dem Betonboden ab, sodass der Rest des blutbedeckten Körpers herauskriechen konnte. Es war eine Frau. Ihr Mund verzog sich zu einem grauenvollen lippenlosen Grinsen.

»Sie haben mich getötet, Mucha, sie waren es. Bei den Buchen«, flüsterte sie.

Sophie schrie so laut, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geschrien hatte. Sie schrie auch noch, nachdem sie aufgewacht war und zwei Krankenschwestern mit weiteren Beruhigungsmitteln ins Zimmer gestürzt kamen. Das Schreien ließ erst nach, als die Medikamente zu wirken begannen, doch das Zittern dauerte fort, bis sie wieder eingeschlafen war.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie den seltsamen Lichtreflex in ihrem Zimmer längst vergessen. Nur ein einziger Gedanke ging ihr durch den Kopf: Mucha, das polnische Wort für Fliege. So hatte ihre Mutter sie immer genannt, als sie noch ein Baby gewesen war.

5

»Süße, es ist absolut normal, dass du nach so einem Erlebnis mit Albträumen reagierst«, sagte ihr Vater am nächsten Vormittag. Sophie hatte ihm aufgelöst von ihrem Traum erzählt. Das gelbe Kleid hatte sie nicht erwähnt.

»Deine Oma hat dich auch oft Mucha genannt, als du klein warst, das wird bei dir hängen geblieben sein.« Er drückte sanft ihren Arm und bot ihr Schokolade aus einer der Schachteln an, die auf ihrem Nachttisch standen.

»Nee, danke … vielleicht könntest du uns Kaffee holen? So langsam glaube ich, ich sehe nur wegen des Koffeinentzugs so schlimm aus.« Sie verzog ihren Mund zu einem schwachen Lächeln und brachte die Augen ihres Vaters damit zum Leuchten.

»Du siehst immer wunderschön aus, mein Schatz – ich hole uns schnell was aus der Cafeteria.«

»Geht auch Starbucks? Vanilla Latte?«

»Klar, dafür brauche ich nur etwas länger. Bin in einer halben Stunde wieder da.«

Sophie war dankbar, eine Weile allein sein und sich von dem furchtbaren Traum erholen zu können. Doch ihre Auszeit hielt nicht lange an. Fünf Minuten, nachdem ihr Vater aus dem Zimmer gegangen war, klopfte es an der Tür.

»Ja, bitte?«, sagte sie, leicht genervt von der unerwarteten Störung.

»Mucha …«

Sie fuhr entsetzt hoch. Panik durchdrang sie bis in die Fingerspitzen.

»Wer ist da?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Hätte sie ihren Vater doch nicht weggeschickt!

»Mein Name ist Andrea Mula, ich bin Seelsorgerin.« Eine junge Frau lugte ins Zimmer. Sie war zierlich und langes blondes Haar umrahmte ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe, Frau Finke. Ich kann gern später wiederkommen, wenn es im Moment nicht passt.«

Andrea Mula lächelte so warmherzig, dass sich Sophie wieder entspannte. Sie hatte Mula mit Mucha verwechselt, das war alles. Ein alberner Streich, den ihr ihre Sinne gespielt hatten.

»Entschuldigung … kommen Sie doch bitte rein. Wer sind Sie noch mal?«

»Ich bin Seelsorgerin bei der Opferschutzorganisation ›Safehouse‹ und wollte mich erkundigen, wie es Ihnen heute geht.«

Andrea Mula setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Sophies Bett. Sie trug ein langes Kleid in warmen Farben, war höchstens Mitte zwanzig und blickte ruhig und freundlich über den Rand einer roten Hornbrille. Über ihrer linken Augenbraue befand sich ein auffälliges Muttermal, doch das machte ihr hübsches Gesicht nur noch interessanter, fand Sophie.

Allerdings wunderte sie sich über Andrea Mulas Stil. Ihre Kleidung wirkte, als hätte sie sie aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter genommen: Das wollene Kleid war weit und mit riesigen Rautenmustern übersäht, wie Frauen es in den neunziger Jahren getragen hatten. Auch die Hornbrille wirkte eher wie ein gut erhaltenes Flohmarktstück.

Andrea Mula stellte eine weitere Schachtel Pralinen auf den Nachttisch neben Sophies Bett. »Ich kann mir kaum vorstellen, was Sie in den letzten sechsunddreißig Stunden durchgemacht haben. Es tut mir wahnsinnig leid, dass Ihnen das zugestoßen ist.«

Sophie konnte das Mitleid im Gesicht ihrer Besucherin erkennen. »Ja, ich denke auch, dass Sie sich das nicht vorstellen können«, entgegnete sie kühl.

»Sicher brauchen Sie heute noch ein wenig Ruhe, das verstehe ich gut. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Sie sich jederzeit bei mir melden können, wenn Sie reden möchten … dafür bin ich da.«

Andrea Mula erklärte ihr, wie »Safehouse« sie in den nächsten Monaten unterstützen könnte, wenn sie dazu bereit war. Kostenlos, selbstverständlich und vertraulich. Sie sprach von Einzelgesprächen, Familiensitzungen und Selbsthilfegruppen mit anderen Betroffenen.

Sophie hörte ihr kaum zu. Sie hatte sich zwar etwas beruhigt, spürte jedoch, dass sie den Schreck von eben erst noch verdauen musste. Sie fragte sich, worüber sie sprechen sollte. Je mehr sie sich bemühte, Andrea Mula zuzuhören, desto wütender wurde sie. Jeder wusste doch, was passiert war. Sie hatte es der Polizei mehr als ausführlich beschreiben müssen. Es war das ekelhafteste Gespräch gewesen, das sie je geführt hatte. Jedes noch so peinliche Detail aus ihrem Mund war von einem der Beamten langsam wiederholt, dann für immer in einem Notizbuch vermerkt und von einem Aufnahmegerät aufgezeichnet worden. Die Geschichte ein weiteres Mal erzählen zu müssen, war für Sophie nur schwer vorstellbar. Wieso zur Hölle sollte sie das tun?

Als Andrea Mula ihr vorschlug, sich in einer Therapie über das Geschehene auszutauschen, lachte sie auf. Es war ein verzweifeltes und trauriges Lachen. »Das nächste Mal werde ich vor Gericht über die Sache sprechen, falls dieses miese Arschloch jemals gefasst wird«, sagte sie scharf. »Vorher und nachher wird gar nichts passieren und wenn meine Familie Sie dazu angestiftet hat, hierherzukommen und mir diesen Seelentröster-Scheiß anzubieten, dann können die das direkt wieder vergessen.« Ihre Kehle bebte vor Wut. »Verschwinden Sie aus meinem Zimmer!«

Andrea Mula hatte ihr nur helfen wollen, dessen war sich Sophie bewusst, doch jetzt war nicht die Zeit, um fair zu sein. Es war die Zeit, um wütend zu sein und mit Geschirr zu werfen. Es war die Zeit, um herauszuschreien, welche furchtbaren und unbegreiflichen Dinge ihr das Leben in den letzten beiden Tagen vor die Füße geworfen hatte. Den Überfall, eine Vergewaltigung, von fremden Polizisten ausgefragt und an den intimsten Stellen fotografiert zu werden, immer wieder von Ärzten ruhiggestellt zu werden und diese Schmerzen zu haben, jedes Mal, wenn sie nur atmete.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Finke. Ich lasse die Broschüren hier. Wenn Sie so weit sind, melden Sie sich.« Andrea Mula stand auf, verließ mit einem milden Lächeln auf den Lippen das Zimmer und schloss leise die Tür.

Dieses Lächeln kam Sophie merkwürdig vertraut vor. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, die Frau zu kennen. Dann schüttelte sie den Gedanken ab.

Sie nahm ihr Handy, das den Sturz auf den Kellerboden im Gegensatz zu ihr gut überstanden hatte, und schrieb ihrem Vater. Weder er noch sonst jemand sollte heute noch mal bei ihr vorbeikommen. Morgen vielleicht, sie würde sich melden.

Nachdem sie das Handy ausgeschaltet hatte, verkroch sie sich unter der Bettdecke und weinte, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie wirklich nicht mehr weitergewusst hatte. Als würde die Welt sie unter der dicken Schicht aus Stoff und Daunen nicht mehr finden können, als wäre sie dort unsichtbar.