Jüdische Bibelauslegung

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b. Die jüdischen Gelehrtenzentren im 11. und 12. Jahrhundert

Jüdische Gelehrsamkeit in NarbonneIn Narbonne hatte sich ein auf Makhir ben Jehuda (1. Hälfte 11. Jahrhundert) zurückgehendes Zentrum entwickelt, in das nicht nur Elemente der babylonischen Diaspora, sondern auch Elemente der jüdischen Geistesentwicklung in Spanien eingingen. Die dortigen Schulen hatten ihren Schwerpunkt und ihre Fähigkeiten im Bereich der biblischen Exegese, Grammatik und Lexikographie. Mit Menachem bar Chelbo (11. Jahrhundert) finden sich die ersten Übertragungen in die Vernakularsprache (Landessprache) mit hebräischen Lettern. Es war sein Neffe, R. Josef ben Schim‘on Qara (geboren ca. 1050–1125, siehe im Folgenden Kap. 2.2.c.), der Menachems Kommentare an Raschi überlieferte.

Der Bildungsstand der Juden in WesteuropaNoch bis in unsere Zeit hinein hält sich hartnäckig die Vorstellung, wonach alle Juden des Mittelalters hoch gebildet, alle Christen eher illiterat waren. Und in der Tat ist es nicht einfach, aus versprengten Aussagen zum Erziehungswesen auf das Bildungsniveau der einzelnen Mitglieder der kleinen Gemeinden Nordfrankreichs und Deutschlands zu schließen (so schon Güdemann 1880). Zwar war die Gruppe der dort wirkenden Kommentatoren zahlenmäßig klein, aber das tosafistische* literarische Œuvre hat uns enorme Textmengen hinterlassen. So können wir bei den Tosafisten auf eine hohe rabbinische Bildung schließen, die ihnen die Auseinandersetzung mit dem Talmud* erst ermöglichte, jedoch zeigen gerade die nordfranzösischen Bibelkommentare aus dem 11. und 12. Jahrhundert, dass das Bildungs- und hebräische Sprachniveau der Juden im Allgemeinen durchaus unterschiedlich war. Wird dies auch nie explizit festgehalten, so zeigen insbesondere R. Josef ben Schim‘on Qaras Auslegungen, dass er an vielen Stellen zunächst einmal die Bedeutung des Hebräischen erklärt, und dies auch mit Hilfe von Übersetzungen ins (Alt-)Französische. Dies gilt umso mehr für Texte, die nicht mit demselben inhaltlichen Gewicht gelesen wurden wie die Tora, nämlich die Prophetentexte und die Schriften. Jene biblischen Bücher, die nur sehr auszugsweise oder gar keine liturgische Funktion innehaben (z.B. die Bücher Nahum und Hiob), bedurften einmal mehr der Erklärung ad litteram, d.h. nach dem auf der Textebene einfachen Wortsinn (vgl. auch Langer 2016, 81–86), denn ihr Hebräisch ist nicht alltäglich, vor allem nicht das der poetischen Abschnitte, und ihre Lektüre fand nur selten statt.

|48|Etablierung der ‚SchUM‘-Gemeinden1090 nimmt Kaiser Heinrich IV. die Juden auf ihre Bitte hin unter seinen persönlichen Schutz. Ihre Rechte werden in Statuten geregelt. Gewährt wurde kaiserlicher Schutz für Leben und Eigentum eines Juden, es gab keinen Taufzwang, bei Konversionen musste eine dreitägige Zwangsbedenkfrist eingehalten werden, und man sicherte den Juden ihre eigene Gerichtsbarkeit zu (Judeorum episcopus). Das jüdische Leben konzentrierte sich in drei Zentren, der Provence in Südfrankreich, der Champagne und der Normandie in Nordfrankreich (Tzarfat*) und Deutschland (Aschkenaz*) mit dem besonderen Schwerpunkt der Rheingemeinden Speyer, Mainz und Worms, den sog. ‚SchUM‘-Gemeinden*.

Von Italien ins RheinlandGroßen geistigen Veränderungen waren die Gemeinden im Rheinland unterworfen. Hatte man sich in halachischen und rituellen Fragen bislang an die Geonim* in den Zentren Sura und Pumbedita in Babylonien gewandt, so verschob sich die geistige Mitte zunehmend nach Westeuropa, und dies hing mit der Einwanderung einer neuen geistigen Elite ins Rheinland zusammen: Kannte bereits Ja‘aqov ben Ascher (ca. 1280–1340) den Begriff der ‚Frommen Deutschlands‘ (Chaside Aschkenaz*), der sich für ihn mit der Anwendung bestimmter Methoden der Bibelexegese verband, so steht dieser Begriff heute für die Repräsentanten der Familie Qalonymos*. Deren Vorfahren, ursprünglich aus Lucca in Oberitalien stammend, waren ab dem 9. Jahrhundert ins Rheinland eingewandert. Unter dem Einfluss führender Persönlichkeiten aus dieser Familie wurden vor allem Speyer, Mainz und Worms (später auch Regensburg) zu geistigen Zentren des jüdischen Lebens. In Mainz hatten sich Teile der Qalonymiden-Familie auf die Bitte Ottos II. niedergelassen. Einer der wichtigsten Gelehrten war R. Jehuda ben Meïr ha-Cohen Leontin.

Die Jeschiva in MainzAuf R. Jehuda wird die Gründung einer Jeschiva* (Talmudschule) in Mainz zurückgeführt, die schon bald eine besondere gesetzgebende Autorität erwarb. Der wichtigste Schüler R. Jehudas war R. Gerschom ben Jehuda (ca. 960–1028). Er wurde als der sog. Me’or ha-Gola (‚Leuchte des Exils‘) so etwas wie ein Oberhaupt der jüdischen Gemeinden in Westeuropa. Er ordnete und strukturierte das Talmud*-Studium neu, er bemühte sich um Textkritik sowie um eine konzise schriftliche und mündliche Anwendung und ihre Umsetzung für die Rechtspraxis. Die wichtigste halachische Entscheidung R. Meïrs ist das Verbot der Polygamie (unter Androhung des Synagogenbannes, des Cherem, d.h. des Ausschlusses aus der Gemeinde). Die Institution des Cherem führte ihrerseits zur Bindung des Einzelnen an die Gemeinde, zur rechtlichen, sozialen und nationalen Konsolidierung der Gemeinden und vor allem zur Durchsetzung rechtlicher und religiöser Entscheide.

|49|Talmudstudium in Mainz und WormsDie Talmudakademie in Mainz hatte vor Worms und Köln den größten Ruf (Reichman 2007), bedingt durch R. Gerschom ben Jehuda und seine Zeitgenossen sowie deren Nachfolger. Zu nennen sind hier R. Eli‘ezer ben Jitzchaq (11. Jahrhundert; in Raschis Kommentaren als ‚der Große‘ ha-gadol oder der ‚Gaon‘ erwähnt) und R. Jehuda ha-Cohen (Verfasser der Responsensammlung Sefer ha-Dinim), R. Jitzchaq ben Jehuda (ca. 1080) und R. Jitzchaq ben Ascher ha-Levi (RIbA).

R. Ja‘aqov ben JaqarEin weiterer wichtiger Spross aus der Talmudakademie in Mainz war R. Ja‘aqov ben Jaqar (st. 1064), der spätere Lehrer Raschis. Raschi wird sich später auf ihn als den ‚Alten‘ (ha-zaqen) beziehen. R. Ja‘aqov kam aus Worms in die Jeschiva* nach Mainz und leitete diese wohl auch einige Zeit nach R. Gershoms Tod, zusammen mit R. Eli‘ezer ben Jitzchaq aus Worms. Später kehrte er nach Worms zurück, muss aber seine letzten Tage doch wiederum in Mainz verbracht haben, denn dort findet sich auch sein Grabstein. Inwieweit R. Ja‘aqov neue Akzente in die Methoden des Talmudstudiums eintrug, ist umstritten. Jedenfalls ist kein einziges Responsum von ihm überliefert, was darauf schließen lässt, dass er das theoretische Studium bevorzugte. Von ihm geht die Sage (und sie ist typisch für die Legendenbildung um die sog. ‚Frommen Deutschlands‘), dass er den Boden vor dem Aron ha-Qodesch* mit seinem Bart aufwischte (vgl. Grossman 2012, 16). Auch Raschi betont die Demut seines Lehrers. Insgesamt zeigt aber die Mainzer Jeschiva, dass das Studium der Bibel dem Studium des Talmud deutlich nachgeordnet war: Es war der Talmud, den es zu studieren galt. Das Bibelstudium, mit dem man im Kindesalter begann, stellte eigentlich nicht mehr als ein Prolegomenon für das höhere jüdische Lernen dar.


Die nordfranzösische ExegetenschuleLittera gesta docet,Der Buchstabe lehrt die Ereignisse,
quid credas allegoria,was du zu glauben hast, die Allegorie,
moralis quid agas,die Moral, was du zu tun hast,
quo tendas anagogia.wohin du streben sollst, die Anagoge.

Diesen schon für die Frühe Kirche inhaltlich in Geltung stehenden und seit dem Mittelalter in einen Merkspruch gefassten Methoden der Bibelauslegung wurde auf der jüdischen Seite im 11. und 12. Jahrhundert vor allem die sog. ‚Peschat-Auslegung‘*, d.h. die Auslegung ad litteram, entgegengestellt. Ihr plötzliches Auftreten und ihr ebenso jähes Verschwinden gegen Ende des 12. Jahrhunderts hat die judaistische Forschung der letzten 170 Jahre beinahe durchgehend beschäftigt. Dabei haben fast alle damit zusammenhängenden Fragen und Probleme bis heute keine wirklich befriedi|50|gende Antwort gefunden. So ist allein die Bedeutung des Terminus Peschat umstritten, der zumeist als Auslegung nach dem ‚einfachen‘ Wortsinn übersetzt wird. Aber auch ein ‚einfacher Wortsinn‘ ist facettenreich: Er kann auf eine lectio historica* – im Gegenüber zur (lectio) allegorica* und tropologica* – hinweisen, er kann jedoch auch, wie im Falle des R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte 12. Jahrhundert), den Sinn eines Textes gemäß seinem literarischen Kontext oder gar in einer literaturtheoretischen Betrachtung umfassen. Der Zeitraum zwischen 1040 und 1200 hat eine Reihe unterschiedlicher Peschat-Exegesen hervorgebracht, deren Verhältnis untereinander auch erst in den Anfängen geklärt ist. Hatte noch R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi) seine Aufgabe vor allem darin gesehen, das jüdische Wissen zu ordnen, zu bündeln und zu straffen, dabei aber stets auf dem Boden der rabbinischen Literatur zu verbleiben, so haben sich seine geistigen Nachfolger in zunehmendem Maße vom jüdisch-traditionellen, d.h. vom rabbinischen Lese-Kontext (Aggada*; Halakha*) emanzipiert. Als ihr (Lese-)Publikum sprechen sie die sog. maskilim* an, in der modernen Forschung hilfsweise manchmal als ‚Rationalisten‘ vorgestellt, ohne dass damit aber soziologisch oder hermeneutisch ein eindeutiger Trägerkreis festgemacht werden könnte (es waren ja keine Philosophen). So schreibt Elazar Touitou, dass es im jüdischen 11./12. Jahrhundert zu einem, wie er es nennt, ‚Haskala‘*-Schub kam. Man spricht hier von einem neuen Gelehrtentypus, einer Bewegung, die zunächst einmal mit sich brachte, dass vieles zu einer Erneuerung strebte und man die religiösen Dinge rationaler anzugehen und zu begründen suchte. Touitou sieht insbesondere in der Gründung der Universitäten mit der Ausgestaltung der septem liberales disciplinae (siehe oben Kap. 2.1.a.), der Entwicklung der Kathedralschulen und insgesamt einem Zeitgeist, der gerne auch als ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ bezeichnet wird, einen Motor für die aufkommende neue Rationalität, aber auch für die verschiedenen Verwerfungen, die das Judentum nach innen zu bewältigen hatte (Touitou 2003).

 

Erklärungsbedürftig ist darüber hinaus die Tatsache, dass man sich neben dem Talmudstudium überhaupt und in dieser Intensität eigentlich zum ersten Mal ausführlich mit der Bibel beschäftigte. Dies hängt in Westeuropa natürlich mit dem christlichen Umfeld zusammen: Beschäftigte man sich in Spanien, wo die arabische Sprachwissenschaft weit entwickelt war, vor allem mit der hebräischen Sprache und Grammatik, so rückten in Frankreich und Deutschland die Inhalte der Bibel ins Blickfeld, weil auch die Kirche, wenngleich oftmals in typologischer Abgrenzung, die Hebräische Bibel als „Altes Testament“ rezipierte. Die jüdische Bibelauslegung hatte sich daher zum einen exegetisch-apologetisch gegenüber |51|dem Christentum zu positionieren; zum anderen zeigte sich auch im innerjüdischen Diskurs zwischen Aschkenaz* und Sefarad* eine zunehmend größer werdende Kluft zwischen den jeweiligen Bibel-Lektüren, die die Gelehrten herausforderte.

c. Die handschriftliche Überlieferungstradition

Was die handschriftliche Überlieferung und/oder die heutigen Druckausgaben angeht, ist die judaistische Mediävistik in einer weitaus weniger komfortablen Lage als ihre christliche Schwester, und dieser Befund hat sich in den letzten Jahren, in denen die Überlieferungen des Raschi im Verhältnis zu den literarischen Zeugnissen seiner Schüler mehr und mehr in den Blick rückten, noch verstärkt. Es zeigt sich nämlich, dass es „den“ Raschi-Kommentar oder gar einen Urtext davon nie gegeben hat, jedenfalls nicht vor seinem Eintritt in die typographische Welt (so zuletzt mit guten Gründen Petzold 2018).


|52|Abb. 5: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. hebr. 5,1, fol. 84r.


|53|Abb. 6: Leipzig, Universitätsbibliothek, B. H. fol. 1, fol. 92v.

Die ältesten Raschi-ManuskripteBereits die handschriftlichen Textzeugen, die wir haben, stammen aus einer deutlich späteren Zeit und sind alles andere als einheitlich: Das älteste Manuskript München, BSB, Cod. hebr. 5 (reiner Kommentartext) wurde 1233 in Würzburg kopiert und stellt gleichzeitig das älteste datierte aschkenasische illuminierte Manuskript dar. Die zweite wichtige Raschi-Handschrift Leipzig, Universitätsbibliothek, B.H. fol. 1 stammt aus dem 13. Jahrhundert (undatiert) und enthält neben dem masoretischen Bibeltext (inklusive eklektisch annotierter masoretischer Glossen) den Targum* sowie einen dem Raschi zugeschriebenen Kommentar, der seinerseits eine Reihe Glossierungen von Raschis wichtigstem Schüler, Schema‘ja, sowie dem Schreiber, Makhir, enthält (dazu Grossman 1996, 187–193). Der dritte und für die Raschi-Forschung sehr wichtige Textzeuge Wien, ÖNB, Cod. hebr. 220 (Wien 23) ist ebenfalls undatiert (13./14. Jahrhundert), stammt aber aus einer deutlich späteren Zeit. Heute gelten neben den vollständigen Manuskripten auch die hebräischen und aramäischen Makulaturfragmente* als wichtige Quellen, wie sie vor allem in den Bibliotheken Deutschlands, Italiens und Frankreichs zu Tausenden gefunden werden (vgl. die derzeit im Aufbau befindliche Datenbank Books Within Books, online: goo.gl/mM3X7j; Zugriff 10/2019), denn diese fragmentarische Handschriftenüberlieferung geht teilweise schon bis ins 12. Jahrhundert zurück.

Moderne TextausgabenBis heute gibt es keine kritische Ausgabe der Kommentare Raschis, aber immerhin hat Abraham Berliner (1833–1915) für seine Ausgabe des Pentateuch-Kommentars ca. 100 Handschriften berücksichtigt. Ein Autograph* besitzen wir ohnehin nicht. Die |54|gedruckten Ausgaben sind für die wissenschaftliche Arbeit nur eingeschränkt zu verwenden: Neben den traditionellen jüdischen Bibelausgaben in den sog. Rabbiner-Bibeln (Miqra’ot Gedolot), die sehr fehlerhaft sind, arbeitet man heute entweder mit dem Tora-Kommentar Raschis nach der Ausgabe von Abraham Berliner (Berliner 1866; 2. Aufl. 1905) oder mit der Ausgabe Miqra’ot Gedolot Haketer (Men. Cohen 1992ff.; mittlerweile auch in elektronischer Form). Daneben gibt es auch weitere digitale Ausgaben, die aber auch allesamt keine kritischen Textausgaben darstellen (Alhatora; Sefaria). Unter den uns erhaltenen Raschi-Kommentaren sind die Abweichungen zum Teil so groß, dass die Zuschreibung an einen Autor mehr als fraglich ist. Hier müssen künftig und mehr als bisher die in der neuphilologischen und mittellateinischen Forschungslandschaft erbrachten Ergebnisse in die Untersuchung des hebräischen Materials einbezogen werden (zum Ganzen Liss 2011a, bes. 35–55).

d. Glossensammlungen als neue Form literarischer Vermittlung

Lateinische GlossensammlungenDer entscheidende Impuls der lateinischen Glossensammlungen liegt in der Neukonstituierung des Verhältnisses zwischen der Auslegung auf der Basis der Kirchenväter und ihrer Relation zur eigenen ratio. Das Neue ist also ein neuer Umgang mit dem Alten, wie es schon das Aachener Kapitular von 789 (Admonitio generalis) in Worte fasst: „Irrtümer verbessern – Überflüssiges heraustrennen – Richtiges einschärfen“ (Heil 2003a, 408). Die Rangfolge ist ganz klar: die auctoritas der Kirchenväter ist unangefochten. Entsprechend liest man noch bei Vincent von Beauvais im Prolog zu seinem Speculum maius (zw. 1244 und 1260): Ipsorum est igitur auctoritate, nostrum autem sola partium ordinatione (‚Bei ihnen liegt die [inhaltliche] Autorität, in unserer Verantwortung liegt lediglich die Reihenfolge der einzelnen Exzerpte‘). Dass allerdings gerade durch alt-neue Zusammenstellungen, Fragmentierungen und pseudepigraphische Zuschreibungen zum Teil etwas völlig Neues herauskam (und auch herauskommen sollte), steht dabei außer Frage.

Bis heute ist ungeklärt, ob die Juden überhaupt von der Existenz solcher Glossensammlungen wussten (zur Frage nach den Lateinkenntnissen der jüdischen Gelehrten vgl. im Folgenden Kap. 3.1.a.), weil es darüber keine direkten Zeugnisse von jüdischer Seite gibt. Dennoch scheint es schlechterdings unvorstellbar, dass diese wichtigen Entwicklungen der lateinischen Auslegungskultur, die sich räumlich im unmittelbaren Umfeld der jüdischen Zentren vollzogen haben, gar keine Spuren auf der jüdischen Seite hinterlassen haben sollten. Es wäre ja immerhin vorstellbar, dass mündliche Kontakte |55|soweit bestanden, dass man wenigstens von den Bemühungen der lateinischen Magister Kenntnis erlangte. Schließlich standen beide Parteien vor demselben Problem: Eine große Menge an Traditionsliteratur – auf der einen Seite die Kirchenväter, auf der anderen Seite die rabbinischen Quellen – sollte für die allgemeine Bildung und den Unterricht aufbereitet und auf das Wesentliche konzentriert dargeboten werden, und dies alles vor dem Hintergrund der sich auf beiden Seiten Bahn brechenden neuen theologischen Rationalität.

Hebräische GlossenkommentareVon den bereits erwähnten frühen Raschi-Manuskripten (MSS München Cod. hebr. 5; Wien Cod. hebr. 220; Leipzig B.H. fol. 1) zeigt nur MS Leipzig die äußere Form, die sich seit Raschis Zeiten für die nordfranzösischen Bibelkommentare sukzessive durchsetzen sollte. Diese Handschrift enthält den Bibeltext, den Targum*, masoretische Notizen (masora parva* und masora magna*) sowie unter dem Bibeltext den Kommentar des Raschi. Die anderen Handschriften bieten lediglich den Kommentartext als zentralen Haupttext, aber dies ist sicher eine spätere Entwicklung. Wiederum verweisen die älteren Einbandfragmente darauf, dass die biblischen Kommentare wohl schon früh an den Bibeltext angebunden wurden, sodass die mise-en-page eines Manuskriptes oftmals durch den biblischen Text und seine Kommentierung konstituiert war. Eine solche Folio*-Aufteilung zeigen auch einige der Qara-Handschriften. Wir können davon ausgehen, dass Raschi und seine Schule glossenartige Kommentare verfasst haben, die zunächst von Schülern auf Wachstafeln notiert wurden und zirkulierten, um dann später auch auf Pergament fixiert zu werden. Glossenkommentare setzen allerdings eine gebotene Kürze der exegetischen Notizen voraus, da nicht unbegrenzt Platz vorhanden war. Wer einmal ein Midraschwerk* (z.B. Midrasch Rabba oder Midrasch Tanchuma) aufgeschlagen hat, weiß, dass hier in epischer Breite eine Vielzahl möglicher Auslegungen zu einem Vers additiv geboten werden. Diese Form war nun nicht unbedingt darauf angelegt, sie im Unterricht ad hoc zu nutzen. Zudem war auch die Traditionsliteratur im 11. Jahrhundert zu einem Dickicht angewachsen, durch das eine Schneise zu schlagen dringend geboten schien. So waren diese ersten Kommentare von einem doppelten Anspruch geprägt: Inhaltlich sollte eine passende Erklärung zu einem Bibelvers geboten werden (peshat), bzw. sollte, wie im Falle Raschis, eine von ihm getroffene Auswahl an Midraschmaterial in einer Weise präsentiert werden, die den Schülern die Relationierung von Bibel und Midraschliteratur ermöglichte. Formal konnte eine solch kondensierte Form der Midrasch-Überlieferung problemlos dem Bibeltext beigesellt werden.

|56|Raschi als hebräische ‚Glossa Ordinaria‘Ein formaler Vergleich zwischen Raschi und den lateinischen Kompilatoren des 10./11. Jahrhunderts liegt deshalb nahe, unabhängig davon, in welchem Umfang den jüdischen Gelehrten die lateinischen Glossenkommentare selbst zugänglich waren. Hanna Liss hat in diesem Zusammenhang dargelegt, dass Raschis Kommentare durchaus als erste ‚jüdische Glossa Ordinaria‘ zu beschreiben und ihrem Anspruch nach wohl am ehesten mit der Media Glossatura des Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154) oder der Magna Glossatura des Petrus Lombardus (ca. 1100–1160) zu vergleichen sind (Liss 2011a, 35–55). Das Problem einer fluktuierenden Überlieferung und die Frage, ob und wenn ja, welcher ‚Autor‘ hinter den nordfranzösischen exegetischen Überlieferungen steht, betrifft insgesamt das Verhältnis Raschis zu seinem Schülerkreis, zu dem neben seinem Gefolgsmann und Chronisten R. Schema‘ja auch R. Josef ben Schim‘on Qara und vor allem seine Enkel R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam) und R. Ja‘aqov ben Meïr (Rabbenu Tam) gehören. R. Josef Qara wurde bereits von Leopold Zunz und Abraham Berliner als Glossator vorgestellt. Dabei gingen sie davon aus, dass R. Josef weniger den eigentlichen Bibeltext als vor allem den Raschi-Kommentar kommentierte, und diese Meinung wird auch heute noch von einigen Kollegen vertreten. Man stützt sich dabei auf handschriftliche Textzeugen, in denen R. Josef Qara als מעתיק (ma‘atiq ‚Kopist‘) oder כותב (kotev ‚Schreiber‘) Erwähnung findet. Schwierig ist bei dieser Debatte, dass die hebräischen Manuskripte die einzelnen Tosafisten* nicht einheitlich benennen und nach wie vor keine Kriterien entwickelt wurden, nach denen sich entscheiden ließe, was denn von wem mit welchem Anspruch verfasst wurde (zum Ganzen zuletzt Lederer-Brüchner 2017, 45–60). Eine eindeutige Terminologie der Zuschreibungen, wie wir sie im lateinischen Mittelalter mit den Begriffen scriptor, compilator, commentator und auctor ausmachen können, findet sich in der hebräischen Kommentarliteratur nicht. Darüber hinaus ist die Zuordnung exegetischer Kommentierungen zu einzelnen Tosafisten auch deshalb schwierig, weil die auf uns gekommenen handschriftlichen Textzeugen die Glossen unterschiedlich präzisieren. Manche Glossen werden mit einem (Vor-)Namen versehen (‚R. Josef‘; ‚R. Schemu’el‘), andere nicht, und wieder andere überliefern ähnliche Glossierungen unter verschiedenen Namen (Liss 2016a). Der handschriftliche Befund verbietet allerdings vorschnelle Zuordnungen. Weitere Detailforschungen an jeder einzelnen Handschrift und jedem einzelnen biblischen Buch, wie zuletzt beispielhaft in dem umfangreichen Vergleich zu den Qara-Kommentaren zum Buch Rut von Ingeborg Lederer-Brüchner (Lederer-Brüchner 2017), sind hier erforderlich. Der Zugang zu den exegetischen Glossen vermittels des Manu|57|skriptes kann überdies den Blick für Dinge schärfen, die bislang in der Bearbeitung der Glossen unberücksichtigt geblieben sind. Dazu gehören auch die Buch-‚formen‘ (einschließlich mise-en-texte und mise-en-page), das Layout der Glossen oder die Schreibrichtung (dazu ausführlich Liss 2018b).