Jüdische Bibelauslegung

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1.2. Die Anfänge judäo-arabischer Grammatik und Schriftauslegung
a. Der Beginn der philologischen und philosophischen Bibelauslegung

R. Sa‘adja ben Josef al-FayyūmīDie wichtigsten Exponenten für eine beginnende Bibelkommentarliteratur sind gleichzeitig Repräsentanten der letzten Generationen der sog. Geonim* in Sura/Babylonien: R. Sa‘adja ben Josef al-Fayyūmī (882–942, auch bekannt als R. Sa‘adja Gaon) und R. Schemu’el ben Chofni (st. 1034). R. Sa‘adja war ein Ägypter, der seinen Weg über Palästina nach Babylonien fand und dort als Gaon* in Sura von 928 an bis zu seinem Tod amtierte. Ca. 998 |27|und damit einige Generationen nach R. Sa‘adja folgte als einer der letzten Geonim in Sura R. Schemu’el ben Chofni, der R. Sa‘adjas Werk fortsetzte und sich ebenfalls besonders der Bibelauslegung zuwandte.

R. Sa‘adja als SprachwissenschaftlerR. Sa‘adja, der nicht nur als Bibelexeget, sondern gleichermaßen als Philosoph, Sprach- und Rechtsgelehrter die Akademie in Sura wieder zu neuem Glanz gebracht hatte, beschäftigte sich nicht nur intensiv mit der hebräischen Sprache, sondern gleichermaßen mit der Hebräischen Bibel. Sein arabisch-hebräisches Wörterbuch (Egron; verfasst zwischen 905–925 u.Z. und bis 930 u.Z. mehrfach überarbeitet) zeigt eine ausgeprägt philologische Beschäftigung mit der Bibel, insofern ca. 80 % der dort gebotenen Einträge dem biblischen Schrifttum entspringen. In seinem Sefer Tzachut ‚Buch der Erlesenheit [der hebräischen Sprache]‘ diskutiert R. Sa‘adja (u.a.) die Buchstaben des Alphabets, diakritische Zeichen wie Dagesch* und Rafe*, die Vokale und Lautgesetze. Darüber hinaus ist er der wichtigste Vertreter der judäo-arabischen Gelehrsamkeit, von dem R. Avraham ibn Ezra später sagen sollte, er war in jeder Hinsicht der führende Kopf (rosch ha-medabberim be-khol maqom).

Bibelauslegung und Koran-ExegeseViele der Bibelkommentare von R. Sa‘adja sind mittlerweile kritisch ediert. Hier waren auch die Funde aus der Geniza* in Alt-Kairo von unschätzbarem Wert (Vollandt 2009). Übersetzungen (außer ins Hebräische) liegen aber bislang für die wenigsten vor. R. Sa‘adjas Schriften zur Bibel zeigen einen deutlichen Einfluss des islamischen Genre des arabischen Tafsīr* (‚Interpretation‘; vgl. Vollandt 2015; 2014). Der Tafsīr ist textchronologisch nach den einzelnen Suren des Koran aufgebaut. R. Sa‘adja übersetzte neben dem Pentateuch (Zucker 1959) das Buch Jesaja, aus den Schriften die Bücher Ester, Mischle (Proverbia) und Psalmen sowie das Buch Daniel ins Mittelarabische und fertigte für einige der biblischen Bücher einen Kommentar an, unter anderem den Kommentar zum Pentateuch (arab. Kitāb al-Azhar ‚Das Buch des Glanzes‘), den fünf Megillot* und dem Buch Ezra. Später arrangierte er noch eine Bibelübersetzung ins Arabische (‚Tafsīr‘), die in großen Teilen paraphrasierend gestaltet ist und darin zwischen Übersetzung und exegetischer Explikation changiert (Vollandt 2015, bes. 80–84). Diese kommt dem islamischen Tafsīr als exegetischer Explikation des Koran bis in die Terminologie und Phraseologie hinein sehr nahe, und dies auch äußerlich, denn anders als viele judäo-arabische Gelehrte verwendete er nicht das hebräische, sondern das arabische Alphabet. Als wichtigster Repräsentant der islamischen Koran-Exegeten gilt heute der aus der iranischen Provinz Tabaristan stammende Abû Dscha‘far Muhammad ibn Dscharīr ibn Yazīd at-Tabarī (st. 923 in Bagdad), den R. Sa‘adja nachweislich |28|gekannt und in seinen Kommentaren verarbeitet hat. Insbesondere im Kommentar zum Buch Hiob lassen sich viele Gemeinsamkeiten mit den arabischen Auslegungen der Hiob-Passagen im Koran feststellen, wie auch umgekehrt Koran-Exegeten den Midrasch* für ihre Auslegungen heranzogen. R. Avraham ibn Ezra zufolge (kurzer Kommentar zu Gen 2,11 [ed. Weiser 1977]) übersetzte R. Sa‘adja Gaon die biblischen Bücher nicht allein für die jüdischen, sondern auch für seine muslimischen Zeitgenossen, damit niemand sagen könne, die Tora enthalte Wörter, deren Bedeutung man nicht kenne.

Die Rhetorik von Koran und PsalmenR. Sa‘adjas Psalmen-Kommentar stellt ein Parade-Beispiel dafür dar, dass sich die jüdische Bibelauslegung stets in lebendiger Auseinandersetzung mit gegnerischen oder zumindest konkurrierenden Gruppen vollzieht. Gegen die Karäer*, die die Psalmen zwar liturgisch verwendeten, in ihnen aber keinen göttlichen Anspruch zur moralischen Vervollkommnung des Menschen erkannten, insistierte R. Sa‘adja auf einem Verständnis der Psalmen als göttlicher Offenbarung an David, der sie als Prophet empfing, und stellte sie sogar mit dem Pentateuch auf eine Stufe. Der Pentateuch wie die Psalmen seien von Gott gegeben, um den Menschen zu einem gottgemäßen Leben zu führen. Gegen die muslimischen Zeitgenossen wiederum, die die rhetorische Eloquenz göttlicher Rede mit dem Koran auf dem Höhepunkt angekommen sahen, würdigte er in seinem Vorwort zum Psalmen-Kommentar deren rhetorische Kraft und sprachliche Vollkommenheit. Deshalb folgen in der Einleitung des Kommentars unmittelbar auf die philosophischen Grundlegungen die rhetorischen und sprachlichen Themen. Analog zu seinem Buch über die Elemente der Poesie zählt R. Sa‘adja fünf Grundformen menschlicher Rede auf: Ermahnung (Ps 78,1), (rhetorische) Frage (Ps 106,2), Erzählung (Ps 104,5), Imperativ/Gebot/Verbot (Ps 27,14; 37,1) sowie (Für-)Bitte/Gebet (Ps 90,14–15). Wie umfassend R. Sa‘adja seine Bibelauslegung betrieb, zeigt sich überdies auch daran, dass die Einleitung zum Psalmen-Kommentar musiktheoretische und aufführungspraktische Details ebenso diskutiert wie den ‚Sitz im Leben‘ der Psalmen im Tempelkult und ihr redaktionelles Arrangement. Auch im Jesaja-Kommentar zeigt R. Sa‘adja ein gutes literarisches Gattungsempfinden: Danach finden sich in diesem Buch sowohl Unheils- wie auch Trostworte, die einen Ausgleich zwischen Heilszusage als positiver und Strafandrohung als negativer Motivation für den Menschen auf seinem Weg zur Vollkommenheit schaffen.

Kalām und Mu‘tazilaObwohl beeinflusst durch die dialektische Theologie des Kalām*, steht R. Sa‘adja als Philosoph vor allem in der Tradition der rationalistisch geprägten islamischen Theologie der Mu‘tazila*, und auch seine Bibelauslegung ist ohne diese Denkrichtung nicht zu |29|verstehen. Er war der Meinung, dass Gottes Offenbarung nicht im Widerspruch zur menschlichen Vernunft stehe, und, wiederum analog zur islamischen Koran-Exegese, suchte er daher, die in den biblischen Büchern verwendete (Bild-)Sprache klar und einleuchtend zu erklären. Seine biblischen Kommentare zeigen denn auch immer einen philosophisch-systematischen Zugriff. Die biblischen Bücher stellte er jeweils unter plakative Überschriften, die die Botschaft des Buches am deutlichsten repräsentierten. So betitelte er das Buch Jesaja mit Buch von der Wiederherstellung des rechten Gottesdienstes/Buch des Strebens nach Verbesserung des Gottesdienstes, das Buch Mischle (Proverbia) mit Das Buch für die Suche nach der Weisheit. Hiob repräsentierte für ihn das Buch der Theodizee. Auch der Psalmen-Kommentar beginnt mit grundlegenden philosophischen Darlegungen. Seinem Pentateuch-Kommentar stellte R. Sa‘adja eine lange Einleitung voran, in der er nicht nur die fünf Bücher Mose und ihre wichtigsten Themen vorstellte, sondern auch seine eigene exegetische Zugangsweise. Wichtig ist ihm insbesondere das Verhältnis von Peschat* (bei R. Sa‘adja als Literalsinn definiert) und figürlicher Redeweise. Erste Aufgabe des Auslegers sei die Nachzeichnung und Erklärung des einfachen Wortsinnes. Nur in Ausnahmefällen, wo der biblische Ausdruck nicht wörtlich zu nehmen sei, weil er den Naturgesetzen oder dem Intellekt widerspreche, oder in Fällen, wo explizit eine übertragene Rede vorliege, solle der Ausleger den Bibeltext entsprechend der menschlichen Vernunft und einer den Naturgesetzen gemäßen Weise auslegen. R. Sa‘adja nimmt hier schon methodische Überlegungen vorweg, die sich später bei R. Avraham ibn Ezra, Maimonides u.a. finden und vor allem in Bezug auf die anthropomorphen Gottesbeschreibungen in der Hebräischen Bibel zur Anwendung kommen. So erklärt R. Sa‘adja in der Einleitung zum Pentateuch, dass die Beschreibung Gottes als ‚verzehrendes Feuer‘ (Dtn 4,24) als bildliche Rede zu verstehen sei, denn Feuer sei eine veränderliche und vergängliche Substanz; Gottes Wesen hingegen sei (nach der aristotelischen Gotteslehre) neben den Attributen der Allgegenwart und Unsichtbarkeit ewig und unveränderlich. Man sieht deutlich, dass R. Sa‘adja den Bibeltext an philosophischen Urteilen und Grundsätzen misst.

Der wahre GottesdienstÄhnliches gilt auch für Fragen der Ethik und der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Für R. Sa‘adja ist der Pentateuch das Buch, das den wahren Gottesdienst lehrt, der vor allem in der Ausübung der Gebote bestehe. Dem Buch Hiob, das ja ohnehin attraktiv ist für theologische Fragen, die die Relation von Gott und Mensch thematisieren, ist ebenfalls eine Einleitung vorangestellt, in der R. Sa‘adja die für ihn wichtigsten Themen des Buches vorstellt. Die Theodizeefrage, die für ihn zentrale Bedeutung hat, wird dabei |30|in den Kontext der göttlichen Wohltätigkeit für den Menschen gestellt, wonach Disziplin und Unterweisung, Reinigung und Strafe, Versuchung und Erprobung die grundlegenden Parameter darstellen, mit denen Gott den Menschen zu einem gottgemäßen Leben führen will. In dieser Ethisierung der biblischen Botschaft zeigt sich gleichzeitig der Anspruch ihrer Universalisierung, was vor allem für die Auseinandersetzung mit dem Islam eine wichtige Rolle spielte.

Die Gotteslehre R. Sa‘adjasNeben den eigentlichen Bibelkommentaren sind jene Auslegungen von Bibelstellen und biblischen Themen kurz zu erwähnen, die R. Sa‘adja in seinen philosophischen Traktaten ausgeführt hat. Sie sind ebenfalls für die spätere mittelalterliche Rezeptionsgeschichte im aschkenasischen* Raum sehr wichtig geworden. Auch hier spielen die biblischen Ausdrücke, die von Gott in übertragener Rede sprechen, eine große Rolle. Das zweite Kapitel seines philosophischen Hauptwerkes Buch der Glaubenslehren und der Überzeugungen (ursprünglich auf Arabisch Kitāb al-Amānāt wa'l-I'tiqādāt; 1095 von einem anonymen Dichter in einer paraphrasierenden Form ins Hebräische übersetzt; 1186 nochmals von Jehuda ibn Tibbon unter dem Titel Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot ins Hebräische übertragen; ed. Kitorer 1885) behandelt unterschiedliche Themen der philosophischen Gotteslehre, wie Wesen und Attribute der Gottheit (Einheit/Einzigkeit, Unveränderlichkeit, Unsichtbarkeit, Allgegenwart u.a.; vgl. Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot bes. II,2; II,4; II,9–13). Am Ende dieses Abschnittes diskutiert R. Sa‘adja die rationale Gotteserkenntnis und die Abwehr der Vorstellung einer sinnlichen Erfahrbarkeit des göttlichen Daseins. Diese philosophische Maxime wird natürlich dort sehr wichtig, wo die Frage nach der göttlichen Offenbarung und Erfahrbarkeit für den Menschen gestellt wird, ein Thema, das in der Bibel an vielen Stellen aufscheint. R. Sa‘adja formuliert deshalb einen ausführlichen Exkurs zu der Bitte des Mosche, die ‚Herrlichkeit‘ Gottes (kavod) schauen zu dürfen (Ex 33,18; R. Sa‘adja, Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot II).

 

Der Schöpfer und seine OffenbarungR. Sa‘adjas Bibelauslegung ist getragen von dem Bemühen, die philosophische Gotteslehre mit der biblischen zu verbinden. In seiner Interpretation der göttlichen Offenbarung unterscheidet sich R. Sa‘adja grundlegend vom rabbinischen Verständnis (Liss 2001). Hatten die rabbinischen Gelehrten den biblischen Ausdruck der ‚Herrlichkeit (Gottes)‘ (kavod) auf der Basis des Targum* als Schekhina* ‚Einwohnung‘ Gottes vorgestellt und dabei noch nicht zwischen einem unsichtbaren und allpräsenten Schöpfergott und seiner sichtbaren und lokal begrenzten Offenbarung unterschieden (Goldberg 1969), so erfährt diese Konzeption seit R. Sa‘adja eine entscheidende philosophische Wendung: Der kavod galt zwar weiterhin als Offenbarung Gottes. Allerdings wurde sie als geschöpf|31|liche Offenbarung vorgestellt, die sich darin wesentlich von Gott selbst unterschied. R. Sa‘adja definierte als erster den kavod als geschöpfliche Lichterscheinung, eine Art Engel, die sich den Propheten gezeigt habe. Er argumentierte, dass die anthropomorphen Beschreibungen der Bibel nicht Gott selbst meinen könnten, da Gott sowohl unsichtbar als auch unkörperlich und demnach als mit seinen visuellen Offenbarungen auch nicht identisch vorzustellen sei.

Hier ist deutlich zu sehen, dass R. Sa‘adja seinen Ausgangspunkt nicht bei den biblischen Vorstellungen nimmt, sondern bei den philosophischen Vorgaben, in die hinein die biblische Überlieferung eingepasst werden sollte. Formal stellt also die philosophische Bibelauslegung R. Sa‘adjas den Versuch der Integration des Alten, nämlich der biblisch-rabbinischen Tradition, in das Neue (die philosophische Gotteslehre) dar. In diesem Punkt sind ihm auch die nachfolgenden jüdischen Philosophen und Bibelkommentatoren wie beispielsweise Maimonides im Großen und Ganzen gefolgt. Dabei war ihnen eines gemeinsam: ein weitgehend unverbundenes Nebeneinander einer universal gültigen philosophischen Gotteslehre einerseits und des aus der biblischen Offenbarung heraus formulierten partikularen Gebots- und Gebetsanspruchs an Israel andererseits. Horizontale und vertikale Ebene klafften auseinander.

b. Die Herausforderung durch die karäischen Exegeten

Die HandschriftenSammlung des Avraham FirkovichWie in wohl keinem anderen Feld der Jüdischen Studien sind die Forschungen zu den Karäern* (qara’im) in den letzten Jahren zu einem wirklichen Aufschwung gekommen (Polliack 2003a; 1997; Khan 2001; 1990), was vor allem durch den seit den neunziger Jahren ermöglichten wissenschaftlichen Zugang zu den Handschriften aus der Sammlung Firkovich in St. Petersburg ausgelöst wurde.

Avraham Firkovich (1786–1874), eine führende Autorität der Karäer Osteuropas, hatte zwischen 1863 und 1865 eine große Anzahl von Handschriften erworben. Die Sammlung umfasst mehr als 15000 hebräische, arabische und samaritanische* Schriften und Traktate (zum Ganzen Walfish 2011; Polliack 2003a; 2003b; 1997). Erst jetzt konnten zum ersten Mal kritische Texteditionen in Angriff genommen und der gesamte soziokulturelle Hintergrund der Karäer untersucht werden. Für die Geschichte des Judentums im Mittelalter, insbesondere für die Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft, hat sich dadurch ein vollkommener Paradigmenwechsel gegenüber der älteren Forschung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen: Die Karäer waren alles andere als eine marginale Sekte, sondern eine kraftvolle intellektuelle Bewegung, |32|die dem ganzen Judentum nachhaltig einen Stempel aufdrückte und vor allem eine grundsätzliche hermeneutische Debatte zum Schriftverständnis und zur Relation zwischen schriftlicher und mündlicher Tora aufzwang. In seiner Anfangszeit war der Karaismus daher eine innerjüdische Bewegung, die sich keinesfalls halachisch vom übrigen (‚rabbanitischen‘) Judentum unterschied. Dies lässt sich bereits daran erkennen, dass wir bis zum frühen 13. Jahrhundert eine Vielzahl von Eheschließungen zwischen Karäern und Rabbaniten beurkundet sehen. Erst seit dem frühen 13. Jahrhundert wurden solche Eheschließungen als ‚Mischehen‘ verboten.

Das Goldene Zeitalter der KaräerDas ‚Goldene Zeitalter‘ der Karäer lag im 10. und 11. Jahrhundert, und ihre wichtigsten Repräsentanten waren Daniel al-Qûmisî, Ya‎‘‎qûb al-Qirqisânî, Benjamin ben Mosche al-Nahawendi oder Jefet ben Eli ha-Levi (Abu Ali ibn al-Hasan ibn Ali al-Basri; st. nach 1004/05). Gab es zwar schon vorher karäische Zentren im Gebiet des heutigen Iran und Irak, so muss man doch sagen, dass ein Großteil der karäischen Texte aus ihrer Glanzzeit in Palästina, genauer gesagt: Jerusalem, stammt und ein jähes Ende mit der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099 fand. Das handschriftliche Erbe wurde in die karäische Gemeinde nach Kairo gebracht, wo es auch Firkovich im 19. Jahrhundert zum größten Teil erwarb.

Die karäischen AnanitenDie karäischen Gründungserzählungen berufen sich zumeist auf Anan ben David (lebte Mitte 8. Jahrhundert in Babylonien/Irak). Im strengen Sinn ist er jedoch der Begründer einer zahlenmäßig viel kleineren und einflussloseren Gruppe, der sog. Ananiten (ananijjim). Anan wird eine Losung zugesprochen, die, wo immer ihre Ursprünge tatsächlich zu suchen sind, sehr gut auf den Punkt bringt, was karäisches Schriftverständnis ausmacht: Forscht ordentlich (selbst) in der Schrift und verlasst euch nicht auf meine Meinung. Dieses Motto verweist nicht nur auf intensives Studium der schriftlichen Tora, sondern relativiert gleichzeitig das Prinzip der mündlichen Tora im Sinne der Hochhaltung der Meinung früherer Tradenten. Die Karäer sind daher auch nicht umsonst immer wieder mit den Masoreten in Verbindung gebracht worden (Zer 2009), denn wie diese zeichneten auch sie sich durch große Texttreue und intensive philologische Arbeit am biblischen Text aus (Polliack 2003b; 1997; Khan 2001). Die Bibel war die Hauptquelle der Autorität, wie schon am hebräischen Namen dieser Gruppe zu sehen ist: qara’imba‘ale ha-miqra ‚Meister der Schrift‘ – bene ha-miqra ‚Söhne der Schrift‘. Der Qara war derjenige, der die Bibel studiert und lehrt (auch der spätere Raschi-Schüler Josef ben Schim‘on aus Nordfrankreich trug den Beinamen ‚Qara‘). Untersuchungen an der Bibel gründeten sich nicht auf eine traditionelle Autorität, sondern auf rationale, und hier vor allem auf sprachwissenschaft|33|liche Faktoren: Lexikographie und Grammatik. Vor diesem Hintergrund wurde die mündliche Tora* in ihrer halachischen Autorität oftmals in Frage gestellt. Passte die rabbinische halachische Entscheidung in dieses Konzept, wurde sie allerdings auch oft genug positiv rezipiert.

Die halachische Exegese der KaräerIn ihrem Schrift- und Traditionsverständnis entwickelten die Karäer eine andere, mit der rabbanitischen rivalisierende Halakha*. Im Vergleich waren karäische Richtlinien in vielen Punkten aber eher erschwerend. Anan, der sich auch im rabbinischen Schrifttum sehr gut auskannte, lehnte zwar einen Teil der rabbinischen hermeneutischen Regeln zur Schriftauslegung ab; anderes wurde jedoch im Zusammenhang mit der karäischen Entwicklung der Halakha modifiziert. Schlussendlich geht es gar nicht um die einzelnen exegetischen middot*, sondern darum, ob sich halachische Begründungen induktiv oder deduktiv ergeben: Dies scheint denn auch der entscheidende Punkt zu sein, an dem sich rabbanitische und karäische Argumentation voneinander unterscheiden. Es ist zwar richtig, dass die Tora stets als Rechtsgrundlage der späteren Halakha behauptet wurde; nicht richtig ist, dass sie es je war, zumindest nicht so geradlinig, wie man es oftmals voraussetzt. Die pharisäisch*-rabbinische* Linie organisierte ihr Rechtsleben in erster Linie auf der Basis der mündlichen Tora und darin auf der Basis auch der gängigen Praxis, zu der im Nachhinein (induktiv) eine exegetische Begründung gegeben wurde. Die rabbinisch-rabbanitische Ideologie sah in der biblischen Tora niemals einfach das ‚jüdische Gesetz‘, sondern die Möglichkeit, aus einer Sammlung von Rechtstexten einen für spätere kreative Applikation(en) offenen Text werden zu lassen. Die von al-Qûmisî gebotene und zumeist mit negativen Konnotationen belegte Charakterisierung der rabbinisch-rabbanitischen Halakha als mitzwat anaschim melummada (‚gelehrtes Menschengebot‘;) trifft daher den Sachverhalt genau: Das rabbinische Diktum ‚Sie [die Tora] ist nicht im Himmel‘ (Dtn 30,12; vgl. auch bBM 59b) implizierte ja gerade, dass die rabbinische Exegese nicht auf prophetische Offenbarungen oder prophetisch inspirierte Lehrer setzte, sondern ihre Interpretationen und theoretische Rechtspraxis im Rahmen von Traditionsliteratur formulierte und sie damit ausschließlich in Auseinandersetzung mit der Tradition und gleichzeitig als ein weiteres Teilstück von ihr gestaltete (… mi-Sinai, von [der am] Sinai [gegebenen Tora abgeleitet]).

Demgegenüber insistierten die Karäer auf den ‚Geboten Gottes‘. Eine besondere Rolle für die karäische Ideologie spielte dabei Psalm 119, denn man bezog die in Ps 119,1 genannten ‚im Weg Untadeligen‘ (temime derekh) als die, die ‚im Gesetz des Ewigen |34|wandeln‘, auf sich. Bereits Anan suchte die Halakha aus der Schrift heraus (deduktiv) zu entwickeln. Die exegetischen Prinzipien, die er dabei anwandte, wirken dabei heute mindestens so sachfremd wie rabbinische Gematria* oder Notariqon*. Dabei wandte er insbesondere das Prinzip einer Analogie (heqqesch*) einzelner Wörter oder Phrasen für seine halachischen Entscheidungen an.

Die Karäer als GrammatikerUnter den karäischen Grammatikern des 10. Jahrhunderts sind besonders der ursprünglich aus dem Irak stammende Abû Ya‘qûb Yûsuf ibn Nûḥ und Abû al-Faraj Hârûn ibn Faraj zu nennen, die beide zur karäischen Gemeinde Jerusalems gehörten. Ihre Werke sind in den letzten Jahren v.a. durch den britischen Sprachwissenschaftler Geoffrey Allan Khan sukzessive und umfassend erschlossen worden und haben unser Wissen über diese frühe und wichtige Tradition der hebräischen Sprachwissenschaft auf ganz neue Füße gestellt. Abû al-Faraj Hârûn beschäftigte sich in verschiedenen Schriften mit der hebräischen Sprache. So verfasste er beispielsweise einen Traktat Hidâyat al-Qâri’ (‚Leitfaden für den Leser‘), in dem er Ausspracheregeln und Akzente behandelte. Ibn Nûḥ schrieb nicht nur Bibelkommentare, die sich mit übersetzungstechnischen und grammatischen Fragen beschäftigen, sondern auch eine auf Arabisch verfasste Grammatik des Hebräischen (diqduq). Nach Khan gab es im 10. Jahrhundert auch in Isfahan und Basra eine Reihe karäischer Grammatiker, auf die sich auch al-Qirqisânî beruft.

Die sog. ‚Trauernden von Zion‘Insbesondere in der Theologie al-Qûmisîs avancierte Jerusalem als heilige Stadt zum religiösen Zentrum. Al-Qûmisî war davon überzeugt, dass das Ende der Zeit nahe bevorstand. Daher führte er bestimmte Trauerbräuche und Gebete ein, die das Kommen des Messias beschleunigen sollten. Aus dieser Bewegung gingen im 10. Jahrhundert die sog. ‚Trauernden von Zion‘ hervor (avele tzijjon; vgl. Jes 61,3; vgl. auch bBB 60b). Von al-Qûmisîs exegetischen Schriften liegt der Kommentar zum Zwölfprophetenbuch vor (pitron schenem asar), der neben der vers-chronologischen Auslegung in hebräischer Sprache eine Vielzahl arabischer Glossen bietet. Diese Art des Kommentars ist also vergleichbar mit den später in Nordfrankreich in die Kommentare eingestreuten champagnischen und anglo-normannischen Glossen. Der wichtigste Vertreter der avele tzijjon war Ya‘aqûb al-Qirqisânî, dessen Schriften erst allmählich ediert und bearbeitet werden. Seine (wie auch bei R. Sa‘adja auf Arabisch verfassten) Werke umfassen neben hermeneutischen Schriften zur karäischen Halakha und zum Schriftverständnis (z.B. ‚Das Buch des Lichts‘; ‚Das Buch der Gärten‘) auch Fragmente zu einem eigenständigen Genesis-Kommentar (tafsîr Bereschit).

 

|35|Die Karäer und ihr Verhältnis zur Qumran-ExegeseAl-Qûmisîs Prophetenexegese zeichnet sich dadurch aus, dass die prophetischen Dicta in einer fast ‚Pescher-ähnlichen‘ Weise auf die eigene Zeit hin ausgelegt werden. Überhaupt zeigt sich, dass die karäische Exegese sowohl formal als auch inhaltlich eine Reihe von Aspekten mit den pescharim gemeinsam hat (so schon Kahle 1959, 17–28). Die Karäer kannten zumindest Teile der Texte von Qumran, die aus den Höhlen bei Jericho nach Jerusalem gebracht worden waren (vgl. bereits Kahle 1959, 17–28). Ya‘aqûb al-Qirqisânî nennt neben den Sadduzäern und Pharisäern* eine jüdische Gruppe, die er einfach mit maghārīya (‚Höhlen-Leute‘) betitelt. Die für die sog. Damaskusschrift (Covenant of Damascus CD) und die Gemeinde- oder Sektenregel (1QS) signifikante Vorstellung der zwei Messiasse (einer aus dem Geschlecht Aharons, also priesterlich, sowie einer aus dem Geschlecht Israels, d.h. ein Laie) findet sich auch im karäischen Schrifttum: In seiner Auslegung von Sach 4,14 (Dies sind die beiden Gesalbten …) identifiziert David ben Abraham al-Fasi den priesterlichen Messias als Elija, den anderen hingegen als den davidischen Messias. Auch hinsichtlich des Verständnisses der Prophetenbücher lassen sich erstaunliche Parallelen zwischen den Schriftrollen vom Toten Meer und den Karäern feststellen: Wie in den pescharim zum Buch Habakuk (1QpHab) oder zum Buch Hosea (4Q167), die eine Interpretation ausschließlich in Richtung auf die gegenwärtige Gemeinde in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt zeigen, weisen auch die Karäer eine Auslegungshermeneutik auf, die die prophetischen Bücher konsequent vor ihrem eigenen – dem karäischen – Hintergrund ausdeutet und darin gleichzeitig behauptet, die Propheten hätten am wenigsten für ihre eigene Generation, sondern mehr für künftige Generationen geweissagt. So erklärt der später auch bei ibn Ezra viel zitierte Karäer Jefet ben Eli (st. nach 1004/05) zu Beginn seines Hosea-Kommentars, dass die meisten der Spruchworte des Propheten nicht tradiert worden seien. Es seien nur jene Worte überliefert worden, die für die künftige Gemeinde im Exil von Relevanz sein würden; die an die Zeitgenossen gerichteten Reden habe man gestrichen. Auch terminologisch finden sich enge Anlehnungen in der späteren Auslegungsgeschichte: ibn Ezra zitiert eine Auslegung Jefet ben Elis zu Joel 2,23, die den Lehrer (more) erwähnt, der ein Prophet sei (navi) und Israel den Weg der Gerechtigkeit (tzedeq) lehre. Al-Qûmisî argumentierte in seiner Auslegung zu Ps 74,6, dass jedes Wort in der Bibel nur eine wahre Bedeutung (pitron) haben könne, selbst, wenn die Menschen es unterschiedlich interpretierten. Die endgültige Bedeutung werde mit dem Kommen des ‚Lehrers der Gerechtigkeit‘ (more tzedeq) offenbar werden. Die Anspielungen auf den (prophetischen) ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘ aus Qumran sind |36|jeweils unüberhörbar (Polliack 2005). Auch mit Blick auf die Psalmenauslegung finden sich Gemeinsamkeiten: so galt den Karäern David als inspirierter liturgischer Dichter, eine Charakterisierung, die sich auch schon in 11Q5 findet.

Analog zu den Pescher-Kommentaren aus Qumran spielt die Auseinandersetzung mit feindlichen Gruppierungen auch bei den Karäern eine große Rolle. Nach der Deutung al-Qûmisîs sind mit den im Buch Hosea genannten Ländern Assur und Ägypten die Länder der jüdischen Diaspora gemeint. Die in Hos 8,7 formulierte prophetische Kritik (Ja, Eschkol, und Sturm ernten sie …) bezog al-Qûmisî auf die vom rabbanitischen Judentum etablierten und damit auf der mündlichen Überlieferung gründenden halachischen Vorschriften, die sich durch die Zeiten ändern wie ein vorbeistreifender Wind.

Jehuda ben Eliyahu HadassiIm 12. Jahrhundert nimmt auch die Polemik gegen das rabbinisch-rabbanitische Judentum zu. Jehuda ben Eliyahu Hadassi aus Konstantinopel (Mitte 12. Jahrhundert) hinterließ eine umfangreiche Schrift mit dem Titel Eschkol ha-Kofer, verfasst 1148/9. Eschkol ha-Kofer (‚das Büschel der Henna-Rispe‘) gilt als karäische Grundsatzschrift. Hadassi wollte damit ein umfangreiches Handbuch des karäischen Glaubens- und Toraverständnisses herausbringen. Auch im Eschkol ha-Kofer sehen wir, dass die Grammatik eine zentrale Rolle in der karäischen Exegese spielte. Der sechste von den zehn Glaubensartikeln der Karäer verlangt, ‚(tiefere) Einsicht in die Beschaffenheit der (hebräischen) Sprache zu gewinnen‘ (le-haskil leschona mah hi). Der Eschkol stellt die Prinzipien der Schriftauslegung zusammen, die dort als ‚60 Könige der Wörter und ihrer Vokalisierung‘ bezeichnet werden. Daneben integriert der Eschkol eine kleine Abhandlung, die den Titel ‚fünf Prinzipien (‎‎‘iqqarim) der erlesenen Sprache‘ trägt. Dieser Essay beschäftigt sich mit den fünf Vokalen, analog zu R. Sa‘adjas Sefer Tzachut (‚Buch der Erlesenheit [der hebräischen Sprache]‘), und wird auch später bei R. Avraham ibn Ezra wieder aufgenommen. Umgekehrt holte sich Hadassi für seinen Eschkol die Liste der 59 grammatischen Termini, die sich in der Einleitung zu ibn Ezras erstem grammatikalischen Werk, dem Buch Moznajjim (‚Waage‘) finden.