Jüdische Bibelauslegung

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|XXI|Abkürzungen
Allgemeine Abkürzungen


|XXII|ad loc.ad locum (d.h. an entsprechender Stelle/an entsprechendem Ort)
BHSBiblia Hebraica Stuttgartensia
BHQBiblia Hebraica Quinta
ed.ediert
ELBElberfelder Bibel (1993)
engl.englisch
fol.Folio
gedr.gedruckt
griech.griechisch
hebr.hebräisch
hi.Hif‘il
ital.italienisch
JPSTanakh Translation der Jewish Publication Society
JubAMoses Mendelssohn: Jubiläumsausgabe
Kap.Kapitel
LXXSeptuaginta
MS/MSSManuskript(e)
NDNachdruck
NFNeue Folge
Pers.Person
Pl.Plural
port.portugiesisch
Ps.Pseudo
rrecto
R.Rabbi/Rav
Sg.Singular
SHPSefer Chasidim, MS Parma 3280 H
span.spanisch
st.gestorben
TTPSpinoza, Tractatus Theologico-Politicus
u.Z.unsere[r] Zeitrechnung
vverso
V./Vv.Vers/Verse
v.u.Z.vor unserer Zeitrechnung
VULVulgata

Abkürzungen biblischer Bücher


|XXIII|GenBereschit/Genesis
ExSchemot/Exodus
LevWajjiqra/Leviticus
NumBemidbar/Numeri
DtnDevarim/Deuteronomium
JosJehoschua/Josua
RiSchoftim/Richter
1/2SamSchemuel/Samuel
1/2KönMelakhim/Könige
JesJeschajahu/Jesaja
JerJirmejahu/Jeremia
EzJechesqel/Ezechiel
HosHoschea/Hosea
JoelJoel
AmAmos
ObOvadja/Obadja
JonaJona
MiMikha
NahNachum/Nahum
HabChavaqquq/Habakuk
ZefZefanja
HagChaggai/Haggai
SachSecharja/Sacharja
MalMalachi/Maleachi
PsTehillim/Psalmen
SprMischle/Proverbia
HiIjov/Hiob
HldSchir ha-Schirim/Hohelied
RutRut
KlglEkha/Klagelieder
KohQohelet
EstEster
DanDaniel
EsrEsra
NehNechemja/Nehemia
ChrDivre ha-Jamim/Chronik

Abkürzungen von Mischna-, Tosefta- und Talmudtraktaten

Bei den folgenden Traktaten wird durch vorangestellte kleine Buchstaben spezifiziert, ob sie Traktate der Talmudim, der Mischna oder der Tosefta sind:


bTalmud Bavli (babylonischer Talmud)
mMischna
tTosefta
jTalmud Jeruschalmi (palästinischer Talmud)


|XXIV||XXV|ArArachin
AvAvot
AzAvoda Zara
BBBava Batra
BekhBechorot
BerBerachot
BesBetza (Jom Tov)
BikBikkurim
BMBava Metzia
BQBava Qamma
DemDemai
EdEdujot
ErEruvin
GitGittin
HagChagiga
HalChalla
HorHorajot
HulChullin
KelKelim
KerKeritot
KetKetubbot
KilKil’ajim
MaasMa‘aserot
MakMakkot
MakhMakhschirin
MegMegilla
MeilMe‘ila
MenMenachot
MidMiddot
MiqMiqwa’ot
MQMoed Qatan
MShMa‘aser Scheni
NazNazir
NedNedarim
NegNega‘im
NidNidda
OhalOhalot
OrlOrla
ParPara
PeaPe’a
PesPesachim
QidQidduschin
QinQinnim
RhShRosch ha-Schana
SanSanhedrin
ShabSchabbat
SheqScheqalim
SheviSchevi‘it
ShevuSchevu‘ot
SotSota
SukSukka
TaanTa‘anit
TamTamid
TemTemura
TerTerumot
TevYTevul Jom
TohToharot
UqUqtzin
YadJadajim
YevJevamot
YomJoma
Yom Tovsiehe (Betza)
ZavZavim
ZevZevachim

Abkürzungen von Midraschim und anderen rabbinischen Werken


|XXVI|ARNAvot deRabbi Natan
AZAvoda Zara
BamRBemidbar Rabba
BerRBereschit Rabba
DevRDevarim Rabba
EkhaREkha Rabba
EstREster Rabba
MekhShMechilta deRabbi Schimon ben Jochai
MekhYMechilta deRabbi Jischmael
MShemMidrasch Schemuel
MShirMidrasch Schir ha-Schirim
MTehMidrasch Tehillim
PdRKPesiqta de Rav Kahana
PesRPesiqta Rabbati
PREPirqe deRabbi Elieser
QohRQohelet Rabba
RutRRut Rabba
ShemRSchemot Rabba
ShirRShir ha-Schirim Rabba
SifBamSifre Bemidbar
SifDevSifre Devarim
SofSoferim
TanMidrasch Tanchuma
TanBMidrasch Tanchuma (Ausg. Buber)
TJonTargum Jonatan
TOTargum Onqelos
TPsJTargum Ps.-Jonatan (Targum Jerusalem I)
WaRWajjiqra Rabba
YalqJalqut Schim‘oni

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|XXVII|Transkriptionsregeln


אAlef’ (Im Wortanlaut oder -auslaut wird א nicht transkribiert.)
בBetb (בּ)/v (ב)
גGimelg
דDaletd
הHeh
וWaww
זZajinz
חChetch
טTett
יJodj/i
כ / ךKafk (כּ)/kh (כ)
לLamedl
מ / םMemm
נ / ןNunn
סSamekhs
עAjin‘ (Im Wortanlaut oder -auslaut wird ע nicht transkribiert.)
פ / ףPep (פּ)/f (פ)
צ / ץTzadetz
קQofq
רReschr
שׁSchinsch
שׂSins
תTawt

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|1|Einleitung

Berlin, Adele/Brettler, Marc Zvi (Hgg.), The Jewish Study Bible. Oxford/New York 22015.

 

Casper, Bernard Moses, An Introduction to Jewish Bible Commentaries. New York/London 1961.

Dohrmann, Natalie B./Stern, David (Hgg.), Jewish Biblical Interpretation and Cultural Exchange: Comparative Exegesis in Context (Jewish Culture and Context). Philadelphia 2008.

Najman, Hindy/Newman, Judith H. (Hgg.), The Idea of Biblical Interpretation: Essays in Honor of James L. Kugel (Supplements to the Journal for the Study of Judaism, Bd. 83). Leiden/Boston 2004.

Neusner, Jacob, Bible Interpretation: How Judaism Reads the Bible. In: Jacob Neusner/William Scott Green/Alan J. Avery-Peck (Hgg.), The Encyclopaedia of Judaism, Bd. 1. Leiden/Boston 22005, S. 193–210.

Sperling, Shalom David, Modern Jewish Interpretation. In: Adele Berlin/Marc Zvi Brettler (Hgg.), The Jewish Study Bible. Oxford/New York 22015, S. 1908–1919.

Die Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel vollzieht sich auf zwei deutlich zu unterscheidenden und dennoch ineinandergreifenden Ebenen: Die erste Ebene betrifft den biblischen Text als solchen, die zweite seine Auslegungen in der jüdischen Traditionsliteratur. Der Anspruch der modernen wissenschaftlichen Bibelforschung und Bibelkritik liegt in der Erfassung und Deutung des ursprünglichen Sinnes eines Textes, seiner Entstehungssituation und -geschichte, der Erarbeitung seiner soziohistorischen Prägung und seiner spezifischen sprachlichen Gestaltung. In diesem Rahmen arbeitet die moderne Bibel-Exegese, ob jüdisch oder christlich, mit den Methoden der historisch-literarischen Kritik (Religions- und Textgeschichte; Archäologie; Literaturwissenschaft und Artefaktforschung), die sich seit dem 19. Jahrhundert in den akademischen Lehranstalten auf christlicher und jüdischer Seite weitgehend, wenngleich auch jeweils unterschiedlich akzentuiert, durchgesetzt hat.

1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Auslegungstradition

In der Folge der exegetischen Diskurse in der rabbinischen* Lehrliteratur des Midrasch* (vgl. Langer 2016) ist die Bibelkommentierung ein Signum der entstehenden süd- und westeuropäischen Kultur- und Wissenschaftstradition, und dies in erstaunlichem, |2|wenn auch leicht zeitversetzten Gleichklang zwischen dem Bibelstudium im christlich-lateinischen wie im jüdisch-aschkenasischen* und sefardischen* Westen Europas. Verschiedene Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Text der Bibel gilt es dabei zu erschließen und im Prozess der Entstehung eines ‎Kommentars zu verorten: Die Textstandardisierung stellt eine Ebene dar und die grammatisch-linguistische Beschäftigung mit der hebräischen Sprache (vor allem: der biblischen Sprache) eine weitere. Letztere ist vergleichbar mit der Rolle der wesentlich insular geprägten Grammatik für die Formierung der lateinischen Geisteswelt, darf aber gleichzeitig noch nicht mit einer textchronologisch fortlaufenden Kommentierung des biblischen Textes verwechselt werden. Daher bildet erst der ausgebildete diskursive Kommentar seit dem Hochmittelalter in diesem Buch den Schwerpunkt. Er spiegelt die vielgestaltigen Prozesse der Auseinandersetzung mit dem heiligen Text nach innen wie nach außen über viele Jahrhunderte hinweg wider. Die Schwerpunkte für die Bearbeitung der Quellen zur jüdischen Bibelauslegung liegen für den Zeitraum vom 10. bis zum 14. Jahrhundert vor allem in Spanien, der Provence und Nordfrankreich, für die Renaissancezeit in Italien sowie für das 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Osteuropa und in Deutschland. In der Mitte des 20. Jahrhunderts finden wir die akademische jüdische Bibelauslegung vor allem in Israel und den USA, und erst in den letzten Jahren kehrt die jüdische Bibelauslegung an einige neu gegründete jüdische Institutionen nach Deutschland zurück.

Die Juden in allen geographischen Räumen schrieben ihre Bibelkommentare nicht im luftleeren Raum des theologischen Disputs, sondern nahmen in unterschiedlichem Maße Bezug auf die sie umgebenden Kulturen und Literaturen und vor allem: Sie legten die Bibel für sich als eine sich in je unterschiedlichen Kontexten befindliche Gruppe aus. Die Beschäftigung mit jüdischen Kommentaren zur Bibel bedeutet daher gleichzeitig, die intellektuelle Kreativität in unterschiedlichen Epochen und sozialen Räumen darzustellen. Jüdische Denker und Exegeten sollen also weniger als ausschließlich Reagierende auf die durch die nicht-jüdische Gesellschaft gestaltete Geschichte (Kreuzzüge; Almohadenverfolgungen; russische Pogrome; Nazideutschland) wahrgenommen werden, sondern als Autoren, die den Aufbau eigener kultureller und literarischer Räume – allen Widerständen zum Trotz – aktiv mitgestaltet haben.

Jüdische Bibelauslegung im MittelalterDas jüdische Mittelalter wird beherrscht von Persönlichkeiten wie den frühen Masoreten, den Geonim Babyloniens wie R. Sa‘adja Gaon und Schemu’el ben Chofni, für Nordfrankreich R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi), R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam), für Spanien und die Provence R. Avraham ibn Ezra, den Mitgliedern der Familie |3|Qimchi und R. Mosche ben Nachman (Ramban; Nachmanides). Alle diese Exegeten betrieben das Studium und die Auslegung der Bibel nicht nur als eine eigene Disziplin, die eine entsprechende Literaturgattung nach sich zog; vielmehr widmeten sie sich der Bibel auch vor einem bei den einzelnen je unterschiedlichen, aber stets explizit formulierten hermeneutischen Hintergrund und mit einem je verschieden zu bestimmenden exegetischen Anspruch (z.B. die Herausforderung durch die Karäer*, die sog. Peschat-Exegese*; die Auseinandersetzung mit der lateinischen Bibelauslegung usw.).

Die Juden in der RenaissanceDie Zeit der jüdischen Renaissance in Italien zeichnet sich dadurch aus, dass der jüdische Bibelausleger in seinem zivilen Beruf (beispielsweise als Arzt oder Financier) in die nicht-jüdische Öffentlichkeit tritt und diese Öffentlichkeit wiederum Eingang in seine Bibelkommentare findet. In der Konsequenz entstehen, ausgehend vom biblischen Text, archäologische (Azarja dei Rossi), poetologische (Messer Leon), staatspolitische (Abravanel) oder militärhistorische (Portaleone) Abhandlungen, die oftmals gar nicht mehr einem Bibelkommentar sensu stricto entsprechen. Diese Werke sind aber dennoch in Auswahl vorzustellen, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welchen Veränderungen die Bibel und der Umgang mit ihr in diesen Zeiten ausgesetzt war.

Jüdische Bibelauslegung in Neuzeit und ModerneIm 15. und 16. Jahrhundert finden wir eine Reihe von Hebraisten und Textforschern, die sich vor allem der Masoraforschung und der Erstellung des biblischen Textes widmen. Bei dem italienischen Gelehrten Jedidja Salomon Raphael Nortzi (1560–1626; Hauptwerk Minchat Schai; gedruckt in Mantua erst 1742) wird vor allem die orientalische Masora, die auf dem Weg über Spanien nach Italien gelangte und durch den gedruckten textus receptus* vermittelt wurde, zum Instrument für kritische Textforschung: Unter dem Einfluss des wahrscheinlich ebenfalls aus Italien stammenden Gelehrten Menachem b. Jehuda de Lonzano (1555–1624; Penkower 2014), bestand Nortzis Interesse darin, die Bibel textkritisch aufzuarbeiten. Hier hat sicher auch die Auseinandersetzung mit der christlichen Hebraistik Pate gestanden.

Im 18. Jahrhundert hatten sich die wenigen jüdischen Gelehrten, die sich mit der Bibel und nicht in erster Linie mit dem Talmud* beschäftigten, vor allem mit der beginnenden protestantischen Bibelwissenschaft auseinanderzusetzen, die sich vornehmlich der sog. ,höheren Kritik‘ verschrieben hatte (vgl. Liss 2004). Die Textkritik, die ,niedere Kritik‘, diente ausschließlich der Erarbeitung des ,besten‘ Textes, d.h. der Annäherung an einen ,Urtext‘. Demgegenüber und in deutlicher Konkurrenz zur christlichen Exegese suchte Naphtali Herz Wessely (1725–1805) wiederum unter Einbeziehung der Masora, d.h. vor allem der Vokalisierung, der Akzentsetzung und |4|weiterer Metatexte, den Bibeltext philologisch gründlich zu kommentieren. Hebräische Philologie und Auslegungstradition werden hier zusammengebunden und die Masora um ihrer exegetischen Qualität willen konsultiert.

Das 19. Jahrhundert markiert dann in Teilen endgültig die Umbruchzeit von der traditionellen jüdischen Bibelauslegung zur historisch-literaturkritischen Erforschung der Bibel bzw. die damit einhergehende Auseinandersetzung um diese sehr unterschiedlichen Auslegungsparameter. Die diese Zeit prägenden Auseinandersetzungen um das Verständnis der Hebräischen Bibel können hermeneutisch nicht hoch genug veranschlagt werden und prägen die jüdische Bibelauslegung bis heute.

2. Jüdische Bibelauslegung als Teil einer jüdischen Theologie

Bibelkommentare sind ein Produkt der Herausforderung von innen und außen: Sie sind das Ergebnis der Reflexion über eigene Überzeugungstraditionen, und sie dienen der Schärfung der religiösen und sozio-kulturellen Position. Bibelauslegung gehört daher immer in den Bereich der Theologiebildung mit hinein, auch wenn sich gerade die jüdische Bibelauslegung, wie an einer Reihe mittelalterlicher Exegeten zu zeigen sein wird, nicht auf den religiös-theologischen Raum beschränken lässt. Die Auseinandersetzung mit der Bibelkommentarliteratur ist vor allem im Zuge der sich neu formierenden theologischen Fakultäten auf jüdischer wie auch auf islamischer Seite unabdingbar, denn auch für die wissenschaftliche jüdische Theologie sind Arbeitsmaterialien und Grundlagenwerke bereitzustellen. Diese ermöglichen nicht einfach eine religionswissenschaftlich-literaturgeschichtliche und damit eine von außen herangehende Zugangsweise, sondern stellen gleichzeitig Parameter und Denkmuster zur Verfügung, die auch den heutigen Studierenden zu einer theologischen, d.h. einer qualifizierten Urteilsbildung aus der Binnenperspektive verhelfen können.

Philologie und TheologieDie Auslegung der Hebräischen Bibel wird so auch zur theoretischen Reflexion über die Lehre und die Praxis einer bestimmten religiösen Kultur. Schon bei Philo von Alexandrien findet sich der Begriff theologéō (theólogos) ‚von Gott/den göttlichen Dingen reden und/oder diese erklären‘ (Schmid 2013, bes. 13–16). Für den christlichen Bereich finden wir seit der Alten Kirche den Begriff der theología (griech., Lehre von Gott), der (neben den klassischen Bezeichnungen der sacra doctrina oder doctrina fidei) seit dem 11. Jahrhundert das ganze Gebiet der christlichen Glaubenswissenschaften |5|umfasst. Für das rabbinische* Judentum hat es eine vergleichbare und auf den Theologiebegriff selbst bezogene Debatte nicht gegeben, das heißt aber nicht, dass ihm eine intensive theoretische Durchdringung der eigenen Text- und Lebenstradition nicht zu eigen war. Auch wäre die Annahme falsch, dass Gelehrte des Judentums nicht, wie insbesondere die muslimischen Religionsphilosophen seit dem 10. Jahrhundert, ausgeprägte metaphysische Denkgebäude und eine eigene grammatisch-linguistische Forschungstätigkeit entwickelt hätten. Vielmehr hat sich insgesamt seit dem Mittelalter das ausgebildet, was man als theoretische Reflexion über die Lehre und die Praxis definieren kann. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies an den spanischen Hebraisten des 10. und 11. Jahrhunderts und den hier geführten lexikographischen Debatten: Bibelauslegung bedeutete für sie in erster Linie Untersuchungen am biblischen Wortschatz und der Grammatik und eher untergeordnet die Klärung einzelner inhaltlicher Motive oder Bedeutungsfelder. So gesehen waren die spanischen Hebraisten die ersten, die sich in ihrer Beschäftigung mit der Bibel einem kritischen Forum stellten und diese den Kategorien von richtig und falsch unterordnen wollten.

Stabilisierung des jüdischen GlaubenshorizontesWas wir hier im Kontext einer intensiven exegetischen Beschäftigung mit der Bibel vorfinden, ist nichts anderes als ein Diskurs der Reflexivität und damit ein genuiner Teil eines Prozesses, der innerhalb der hebräisch-jüdischen Tradition durch Verifizierungs- und Falsifizierungsprozesse Wissen generiert und ausdifferenziert. Dabei ist das Ziel, ausgehend von der hebräischen Texttradition, den jüdischen Glaubenshorizont in Auseinandersetzung mit dem arabisch-muslimischen und christlichen intellektuellen Kontext diskursiv zu stabilisieren. Und dieser Kontext implizierte nicht einfach ein freies Spiel intellektueller Kräfte als ‚Wissenschaft um ihrer selbst willen‘ (analog zur tora lischma*), sondern eine nach außen gerichtete Polemik bei gleichzeitig nach innen gerichteter mentaler und intellektueller Aufbauarbeit zum Nutzen der jüdischen Gemeinschaft. Bereits an dieser Stelle wird also deutlich, dass die heute so gerne aufgebotene Unterscheidung zwischen Theologie und Philologie künstlich und der jüdischen Geistesgeschichte nicht angemessen ist. Denn ungeachtet aller philologischen oder philosophischen Waffen kämpften die jüdischen Gelehrten des Mittelalters und der Neuzeit vor allem gegen die Dummheit in den eigenen Reihen, gegen dogmatische Dunkelmänner ebenso wie gegen philologisch nicht versierte „Hohlköpfe“ (reqe moach; ibn Ezra zu Ex 31,18; 34,8 [langer Kommentar]).

 

Kritischer Umgang mit dem eigenen ErbeIn diesem Sinne wird die jüdische Bibelauslegung zum bewussten, begründeten und nach außen wissenschaftlich verantworteten Nachdenken über das (eigene) religiöse Erbe, seine heiligen |6|Schriften und deren Rezeptionsgeschichte. Daher geht es in dem hier vorliegenden Lehrbuch auch darum, nachzuzeichnen, wo die philologische (ab dem 18. und 19. Jahrhundert auch die philologisch-historische) Forschung zu Reibungsverlusten geführt hat, die die Selbstgewissheit einer Tradition oder einer Kultur in Frage stellen konnten. Die Bibelkommentatoren werden also auch darauf hin befragt werden, wo ihre ‎Bereitschaft zur Selbstdistanzierung von liebgewordenen Überzeugungen möglich war (und wo nicht!). Die Auslegungen werden zeigen, welche intellektuellen Möglichkeiten zur Auslotung neuer Interpretationsspielräume zur Verfügung standen.

[Zum Inhalt]

|7|1. Kapitel: Der Bibeltext und seine Überlieferung bis zum Hochmittelalter

Bloch, Réne, Moses und der Mythos: Die Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie bei jüdisch-hellenistischen Autoren (Supplements to the Journal for the Study of Judaism, Bd. 145). Leiden 2011.

Dotan, Aron, Masora. In: Fred Skolnik/Michael Berenbaum (Hgg.), Encyclopaedia Judaica, Second Edition, Bd. 13. Detroit u.a. 2007, S. 603–656‎.

Fischer, Alexander A./Würthwein, Ernst, Der Text des Alten Testaments: Neubearbeitung der Einführung in die Biblia Hebraica von Ernst Würthwein. Stuttgart 2009.

Goldberg, Arnold, „Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger.“ Frankfurter Judaistische Beiträge 15 (1987), S. 1–15.

Khan, Geoffrey, Exegesis and Grammar in Medieval Karaite Texts (Journal of Semitic Studies Supplement, Bd. 13). Oxford 2001.

Langer, Gerhard, Midrasch (Jüdische Studien, Bd. 1). Tübingen 2016.

Liss, Hanna/Petzold, Kay Joe, Die Erforschung der westeuropäischen Bibeltexttradition als Aufgabe der Jüdischen Studien. In: Andreas Lehnardt (Hg.), Judaistik im Wandel. Ein halbes Jahrhundert Forschung und Lehre über das Judentum in Deutschland. Berlin/Boston 2017, S. 189–210.

Maier, Johann, Geschichte der jüdischen Religion: Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung. Mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert (Spektrum, Bd. 4116). Freiburg u.a. 1992 (2., vollst. neubearb. Aufl.).

Maman, Aharon, The Linguistic School: Judah Ḥayyūj, Jonah ibn Janāḥ, Moses ibn Chiquitilla and Judah ibn Balʿam. In: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000, S. 261–281.

Polliack, Meira (Hg.), Karaite Judaism: A Guide to Its History and Literary Sources (Handbuch der Orientalistik, Bd. 1,73). Leiden/Boston 2003.

Sæbø, Magne (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,1: Antiquity. Göttingen 1996.

Stemberger, Günter, Einleitung in Talmud und Midrasch (C.H. Beck Studium). München 2011 (9., vollst. neubearb. Aufl.).

Stökl Ben Ezra, Daniel, Qumran: Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum (Jüdische Studien, Bd. 3). Tübingen 2016.

Tov, Emanuel, Textual Criticism of the Hebrew Bible. Minneapolis 2012 (3., überarb. u. erw. Aufl.).

Vollandt, Ronny, Arabic Versions of the Pentateuch: A Comparative Study of Jewish, Christian, and Muslim Sources (Biblia Arabica, Bd. 2). Leiden/Boston 2015.