Jüdische Bibelauslegung

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

|104|4.2. Persönlichkeiten
a. R. Avraham ben Meïr ibn Ezra (1089–ca. 1165)

BiographieR. Avraham ben Meïr ibn Ezra ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten des jüdischen Mittelalters. Nirgendwo zuhause, mit etlichen dunklen Flecken bzw. ‚biographischen Leerstellen‘ gibt er uns heute mehr Rätsel auf als jeder andere der mittelalterlichen Bibelkommentatoren. Aber R. Avraham ibn Ezra war weit mehr als ein Bibelkommentator: Er war auch Poet, Grammatiker (für das Hebräische wie für das Arabische), Philosoph, Astronom und Arzt.

Ibn Ezra in SpanienGeboren wahrscheinlich in Tudela, Spanien (Provinz Navarra), zerfällt sein Leben in zwei sehr klar voneinander zu trennende Abschnitte, deren Zeitspanne schon als solche signifikant ins Auge fällt. Von der Zeit zwischen 1089 und 1139/40, also von den ersten 51(!) Jahren seines Lebens, wissen wir eigentlich gar nichts. Leider ist auch von ibn Ezras Familie fast nichts überliefert. In einem seiner Gedichte wird auf fünf Söhne angespielt, nur einer, Jitzchaq, ist namentlich bekannt und konvertierte wahrscheinlich zum Islam. Die ersten literarischen Zeugnisse von R. Avraham ibn Ezra stammen noch aus seiner Zeit in Spanien, es sind ausschließlich Gedichte und Lieder, die allerdings noch nichts von dem späteren Grammatiker, Bibelkommentator, Philosophen und Astronomen erkennen lassen.

Naturwissenschaftliche SchriftenVon ibn Ezra haben sich mehr als dreißig Traktate zu unterschiedlichen Themenfeldern erhalten. Seine naturwissenschaftlichen Schriften umfassen mathematische, astronomische und astrologische Arbeiten sowie Schriften, die sich mit dem jüdischen Kalender beschäftigen (ein guter Überblick über diese Werke ibn Ezras findet sich bei Sela/Freudenthal 2006; Sela 2003, 17–92). Sie sind auch handschriftlich weitaus besser bezeugt als seine Bibelkommentare, und weil sie vom 13. Jahrhundert an ins Lateinische und andere europäische Sprachen (v.a. ins Französische) übersetzt wurden, wurden sie auch christlichen Gelehrtenkreisen zugänglich, über die sie sich schnell verbreiteten.

Autobiographische DichtkunstAn seinem Leben lässt uns ibn Ezra vor allem durch seine Gedichte teilhaben. Er verfasste sowohl liturgische Gedichte (pijjutim*) als auch profane Gedichte bis hin zu Spottliedern. Seine religiöse Poesie ist getragen von dem Bewusstsein, Gotteserkenntnis zu erlangen, um zu einer intellektuellen Vereinigung mit der Gottheit zu kommen. Ibn Ezras pijjutim (unter ihnen auch einige qerovot* und avodot*) sind heute noch Teil der jüdischen synagogalen und häuslichen Feiertagsliturgie. Bekannt ist vor allem seine Schabbat-Hymne (Tzur Mischelo). Seine Gedichte sind die einzige literarische Hinterlassenschaft aus seiner spanischen Zeit.

|105|Ibn Ezras WanderjahreDer zweite Lebensabschnitt Avraham ibn Ezras beginnt mit seinen sog. ‚Wanderjahren‘ ab 1139/40. Seine Reisen, die ihn bis nach Kairouan in Tunesien führten, hat Irene Lancaster auf einer Karte eindrucksvoll zusammengestellt (Lancaster 2003, XV; 1–21; Charlap 1999, 1–6). Er gelangt zunächst nach Rom. Ob er aus Spanien fliehen musste, ist unklar. In seinem poetischen Prolog zum Qohelet-Kommentar schreibt er, dass er mit „zitternder Seele“ in Rom ankam, und in seinem Vorwort zum Kommentar zu den Klageliedern (Ekha) erzählt er: „Es vertrieb mich aus Spanien der Grimm der Bedränger“. Manche beziehen diese Aussage auf die Verfolgung der Juden durch die Almohaden. Ebenso wie die näheren Umstände seiner Flucht liegen auch seine Reiseroute und die Art, wie er reiste und wie er sich auf seinen Reisen finanzierte, mehr oder weniger im Dunkeln.

Ibn Ezra in RomWovon ibn Ezra in Rom gelebt hat, kann nur vermutet werden. Auch hier sind wir wieder fast ausschließlich auf seine Gedichte angewiesen, die leider oftmals mehr verdunkeln, als dass sie Sachverhalte klären könnten. Ein Benjamin ben Joav wird als sein Schüler vorgestellt (wohl nicht identisch mit Benjamin ben Jona aus Tudela). Allerdings lässt das Gedicht Nedod Hesir Oni erkennen, dass sein ganzer Aufenthalt in Rom nicht glücklich endete. Es heißt dort (u.a.)

Nedod Hesir OniIch bin gestraft vor den Augen allen Fleisches. Die Herrlichkeit meiner Pracht ist gewichen, und sie knirschen mit den Zähnen gegen mich (…). Wir (leben zusammen) mit denen, die arm an Wissen sind, bei denen sich Leichtsinn mit Torheit verbunden hat. Daher befinden wir uns unter den Exilierten quasi nochmals im Exil (…). In Edom gibt es keine Ehrung für jeglichen Weisen, der dort wohnt, wie es im Lande des Sohnes Kedars (= muslimische Länder) der Fall ist. Deshalb pfeifen sie uns fort (…) (ed. Rosin 1887, Reime, 1,2, 89).

Im Gegensatz zum muslimischen Spanien gilt er im christlichen Rom also nichts. Es ist naheliegend, dass die Juden Roms ihn vermutlich zunehmend abfällig betrachteten. Dass ibn Ezra wohl nicht über eine fundierte talmudische* Bildung verfügte, mag ein weiterer Grund gewesen sein, dass ihm die Juden in Rom mit Misstrauen begegneten.

Grammatisch-exegetische ArbeitenIn Rom begann ibn Ezras Tätigkeit als Grammatiker und Exeget. Ibn Ezra hat kein neues grammatisches System entworfen, und er wollte dies auch nicht. Dennoch wurde er für Generationen als einer der Väter der hebräischen Grammatik betrachtet, und dies vor allem aus zwei Gründen: Einerseits sammelte er das Material der frühen Philologen vom Osten und aus Spanien (vgl. oben Kap. 1.2.c.) und andererseits schrieb er, im Gegensatz zu diesen früheren Grammatikern, auf Hebräisch. Sein erstes eigenes grammati|106|sches Werk war Mozne Leschon ha-Qodesch (auch: Sefer Moznajjim ‚Buch der Waage‘; 1140–42; gedruckt erstmals Venedig 1546).

Kommentare zu den KetuvimBei den biblischen Büchern begann er mit den Schriften (Ketuvim; vgl. die umfangreiche Liste bei Sela/Freudenthal 2006, dort auch genaue Referenzen aller exegetischen Querverweise). Seine ersten Kommentare zu den Büchern Qohelet (1140), Ester (1140–42), Klagelieder (Ekha; 1142) und Hiob (1140–42) gelten als seine frühesten Bibelkommentare, da beide keinerlei Bezug auf seine anderen exegetischen Werke erkennen lassen. Möglicherweise wurden auch der kurze Daniel-Kommentar (1140–45), der erste Kommentar zum Hohenlied (1140–45) und sein fragmentarischer Psalmen-Kommentar (1140–45) noch in Rom (und nicht erst in Lucca) verfasst.

Ibn Ezras erster Tora-KommentarIbn Ezra verließ Rom 1145 in Richtung Pisa, von wo er bald nach Lucca (Toskana) weiterzog. Hier entstanden neben ersten Traktaten zur Astronomie ein erster Kommentar zum Dodekapropheton (Tere Asar; 1142–45) und ein kurzer Kommentar zum Pentateuch (nach seiner ausführlichen Einleitung bekannt als Sefer ha-Jaschar; 1142–45; ed. Weiser 1977). Die Einleitung zum ersten Tora-Kommentar ist programmatisch, insofern ibn Ezra hier vier verschiedene Wege der Bibelauslegung kritisiert, um dann seinen eigenen fünften Weg als den Königsweg vorzustellen.

Erste grammatische GrundlagenwerkeDaneben verfasste er einen Kommentar zu den Büchern Rut (1142–45) und Jesaja (1145) sowie einige grammatische Werke: Sefer ha-Jesod ‚Buch von den Grundlagen der [hebräischen] Sprache‘ (1142–45), Jesod Diqduq hu Sefat Jeter ‚Buch von den Grundlagen der Grammatik‘ (1142–1145) sowie eine Verteidigungsschrift der Arbeiten R. Sa‘adjas gegen die Vorwürfe des Dunasch ibn Labrat, von der ibn Ezra nach eigener Aussage in Ägypten Kenntnis erhalten hatte (Sefer Haganna al R. Sa‘adja Gaon; 1142–45). Hier zeigt sich bereits, welches große Gewicht ibn Ezra auf die grammatikalische Lern- und Lehrtradition Spaniens legte und wie sich dies ebenfalls auf sein Bibelverständnis auswirkte. Auch die nachfolgenden Jahre in Italien, ibn Ezra hielt sich in Mantua und Verona auf, waren vor allem der systematischen grammatischen Arbeit gewidmet: In Mantua verfasste er den Sefer Tzachut (‚Buch der Erlesenheit [der hebräischen Sprache]‘; 1145), in Verona den Sefer Safa Berura (‚Buch der klaren Sprache‘). Im Sefer Safa Berura findet sich auch bereits ein harscher Angriff gegen Raschi, dem ibn Ezra vorwirft, er habe nur vermeintlich die Bibel gemäß dem Peschat* erklärt; faktisch verdiene nur eine von 1000 Erklärungen Raschis dieses Prädikat (Sefer Safa Berura, ed. Wilensky 1923, 274).

Ibn Ezras Zeit in Frankreich1147 verließ ibn Ezra Italien und ging in die Provence, zuerst nach Béziers (1147/48) und Narbonne (1148–54), dann weiter |107|nach Nordfrankreich (Tzarfat*; 1154–56). Hier hielt er sich vor allem in Rouen und Dreux auf. Die Jahre in Frankreich waren für ihn eine Zeit großer Aktivität: In Béziers und Narbonne entstanden sein Sefer ha-Echad (‚Buch des Einen‘; vor 1148), (als Auftragswerk) der Sefer ha-Schem (‚Buch des [göttlichen] Namens‘; 1148) sowie mehr als zehn astronomische, natur- und kalenderwissenschaftliche Schriften (vgl. die umfangreiche Liste bei Sela/Freudenthal 2006). Erst in Rouen, wo er sich mit der nordfranzösischen Exegese auseinandersetzen musste, wandte er sich wieder der Bibelkommentierung zu. Er verfasste einen zweiten Kommentar zu Ester (1153–56), einen langen Kommentar zum Buch Daniel (1155) sowie den langen Tora-Kommentar, von dem jedoch nur noch die Einleitung, einige Passagen des Buches Genesis (1155/56) und der komplette Exodus-Kommentar (1155–57) erhalten sind. Daneben schrieb ibn Ezra einen zweiten Kommentar zu den Psalmen (1156), zum Hohenlied (Schir ha-Schirim; 1155–57) und zum Zwölfprophetenbuch (Tere Asar; 1156). Von seinen Tora-Kommentaren haben sich darüber hinaus zwei weitere Kommentarfragmente (zu den paraschijjot Wajjischlach und Wajechi) eines dritten Genesis-Kommentars erhalten (ed. Mondschein 1997), den ibn Ezra 1157/58 offenbar in London verfasst hat.

 

Der lange Exodus-KommentarDer erste, der ibn Ezras Urheberschaft des langen Exodus-Kommentares in der uns heute vorliegenden Form in Frage stellte, war R. Eli‘ezer Josef Tov Elem (Bonfils; ca. 1335–88) in seinem Superkommentar Tzafenat-Pa‘aneach, benannt nach dem neuen Namen des biblischen Josef (Gen 41,45). In der Einleitung seiner Erklärungen zu ibn Ezras erstem (kurzen) Exodus-Kommentar legte er an einer Reihe von dreizehn Einzelbeispielen dar, warum er glaube, dass nicht ibn Ezra selbst, sondern seine Schüler den langen Kommentar in der ihm (und uns) vorliegenden Form zusammengestellt hätten. Nicht nur die Länge an sich, sondern auch Doppelungen, Schülerbemerkungen (z.B. im Kommentar zu Ex 12,9) sowie philosophische Exkurse, die sich gerade nicht mit ibn Ezras Anspruch einer Pentateuchkommentierung vertrügen (vgl. nachfolgend Kap. 4.3.a.), sprächen dafür, dass hier Spätere aus verschiedenen Büchern zusammengetragen hätten. In der Tat gehen die großen Exkurse zum Gottesnamen, die in die Auslegung von Ex 3,15 und 33,21 eingeschaltet sind, wohl auf ibn Ezra zurück, sie bilden jedoch signifikante Doppelungen zu einzelnen Teilen des Sefer ha-Mispar (Lucca; 1142–45) und des Sefer ha-Schem (Béziers; 1148). Seit Josef Bonfils ist die Diskussion um diesen Kommentar und sein Verhältnis zu den anderen Tora-Kommentaren ibn Ezras nicht abgerissen. Dirk Rottzoll hat in der Einleitung seiner Übersetzung des langen Exodus-Kommentars diese Diskussion in |108|ihrem pro und contra detailliert zusammengestellt (Rottzoll 2000, XIII–XLIX). Hier stehen weitere detaillierte Einzelanalysen und die Arbeit an den Handschriften noch aus.

Begegnung mit den TosafistenIn Frankreich lernte ibn Ezra wohl auch Ja‘aqov ben Meïr ‚Rabbenu Tam‘ (1100–71) kennen, einen der vier Enkel Raschis, einen Bruder von Raschbam. Jedenfalls zitieren die tosafot (bRhSh 13a; bQid 37b) eine Anfrage ibn Ezras an Rabbenu Tam, der umgekehrt ein Bewunderer der Gedichte ibn Ezras war. Ibn Ezra kann in Rouen nicht an Raschbam und seinem Kreis vorbeigegangen sein, aber wie ihr Verhältnis zueinander war, bleibt weitgehend im Dunkeln. Als gesichert kann aber wohl gelten, dass ibn Ezra kaum wirklich einen ‚Fuß in die Tür‘ der Gruppe der nordfranzösischen Gelehrten bekam. Raschbam hat jedenfalls ibn Ezras Anwesenheit mit Stillschweigen quittiert: Er erwähnt ihn niemals namentlich in seinem Kommentar, wie auch umgekehrt R. Avraham ibn Ezra allenfalls indirekt gegen Raschbam oder in seinem Namen tradierte Auslegungen polemisiert. Es besteht nicht einmal ein wissenschaftlicher Konsens darüber, ob sie ihre Kommentare gegenseitig überhaupt gekannt haben (vgl. die Diskussion bei Jacobs 2010; Rottzoll 1998).

Ibn Ezra in EnglandFür seine unsteten Verhältnisse war ibn Ezra relativ lange in Frankreich. Er verließ das Land jedenfalls erst 1158 in Richtung London, wo er das Buch Jesod Mora (‚Fundament der Gottesfurcht‘) und vor allem die sog. Iggeret Schabbat (‚Brief des Schabbat‘; London 1158) verfasste. Ibn Ezras Verhältnis zu Raschbam ist gerade auch im Zusammenhang mit der Iggeret Schabbat diskutiert worden (zuletzt ausführlich Rottzoll 1998). Neben seinem schon erwähnten Sefer Jesod Mora ist die Iggeret Schabbat wohl seine letzte größere Schrift. Ibn Ezra starb zwischen 1165 und 1167 an einem unbekannten Ort. Als Sterbeorte werden Italien, England ebenso wie Südfrankreich oder Navarra angeboten (Charlap 1999, 6). Sein Leben endet also ebenso im biographischen Dunkel, wie es angefangen hat.

Ibn Ezras exegetische VorbilderAvraham ibn Ezra greift immer wieder auf rabbinische Gelehrte der sefardischen* Länder zurück; für ihn verkörperten diese eine nahezu ideale Synthese von judäo-arabischer philologischer und grammatischer Tradition einerseits und klassischer rabbinischer Gelehrsamkeit andererseits. Er erwähnt sie manchmal einfach als ‚Weise Spaniens‘ (chakhme sefarad; chakham echad bi-sfarad; chakham gadol sefaradi). Zu diesen Weisen gehören auch die chakhme ha-diqduq, die ‚Grammatiker‘. Namentlich genannt sind u.a. Jehuda ibn Qoresch (2. Hälfte 9. Jahrhundert; Tunesien), Menachem ibn Saruq; Dunasch ibn Labrat, R. Jehuda Chajjūğ und R. Jona ibn Ğanaḥ. Dieser wird im langen Exodus-Kommentar, im Kommentar zum Zwölf|109|prophetenbuch, im Psalmen-Kommentar und in den grammatischen Schriften als R. Marinus erwähnt (langer Exodus-Kommentar 1,10; 5,21; 6,3; 9,17; Hos 2,14.18; 11,4 u.ö.; Diskussion bei Rottzoll 2000, CXXVII–CXXX). Unter den Weisen Frankreichs (chakhme tzarfat) erwähnt er neben Raschi den Verfasser des Arukh, R. Natan ben Jechi’el Ba‘al ha-Arukh (1035–ca. 1110).

Ibn Ezras Verhältnis zu den KaräernIbn Ezras Verhältnis zu den Karäern* ist schillernd, denn er kennt ihre Literatur sehr gut und beruft sich vor allem bei sprachwissenschaftlich-grammatischen Erklärungen immer wieder explizit auf sie. Allein im langen Kommentar zu Exodus werden sieben karäische Gelehrte namentlich erwähnt; mit insgesamt 29 Erwähnungen (zustimmend wie kritisch) ist sicher Jefet ben Eli ha-Levi (Anfang 11. Jahrhundert) der am häufigsten zitierte. Inhaltlich setzt sich ibn Ezra aber immer wieder scharf und polemisch von den Karäern ab; sie gelten ihm als Leugner (makhchischim), Abtrünnige (minim) oder einfach „Hohlköpfe“ (reqe moach; ibn Ezra zu Ex 31,18; 34,8 [langer Kommentar]). Umgekehrt berufen sich auch spätere karäische Gelehrte wie R. Jitzchaq ben Abraham Troki (1533–1594) immer wieder auf ihn (Akhiezer 2006).

Die sog. Iggeret SchabbatDie Iggeret Schabbat ist ein fiktionaler Brief des Schabbat, den ibn Ezra in England verfasst hat und der eine Traumbotschaft beinhaltet. Umstritten ist hier vor allem, ob die Klage des (Gesandten des) Schabbat, die ihm ibn Ezra in den Mund gelegt hat, ursprünglich gegen Raschbam oder gegen karäische Gelehrte gerichtet war. Zu Beginn dieser Schrift heißt es (Übersetzung nach Rottzoll 1998, 99–100):

Es geschah im Jahr 4919 (1158/59), in der Mitte der Nacht des Schabbat (…), dass ich, Avraham, der Sohn des Ezra genannt, in einer Stadt von den Städten der Insel war (…). Da sah ich im Traum, und siehe, es stand mir (jemand) gegenüber, der wie ein Mann aussah (Dan 8,15) und in seiner Hand einen unterschriebenen Brief (hielt). Er (…) sprach zu mir: ‚Nimm diesen Brief, den dir der Schabbat schickt‘ (…). Dies aber (war der Inhalt des Briefes): ‚Ich bin der Schabbat, die Krone der Religion der Redlichen (…). Ich bewahrte dich an allen Tagen (deines Lebens), damit du mich bewahrst (…). In deinem Alter findet sich aber ein Makel an dir, denn in dein Haus wurden Bücher gebracht, in denen (etwas) zur Entweihung des siebten Tags geschrieben steht. Wie (kannst) du (da) schweigen (…)?‘ Da (…) sprach zu mir der Gesandte des Schabbats: ‚Erzähle ihm doch das, was deine Schüler gestern für Tora-Kommentar-Bücher zu deinem Haus brachten, denn dort steht (etwas) zur Entweihung der Schabbat-Nacht geschrieben (…).‘ Da erwachte ich (…) und meine Seele erschrak sehr (Ps 6,4). Ich stand auf, weil meine Hitze in mir brannte, zog mein Gewand an, wusch meine Hände und brachte die Bücher nach draußen ins Mondlicht. Und siehe, dort stand in der Erklärung der Worte Da wurde es Abend und es wurde Morgen (Gen 1,5) geschrieben, dass, als es Morgen des zweiten Tags wurde, der erste Tag vollständig gewesen sei, da die Nacht nach dem |110|Tag komme. Sofort zerriss ich mein Gewand, und auch diese Bücher zerriss ich, denn ich sagte mir: Besser ist es, einen Schabbat zu entweihen, als dass die Israeliten viele Schabbate entweihen, wenn sie diese böse Erklärung sehen. Auch werden wir alle zum Hohn und Spott in den Augen der Unbeschnittenen werden (…).

In der älteren Forschung wurden diese Passagen als gegen Raschbams Auslegung zu Gen 1,5–8 polemisierend verstanden. Dieser hatte an besagter Stelle eine gegen die halachische Regelung laufende Erklärung als Peschat ausgegeben. Allerdings hatte er dabei nicht behauptet, der Schabbat beginne am Morgen.

Ibn Ezra zu Ex 16,25Überdies findet sich eine weitere Auseinandersetzung zu diesem Thema in ibn Ezras langem Exodus-Kommentar, wo in der Tat der Beginn eines Tages mit der halachischen Schabbat-Observanz zusammen gebracht wird.

Viele Glaubensschwache (chasre emuna) wurden durch diesen Vers durcheinander gebracht und sagten, dass man verpflichtet sei, den Schabbat-Tag und die darauf folgende Nacht zu hüten, denn Mose sagte (doch): Denn heute ist Schabbat (ki schabbat hajjom) für den Ewigen (Ex 16,25), nicht aber die Nacht, die schon vorbeigegangen ist. (…) Und sie erklärten (den Satz) Da wurde es Abend und es wurde Morgen (Gen 1,5) nach ihrem Gutdünken dergestalt, dass der erste Tag erst am Morgen des zweiten Tages vollendet gewesen sei. Sie sagten aber (hier) nichts Richtiges, denn Mose sprach zu den Israeliten nur entsprechend ihrem üblichen Brauch (minhagam).

Der Standpunkt, den ibn Ezra hier referiert, wurde noch im 11. Jahrhundert einem Vertreter der sog. Meschawiten (Rottzoll 1998, 104; Poznański 1897, 180), einer den Karäern nahestehenden Gruppe, zugeschrieben. Es ist daher wahrscheinlicher, dass sich die in der Iggeret Schabbat genannten ‚Bücher‘ (wahrscheinlich Tora-Kommentare oder zumindest Exzerpte davon) auf Schriften aus diesen Kreisen beziehen, wenngleich auch manches nebulös bleibt. Einmal mehr stellen wir fest, dass ibn Ezras Verhältnis zu den Karäern ebenso undurchsichtig ist wie seine Biographie.

b. R. Josef Qimchi (Riqam; ca. 1105–ca. 1170)

BiographieR. Josef Qimchi (Riqam) war Grammatiker, Exeget und Übersetzer. Er emigrierte aus Andalusien nach Narbonne in der historischen Provinz Languedoc. Zu seinen Schülern zählte u.a. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (12. Jahrhundert), der in der Nachfolge Riqams ausschließlich linguistische Kommentare zu den Büchern Ezechiel und Jeremia verfasste (Kasher 2000).

Riqam war es vor allem ein Anliegen, den noch sehr den Derasch-Auslegungen* verhafteten Zeitgenossen die Werke von R. Jehuda Chajjūğ und R. Jona ibn Ğanaḥ (vgl. oben Kap. 1.2.c.) bekannt |111|zu machen. In seiner Grammatik Sefer ha-Zikkaron (‚Buch des Gedächtnisses‘) behandelte er z.B. die Vokale (fünf Lang-, bzw. fünf Kurzvokale), die Stämme pi‘el und hof‘al als distinkte Stämme und erstellte eine umfangreiche Liste von hebräischen Nominalformen. Daneben verfasste er eine Schrift mit dem Titel Sefer ha-Galui (‚Buch der Enthüllung‘), eine Streitschrift gegen Rabbenu Tams Hakhra‘ot auf die Machberet Menachem sowie eine eigene Kritik an der Machberet Menachem (dazu auch Talmage 1972, Introduction).

Riqams BibelkommentareNeben Fragmenten zu einem Pentateuch-Kommentar haben sich von Riqam ein Kommentar zum Buch Mischle (Proverbia; Sefer Chuqqa ‚Buch der Satzung‘), ein Hiob-Kommentar sowie ein Kommentar zum Hohenlied erhalten (nicht alle sind bislang kritisch ediert). Er muss auch einen Kommentar zu den Propheten verfasst haben, denn seine Söhne berufen sich immer wieder auf ihn. Als Bibelausleger betonte Riqam den Peschat* gegen die in der Provence vorherrschende Midrasch-Auslegung* wie Bereschit Rabbati oder Leqach Tov (vgl. oben Kap. 4.1.b.).

Riqams Auslegungen werden mehr als 500 mal und unterschiedlich umfangreich in den Kommentaren seines Sohnes R. David Qimchi (Radaq) zitiert, meistens mit den einleitenden Worten (Perusch) adoni avi (zikhrono livrakha) [‚Auslegung meines Herrn Vater, seligen Angedenkens‘]. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Radaq auch an Stellen, an denen er seinen Vater nicht erwähnt, viel von dessen Auslegung gelernt und verarbeitet hat. Daneben finden sich philologische Referenzen auf ihn vor allem in den Kommentaren von R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières und Ja‘aqov ben Ascher.

Riqam als PolemikerNeben einigen liturgischen Werken verfasste Riqam auch den sog. Sefer ha-Berit (‚Das Buch des Bundes‘), der neben Ja‘aqov ben Re’uvens Milchamot ha-Schem als einer der ersten polemischen Traktate gilt, die auf eine sich zunehmend verschärfende christlich-jüdische Auseinandersetzung hinweisen. Im Sefer ha-Berit diskutieren ‚einer, der glaubt‘ (ma’amin) und ein Häretiker (min) vor allem über die theologischen Dauerbrenner dieser Kontroverse, d.h. über die Menschwerdung von Jesus, die sog. ‚Erbsünde‘ und die Zwei-Naturen-Lehre (vgl. Talmage 1972, 1–26). Auch an Riqam lässt sich daher zeigen, dass die Gelehrten aus Spanien und Südfrankreich allein durch die Anwendung verschiedener Genres den zeitgenössischen nordfranzösischen Juden weit voraus waren. Der Sefer ha-Berit ist unter anderem auch deswegen so entscheidend, weil Riqams Sohn Radaq zu großen Teilen später aus diesem Buch geschöpft und viele der dort gebotenen Argumente in seinen eigenen Kommentaren verwendet hat.